Ich seh den Wald vor Bäumen nicht. Wolf Stein

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Ich seh den Wald vor Bäumen nicht - Wolf Stein


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ich der Einzige bis jetzt?«

      »Nein. Ein paar Leute sind schon da. Und der Rest müsste morgen oder übermorgen eintrudeln.«

      Linda brachte mich zu einer Wohnanlage aus doppelstöckigen Holzbungalows. Auf dem Weg erklärte sie mir die geltenden Spielregeln und die zu beachtende Hausordnung.

      »Hier ist dein Schlüssel. Du hast Zimmer Nummer 3. Ich wünsche dir viel Spaß. Falls Fragen sind, einfach zu mir kommen. Jetzt muss ich weitermachen. Wie gesagt, es gibt viel zu tun.«

      Zimmer Nummer 3 bestand aus einer kleinen Küche, drei Betten und einem Badezimmer - einfach, aber durchaus gemütlich. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, während der Pflanzsaison so komfortabel untergebracht zu sein. Stattdessen war ich davon ausgegangen, drei Monate bei Wind und Wetter in meinem Zelt verbringen zu müssen. Das hätte ich sicherlich problemlos überlebt, doch ein richtiges Bett ist ein richtiges Bett.

      Nach ausführlicher Inspektion meiner Unterkunft begab ich mich auf die Suche nach zukünftigen Weggefährten. Auf dem grünen Rasen hinter den Holzquartieren saß ein junger Mann mit blonder Mähne. Vertieft in ein Buch bemerkte er nicht, dass ich mich an ihn heranschlich.

      Mit den Worten: »Hallo! Bist du auch als Pflanzer hier?« gab ich mich zu erkennen.

      »Ich bin Ben. Hallo! Ja, ich bin auch ein Tree Planter. Allerdings ist dies meine erste Saison.«

      »Meine auch«, antwortete ich.

      Wir waren also beide Rookies, wie die Neulinge genannt werden - eine erste Gemeinsamkeit. Bens französischer Akzent verriet mir, dass es sich bei ihm um einen Mitstreiter aus dem östlichen Kanada handeln musste. Und so war es auch.

      »Ich stamme aus Quebec, wie die meisten der Pflanzer, die noch kommen. Normalerweise studiere ich Literatur.«

      »Literaturstudent und Bäume pflanzen, wie geht denn das zusammen?« dachte ich.

      Aber hatte ich richtig gehört, die meisten der Tree Planter kamen aus Quebec? Das hieße ja, alle würden hauptsächlich französisch sprechen. Darauf war ich nicht vorbereitet. Kein Wort würde ich bei Teambesprechungen verstehen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich davon ausgegangen, dass englisch gesprochen werden würde. Wenig später, als alle Kollegen eingetroffen waren, bestätigte sich mein Verdacht. Bis auf mich als Deutschen sowie drei Pflanzern aus British Columbia stammten alle aus Quebec und sprachen vornehmlich mit Quebecer Zunge. Mit uns wurde in gebrochenem, aber trotzdem gutem Englisch kommuniziert. Wenn sich die Quebecer jedoch in der Gruppe unterhielten, hatten die englischsprachigen Kanadier und ich als Ausländer keinen blassen Schimmer, worüber. Mit der Zeit lernten wir ein paar Wörter. Am Ende beherrschten wir sogar ganze Sätze. Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Zwei Teams lebten von nun an im Camp und fuhren täglich raus in die Wildnis, um Bäume zu pflanzen - 1,3 Millionen Bäume insgesamt, wie ich bald erfahren sollte. Unser Oberboss hieß Steve. Ihm gehörte die Wiederaufforstungsfirma Celtic Reforestation mit Hauptsitz in Prince George. Diese bekam ihre Aufträge von den hiesigen Forstwirtschaftsbetrieben oder direkt vom Staat. Steve unterstellt waren Audrey und Matt, unsere Vorarbeiter. Jede Crew bestand aus vierzehn Pflanzern. Einige kannten sich bereits aus ihrer Heimat oder aus den Vorjahren. Ich wurde Audreys Team zugeteilt. Es setzte sich zusammen aus den Quebecern Caissy, Vince, Sara, Carol, Jenn, Maude, Jerome, Dominic, Ben, Pierre und Joe, aus den Vancouveranern Emily und Chris und aus mir, Wolf, Wolf from Germany. Eine tolle Truppe, in der ich viele Freunde fürs Leben finden sollte.

      Gleich vier Frauen in meiner Crew - das hatte ich nicht erwartet.

      »Die müssen ganz schön zäh sein, um diesen Job durchzuhalten«, dachte ich.

      Auch in Matts Team gab es Pflanzerinnen. Wie zäh sie waren, zeigte sich bald.

      Die erste Gelegenheit, meine Mitstreiter näher kennenzulernen, ergab sich bei einem gemeinsamen Spaziergang zu den nahegelegenen Helmcken Wasserfällen. Es war der letzte Tag der Ruhe. Danach ging sie los, die Knochenarbeit:

      Das Tree Planting!

      Bärenalarm

      Bevor es zum ersten Mal in den Wald geht, findet eine ausführliche Sicherheitseinweisung statt. Alle Gefahren und Risiken beim Arbeiten in der Wildnis, alle zu beachtenden Richtlinien und Vorschriften, alle Vorgehensweisen, Hilfsmaßnahmen und Arbeitsabläufe werden besprochen, vorgeführt, erläutert und dargestellt. Der Arbeitsvertrag wird überreicht und unterschrieben sowie die eidesstattliche Erklärung, dass man sich diesen verrückten Baumpflanzjob freiwillig und ohne äußeren Zwang selbst ausgesucht hat. Nachdem das Wichtigste geklärt und alles ordnungsgemäß signiert wurde, folgt das Allerwichtigste: das Bärenvideo! Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine preisgekrönte Tierdokumentation, sondern um auf Zelluloid gebannte Verhaltenstipps für den Fall einer unerwarteten Bärenbegegnung. Zu solch einer Begegnung kommt es nur selten, doch wenn, dann muss jeder wissen, wie er sich seinem pelzigen Gegenüber zu präsentieren hat. Sollte er sich Meister Petz widerstandslos zum Fraß vorwerfen oder die Situation lieber in aller Ruhe ausdiskutieren und versuchen, einen für beide Seiten akzeptablen Nichtangriffspakt zu schließen? Für alle Leute, deren Gewissen sich ernsthaft mit dieser Frage plagt, ist das Bärenvideo. Der erfahrene Pflanzer weiß natürlich, wie er dem Bären auf dessen Territorium gegenüberzutreten hat. Oder doch nicht? Zugegebenermaßen gibt es kaum die Gelegenheit, das eigene Verhalten zu proben. Denn normalerweise gehen Bären dem Menschen aus dem Weg. Und falls man doch einen zu Gesicht bekommt, guckt er einen in der Regel nur kurz an und verduftet. Was aber, wenn dem Bären dein Äußeres nicht passt oder er denkt, du hättest irgendetwas von Interesse an beziehungsweise bei dir? Was, wenn er gerade stinksauer ist und sich ausgerechnet an dir abreagieren möchte? Und was, wenn er einfach nur auf ein Bier vorbeikommt? Es gibt schlichtweg viel zu viele offene Fragen und unvorhersehbare Situationen. Aber mal ganz im Ernst - geraten Mensch und Bär aneinander, geht die Sache in 99 Prozent der Fälle harmlos aus. Doch manchmal hat man eben Pech und die Situation eskaliert, egal ob dann das Tier die Schuld trägt oder der Mensch. Frei nach Klaus Lages `Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert, tausend und eine Nacht und es hat Zoom gemacht´ kann es eben auch mal `Zoom´ machen.

      In British Columbia gibt es sowohl Schwarz- als auch Grizzlybären. Das wusste ich bereits vor Betrachten des Bärenvideos. Nachdem dieses intensiv studiert worden war, stand eines fest: Es gibt mehrere Bärentypen. Je nach dem, welchem Typ man begegnet, ist man entweder in größeren Schwierigkeiten oder hatte einfach nur eine faszinierende Tierbegegnung. Einige Bären sind recht neugierig. Sie wollen deshalb nur mal nach dem Rechten schauen und gucken, was so abgeht. Andere, besonders junge Bären, tun nur so, als würden sie angreifen, um zu zeigen, was sie alles auf dem Kasten haben, drehen dann aber kurz vorm Zusammenprall ab. Manchen Bären jedoch sitzt irgendein Furz verquere. Die legen es oftmals wirklich darauf an. Und dann gibt es noch diejenigen, die überhaupt keinen Spaß verstehen: Bärenmütter mit ihren Jungen. Denen sollte man nicht in den Weg geraten. Sobald die Mutter denkt, man stelle auch nur die geringste Gefahr für ihren Nachwuchs dar, schaltet sie auf Angriff und Verteidigung - im Prinzip wie beim Menschen. Die harmlosesten Pelzträger sind selbstverständlich jene, die bereits von vornherein einen großen Bogen um uns zweibeinige Waldbesucher machen.

      Das wäre somit geklärt. Aber wie verhalten Mann und Frau sich nun, wenn es tatsächlich darauf ankommt?

      Zunächst grüßt man das Tier freundlich. Man stellt sich höflich und mit ruhiger Stimme vor. Wie sich das gehört, wenn man gut erzogen wurde. Das ist kein Witz! Damit zeigt man dem Bären, dass es sich bei dem, was ihm da so ängstlich gegenübersteht, um ein menschliches Wesen handelt. Dann hat der meist schon die Schnauze voll und geht weiter seines Weges. Sollte der Bär trotz höflicher Vorstellung beginnen, wild auf einen zuzurennen, gilt es, Ruhe zu bewahren, stehen zu bleiben, die Arme in die Luft zu strecken, sich größer erscheinen zu lassen, als man ist, und mit fester, lauter Stimme auf den Bären einzureden. Dieses Verhalten muss man jedoch erst mal an den Tag legen können, ohne sich in die Hose zu machen. Einfach ruhig stehen zu bleiben, wenn so ein Koloss heranstürmt, dazu gehören starke Nerven. Tritt dennoch der Fall ein, dass sich hinter dem vermeintlichen Scheinangriff eine echte Attacke verbirgt, um Himmels Willen


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