Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz

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Die Legenden des Karl Kirchhoff - Helmut H. Schulz


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Autorität, die von allen bekannten Menschen die imponierendste war. Karl lauschte weiter, lag mucksmäuschenstill, um sich nichts entgehen zu lassen von dem interessanten Gespräch.

      „Er wird ihn schon noch kennenlernen“, sagte der Vater.

      Die Mutter kicherte leise. „Was begreift denn ein Kind davon? Man kann ihm doch nicht erzählen, was damals passiert ist. Ach Männe, mit deinem Schillerkragen und dem Theaterverein, du warst für mich doch damals ein Wunder mit deinem Gerede vom Himmel, von den Sternen.“

      Ja, in den Sternen, da kannte sich der Vater aus, da wusste er Geschichten, dort war er zu Hause. Beinahe hätte sich Karl durch eine zustimmende Bemerkung verraten.

      „Ich war wirklich blöd wie eine Gans. Habe ich dir eigentlich erzählt, dass mir erst der Doktor gesagt hat, was mit mir los ist? Da war ich im vierten Monat mit Renate.“

      Was war das? Im vierten Monat mit Renate? Daraus wurde Karl nicht klug.

      Der Vater lacht so laut, dass die Mutter ein „Pst“ ausstieß. „Und dann", sagte der Vater, „hat dich der Alte vor die Tür gesetzt, mit dem Bescheid, wiederzukommen, wenn du deinen Bauch los wärst. So, Tochter, hier ist nur einer Herr im Hause.“

      Das stand scharf im Raum, und Karl erschrak. Der Opa hatte die Mutter vor die Tür gesetzt, weil sie zu dick geworden war? Die Oma schleppte auch einen Bauch vor sich her, freilich, die Oma durfte sich etwas erlauben in der „Friedlichen Einkehr“. Mehr als die Kellner, mehr als die Töchter, Tante Friedel und die Mutter. Diese Härte stand in einem Gegensatz zu der Milde, die der Opa jetzt an ihm, Karl, übte, aber wie hatte die Mutter gesagt: So was hat man oft.

      „Mir war damals ziemlich mies", sagte die Mutter, „das kannst du mir glauben. Wenn du… dann hätte ich Schluss gemacht.“

      Es verwirrte immer mehr. Schluss gemacht, wenn du? Wenn du, was?

      „Ja“, sagte der Vater, „ich kenne doch den Typ. Von meinem vierzehnten Lebensjahr an, habe ich ein Dutzend solcher Chefs gehabt. Wenn die einer kennt, dann ich. Kriegsgewinnler, rasch eine Kneipe gekauft, ein paar Häuser, für ein paar Dollar konntest du ja ganze Straßen kaufen, und nun dicke da, große Leute, und plötzlich auch Grundsätze, plötzlich auch Macht. Wie mich das anwidert! Und wenn ich denke, dass Karl nun die Sechserweisheit gelehrt bekommen soll, dann werde ich verrückt. Das seh ich mir keine zwei Wochen mehr mit an. Ich hab nichts dagegen, dass die Großeltern ab und zu ihre Enkel sehen, aber so habe ich mir das nicht vorgestellt.“

      Die Stimme war laut geworden; Renate seufzte im Schlaf, ihr Arm rutschte herunter. Karl tastete nach ihrer Hand, fühlte sie schlaff. Renate schlief, aber plötzlich zuckte die Hand, bekam Kraft. „Klammeräffchen“, murmelte sie schlaftrunken und schlief weiter.

      „Hermann“, sagte die Mutter scharf, „red mir da nicht zwischen. Wenn der Alte seinen Narren an dem Jungen gefressen hat, dann soll er auch was für ihn tun. Wir können kein Schulgeld aufbringen, du hast jetzt nicht einmal Arbeit, ihm fiele das nicht schwer. Karl soll studieren, das hab ich mir in den Kopf gesetzt. Nein, lass mich jetzt. Jeden Groschen drehen wir zweimal rum, der Alte hamstert zusammen, was er kriegen kann. Tag und Nacht geht der Laden, keinen Sonntag, keinen Urlaub, so kriegt das Geackere wenigstens einen Sinn.“

      Aus dem Gespräch war nun nichts mehr zu entnehmen, alles ging durcheinander, nur die Erregung blieb spürbar im Raum, griff vom Bett der Eltern auf ihn über, auf Karl, der studieren sollte. Machte ihr die „Friedliche Einkehr“ denn keinen Spaß? Und der freundliche Großvater, den sie hier Alten nannten, war der am Ende nicht ganz so freundlich, wie es den Anschein gehabt hatte?

      „Und Renate?“, fragte der Vater knurrend.

      „Da ist nichts zu machen. Sie ist ein Mädchen, das interessiert ihn nicht.“

      So, da war wieder etwas Greifbares. Renate würde von dieser Herrlichkeit, die die Mutter für ihn erringen wollte, ausgeschlossen sein. Morgen würde er sie mitnehmen, diese große Schwester mit den komischen Augen, die seinetwegen so unbequem schlief. Er tastete mit der Hand in ihrem Gesicht herum. Sie erwachte. „Was wuschelst du heute bloß", sagte sie leise. Sie schliefen nun wirklich beide ein, fast Mund an Mund.

      Früh gab es eine Überraschung. Karl stand träge auf, suchte sich an etwas Wichtiges zu erinnern, aber es fiel ihm nicht ein.

      „Junge“, sagte die Mutter, „beeil dich doch. Wir kommen bestimmt zu spät. Ausgerechnet am Sonnabend.“

      Karl sah sie störrisch an. Er türmte Marmelade auf eine Schrippenhälfte, stellte sich dabei ungeschickt an, kleckerte das Tischtuch voll und steckte einen Katzenkopf ein.

      „Rena“, rief die aufgebrachte Mutter, „nun mach ihm doch mal die Schrippe. Heiliger Bimbam, das wird ja heute ein Tag, wenn wir so weitermachen.“

      Hermann blätterte in der Zeitung. Und da entsann sich Karl des Wichtigen von gestern Abend. Die Schwester - heute waren ihre grauen Augen wie frischgewaschene Kieselsteine.

      „Renate muss mit“, erklärte Karl nachdrücklich. Beinahe hätte er nun eine wirkliche Ohrfeige erwischt.

      „Nun hör dir das an", sagte die Mutter, „Hermann, kannst du nicht mal aufhören mit Lesen? Hast du deinen Sohn gehört?"

      Hermann lachte über das ganze Gesicht.

      „Wenn Renate nicht darf, gehe ich auch nicht“, trumpfte Karl auf. „Dann gehe ich nie wieder zum Opa. So!“

      „Eine Kochstube hat eben auch Vorteile“, sagte der Vater. Die Mutter wirtschaftete geräuschvoll herum, stellte mit einem Ruck die Tasche auf den Tisch und entschied: „So, mein Sohn, nun wollen wir doch mal sehen, ob du so ein Held bist, wie es scheint. Zieh dich an, Renate!“

      Und so kam es, dass Karl, die große Schwester an der Hand, vor das Bett des Opas trat, der sie beide misstrauisch ansah. Und merkwürdig, dieses wunderbar schlanke Mädchen mit den komischen Augen machte ihn fast verlegen. Er schüttelte ihre Hand, hieß sie beide auf sein Bettende setzen und war wieder einmal den Tränen sehr nahe.

      „Da seid ihr nun wie Hänsel und Gretel“, sagte er und erzählte das Märchen ohne Übergang und umständlich. Dann kam er auf eine praktische Folgerung: „Das mit dem Knochen fühlen, war gar nicht so dumm, das macht man heute noch so. Wenn die Knochen zum Beispiel an den Fußwurzeln noch dick und knubbelig sind, dann weiß man, es war ein guter Wurf.“

      Er versank in Gedanken, während Karl seine dicken Finger besah. Renate hatte dünne Gelenke, zarte und schlanke Hände. So was muss es auch geben, dachte der Opa, nur, wohin steckt man ein solches Mädchen? In eine Küche nicht. Ja, was macht man mit einem solchen Mädchen? Sie ist eigentlich nur was zum Ansehen. Und damit erfüllte sie auch einen gewissen Zweck.

      „Na“, sagte er, „schön, dass ihr da seid. Nun geht mal in die Küche, der Opa will jetzt aufstehen, und die sollen mir mal noch einen Kaffee brauen, mit nem Schuss Kognak. Die wissen schon Bescheid.“

      In der Schloss- und in der Rheinstraße beginnt das Leben, Straßenbahnen rasseln, Autos hupen. In der Küche der „Friedlichen Einkehr“ wird das Sonnabendgeschäft vorbereitet, Leute kommen und gehen, Lieferanten, Besteller und Abholer. Riesenhafte Wurstplatten werden angerichtet, Braten bereitet, Torte wird geschnitten, Kaffee gemahlen, und die beiden Kinder laufen durch den Betrieb, helfen hier, kosten dort. Sie bringen etwas wie Glanz und Schimmer in diese Welt eintöniger Geschäfte. Sie essen mit dem Opa zu Mittag, sie spielen um seine Füße. Sie sind noch ohne jede Schuld an Geldeinbuße oder geschäftlichem Rückschlag, und dieser Umstand verschafft ihnen eine Menge Kredit bei ihrem Großvater.

      2. Nicht für die Schule lernen wir

      Arbeitslose kaufen keine Anzüge, obwohl sie überreichlich Zeit dafür hätten, Arbeitslose haben Sorgen. - Es ist viel von Schule die Rede gewesen, sehr viel. Den Großen fallen eine Menge Erlebnisse ein, mit Lehrern, mit Schuldienern. Karl weiß, wie man einen Diener macht, jene Verbeugung, die nicht zu tief und nicht zu steif sein darf. Wie macht man einen


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