Jane Eyre. Charlotte Bronte
Читать онлайн книгу.nun, wer weiß denn, was geschieht!« sagte Mr. Lloyd, indem er sich erhob, »Das Kind braucht Luft- und Ortsveränderung,« fügte er hinzu, mit sich selbst redend, »die Nerven sind in einer bösen Verfassung.«
Jetzt kam Bessie zurück; in demselben Augenblick hörte man Mrs. Reeds Wagen über den Kies der Gartenwege rollen.
»Ist das Ihre Herrin, Wärterin?« fragte Mr. Lloyd, »ich möchte noch mit ihr reden bevor ich gehe.«
Bessie forderte ihn auf, ins Frühstückszimmer zu gehen und geleitete ihn hinaus. Wie ich aus den nachfolgenden Begebenheiten schloß, wagte der Apotheker während der Unterredung mit Mrs. Reed ihr anzuempfehlen, daß sie mich in eine Schule schicke; und ohne Zweifel wurde dieser Rat sehr bereitwillig angenommen, denn als ich an einem der folgenden Abende im Bette lag, und Bessie und Abbot mich schlafend glaubten, sagte letztere: »Ich glaube, die gnädige Frau ist nur zu froh, solch ein langweiliges, boshaftes Kind los zu werden; sie sieht immer aus, als beobachte sie jeden Menschen und schmiede heimliche Pläne.« – Ich glaube wahrhaftig, daß Abbot mich für eine Art kindlichen Guy Fawkes, geboren 1570, Haupt der Pulververschwörung in London, 1605 hingerichtet, hielt.
Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch aus Miß Abbots Mitteilungen an Bessie, daß mein Vater ein armer Prediger gewesen; daß meine Mutter ihn gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet habe, welche diese Heirat für erniedrigend gehalten; daß mein Großvater Reed so erzürnt über ihren Ungehorsam gewesen, daß er sie gänzlich enterbte; daß mein Vater, nachdem er kaum ein Jahr mit meiner Mutter verheiratet gewesen, ein typhöses Fieber bekommen, während er die arme Bevölkerung einer großen Fabrikstadt, in welcher seine Pfarre lag, besuchte; und daß meine arme Mutter kaum einen Monat später ihrem Gatten ins Grab folgte.
Als Bessie diese Erzählung mit anhörte, seufzte sie und sagte: »Abbot, die arme Miß Jane ist auch zu bedauern.«
»Ja, ja,« entgegnete Abbot, »wenn sie ein liebes, gutes, hübsches Kind wäre, so könnte man Mitleid mit ihr haben, weil sie so gänzlich verlassen ist; aber solch eine scheußliche kleine Kröte kann Einem doch unmöglich Erbarmen einflößen.«
»Nein, nicht viel,« stimmte Bessie ihr bei, »auf jeden Fall würde eine so prächtige Schönheit wie Miß Georgiana in einer solchen Lage viel rührender sein.«
»Ja, ja, ich bete Miß Georgiana an!« rief die begeisterte Abbot. »Der kleine süße Liebling! – Mit ihren langen Locken und blauen Augen, und den süßen, lieblichen Farben, gerade als ob sie angemalt wäre! – Bessie, ich hätte wahrhaftig Appetit auf einen gerösteten Käse zum Abendbrot.«
»Ich auch, ich auch – mit geschmorten Zwiebeln. Kommen Sie, wir wollen hinunter gehen.«
Und sie gingen.
Viertes Kapitel
Aus meiner Unterredung mit Mr. Lloyd und der soeben wiederholten Konferenz zwischen Abbot und Bessie schöpfte ich Hoffnung genug, um den Wunsch nach Genesung zu hegen; eine Veränderung schien bevorstehend – ich wünschte und wartete im Stillen. Die Sache verzögerte sich indessen. Tage und Wochen vergingen; mein Gesundheitszustand war wieder ein normaler, aber ich vernahm keine Anspielung mehr auf den Gegenstand, über welchen ich brütete. Oft betrachtete Mrs. Reed mich mit strengen, finsteren Blicken, aber nur selten sprach sie zu mir. Seit meiner Krankheit hatte sie eine schärfere Grenzlinie denn je zwischen mir und ihren eigenen Kindern gezogen; mir war eine kleine Kammer als Schlafgemach angewiesen worden; man hatte mich verdammt, meine Mahlzeiten allein einzunehmen, und ich mußte allein in der Kinderstube verweilen, während meine Vettern und Cousinen sich stets im Wohnzimmer aufhielten. Indessen fiel noch immer kein Wink über den Plan, mich in ein Erziehungsinstitut zu schicken; und doch hegte ich die instinktive Gewißheit, daß sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dache dulden würde; denn mehr als je drückte ihr Blick, wenn er auf mich fiel, einen unüberwindlichen und eingewurzelten Abscheu aus.
Eliza und Georgiana handelten augenscheinlich nach Instruktionen, indem sie so wenig wie möglich mit mir sprachen; John streckte die Zunge aus sobald er mich erblickte und versuchte sogar einmal mich zu züchtigen; da ich mich aber augenblicklich gegen ihn wandte und er in meinen Blicken dieselbe Wut wahrnahm, in welcher ich mich schon einmal gegen ihn aufgelehnt hatte, hielt er es für besser, abzulassen und unter lauten Verwünschungen davon zu laufen, während er schrie, ich habe ihm das Nasenbein zertrümmert. Allerdings hatte ich nach diesem hervorragendsten Gesichtszuge einen Schlag geführt, so heftig wie meine Knöchel ihn auszuteilen vermochten; und als ich sah, daß entweder dieser Schlag oder meine Blicke ihn eingeschüchtert hatten, spürte ich die größte Neigung, meinen Vorteil noch weiter auszubeuten; er war indessen schon zu seiner Mutter gelaufen. Ich hörte, wie er mit stammelnden Lauten eine Geschichte begann »wie diese abscheuliche Jane Eyre« einer wilden Katze gleich auf ihn gesprungen sei; mit strenger Stimme unterbrach ihn seine Mutter.
»Sprich mir nicht von ihr, John; ich habe dir gesagt, daß du ihr nicht zu nahe kommen sollst; sie ist nicht einmal deiner Beachtung wert; ich will nicht, daß du oder eine deiner Schwestern mit ihr etwas zu tun haben.«
In diesem Augenblick lehnte ich mich über das Treppengeländer und schrie plötzlich ohne im geringsten über meine Worte nachzudenken:
»Sie sind nicht wert, mit mir zu verkehren.«
Mrs. Reed war eine ziemlich starke Frau; als sie indessen diese seltsamen und frechen Worte vernahm, kam sie ganz leichtfüßig die Treppe herauf gelaufen, zog mich mit Windeseile in die Kinderstube und indem sie mich an die Seite meines kleinen Bettes drückte, verbot sie mir mit pathetischer Stimme, mich von dieser Stelle fortzurühren und während des ganzen Tages auch nur noch ein einziges Wort zu sprechen.
»Was würde Onkel Reed jetzt sagen, wenn er noch lebte?« war meine fast willenlos getane Frage. Ich sage, »fast willenlos«, denn es war, als spräche meine Zunge diese Worte aus, ohne daß mein Wille darum wußte. – Es sprach etwas aus mir, worüber ich keine Gewalt hatte.
»Was?« zischte Mrs. Reed fast unhörbar; in ihrem sonst so kalten, ruhigen, grauen Auge blitzte etwas auf, das der Furcht glich; sie ließ meinen Arm los und blickte mich an, als wisse sie nicht recht, ob ich ein Kind oder ein Teufel sei. Jetzt faßte ich Mut.
»Mein Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie tun und sagen; und mein Vater und meine Mutter auch; sie wissen, daß Sie mich den ganzen Tag einsperren und daß Sie nur wünschen, ich wäre tot.«
Mrs. Reed war schnell wieder gefaßt; sie schüttelte mich heftig, sie ohrfeigte mich aus allen Kräften und verließ mich dann ohne eine Silbe zu sprechen. Bessie füllte diese Lücke aus, indem sie mir eine stundenlange Strafpredigt hielt, in welcher sie mir ohne jeden Zweifel bewies, daß ich das elendeste und pflichtvergessenste Kind sei, das jemals unter einem Dache erzogen worden. Halb und halb glaubte ich ihr; denn ich empfand selbst, wie in diesem Augenblick nur böse Gefühle in meiner Brust tobten.
November, Dezember und die Hälfte des Januar gingen vorüber. Das Weihnachtsfest und Neujahr waren in Gateshead in der üblichen fröhlichen Weise gefeiert worden; Geschenke waren nach allen Seiten hin ausgeteilt und Mittag- und Abendgesellschaften gegeben. Von jeder Feier und Festlichkeit war ich natürlich ausgeschlossen; mein Anteil an diesen bestand darin, daß ich täglich mit ansehen mußte, wie Eliza und Georgiana auf das schönste herausgeputzt in ihren zarten Musselinkleidern und rosenroten Schärpen, mit sorgsam gelocktem Haar, in den Salon hinabgingen; und später horchte ich dann auf die Töne des Klaviers oder der Harfe, die zu mir herauf drangen; hörte, wie der Kellermeister und die Diener hin und her liefen, wie die Teller klapperten und die Gläser klangen, während die Erfrischungen umher gereicht wurden; und wenn die Türen des Salons geöffnet und wieder geschlossen wurden, drangen sogar abgebrochene Sätze der Konversation an mein Ohr. Wenn ich des Lauschens müde geworden, verließ ich meinen Posten auf dem Treppenabsatz und ging in die stille, einsame Kinderstube zurück; dort, wenn ich auch traurig war, fühlte ich mich wenigstens nicht elend. Offen gestanden, hegte ich nicht das leiseste Verlangen, in Gesellschaft zu gehen, denn in der Gesellschaft schenkte mir selten irgend jemand Beachtung; und wenn Bessie nur ein wenig liebenswürdig und freundlich gewesen wäre, so hätte ich es