der verstellte Ursprung. L. Theodor Donat

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der verstellte Ursprung - L. Theodor Donat


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Frauen des Polygamen oder zwischen ihren Kindern herrschen nicht selten Misstrauen und Eifersucht. Recht oft sagte man mir, dass wichtige Fragen nur mit Geschwistern „gleichen Vaters und gleicher Mutter“ (même père, même mère) besprochen werden.

      Die ganzheitliche Auffassung über Gott und Leben kommt besonders gut beim Erntedankfest zum Ausdruck. Am Morgen wird in jeder Familie ein Opfer dargebracht. Ein Tieropfer besteht im Wesentlichen aus einem Küken und einem Huhn. Das Küken dient als Test, ob das Opfer dem Gründungsahnen genehm ist. Über diese beiden Opfergaben verfügen alle Familien. Das Opfer grösserer Tiere würde Unterschiede zwischen Familien mit mehr Arbeitskräften und jenen mit kleinerem Potenzial aufzeigen. Es würde zudem gegen die Einfachheit und Bescheidenheit des Hauspriesters verstossen. Er bringt das Opfer nackt dar, er kauert dazu vor einer kleinen Erhöhung auf dem Boden des Hofs des Rundhauses. Er spricht nur ein paar kurze Sätze, die sich gewöhnlich an den Gründungsahnen des Dorfes richten. Sich direkt an „Vater-Gott“ zu wenden ist – als Zeichen der Demut – nur in ausserordentlichen Notsituationen erlaubt. Am Mittag gibt es ein Festessen, mit dem Opferfleisch in der Sauce und Hirsebier. Rechtzeitig vor der früh einsetzenden Dunkelheit kommen die Menschen eines kleinen Dorfes zum Tanz zusammen. Das ist kein profanes Tun, denn die Menschen zeigen damit „Vater-Gott“, dass sie dankbar für die Ernte sind.

      Der Tanz aller war in der Tradition normal und Schüler/innen, die später nur zuschauten, wurden gefragt, ob sie während des Jahres nicht essen wollten.

      Grussformeln hängen von der Tageszeit oder der Situation ab: Am Mittag kann man z.B. sagen „Du mit der Sonne“. Damit wünscht man dem Anderen, dass ihm die Sonne nicht zu viel Mühe mache oder das Licht der Sonne mit ihm sei. Eine mögliche Antwort darauf könnte eine Frage sein: „Geht es Dir gut?“; es gibt mehrere Formulierung dafür. Die obligatorische Entgegnung hat dann den Inhalt, „ja, es geht mir sehr gut“. Selbst dann, wenn der Betreffende gerade Mutter oder Vater verloren hat. Von diesem Ereignis könnte man erst in der Folge des Austauschs sprechen. Damit wird bedeutet, dass ein persönlicher Schicksalsschlag das Vertrauen in „Vater-Gott“ und in das Leben der Gemeinschaft nicht in Frage stellen darf.

      Durch die öffentliche Initiation der jungen Frau oder des jungen Mannes überzeugt sich die Gemeinschaft, dass ihre Zukunft gesichert ist. Die jungen Männer kämpfen miteinander, das ist weniger eine sportliche Betätigung als eine Zurschaustellung der Wehrhaftigkeit des Clans. Die junge Frau und der junge Mann sind nun fähig, eine Familie zu gründen und damit der Gemeinschaft weiteren Bestand zu geben, in der Treue zur Tradition. Aber die Initiierten wissen, dass sie damit keinen Fähigkeitsausweis haben, der für das ganze Leben Gültigkeit hat. Das ganze Leben soll nämlich dazu dienen, weiter im Verständnis der Zusammenhänge des Sichtbaren und des Unsichtbaren vorzudringen. So wird während der eigentlichen Initiationsriten nichts erklärt, sondern es wird einfach gesagt, was gerade zu tun ist.

      Bestimmte Bäume tragen Zeichen, sie können Sitz eines Geistes sein, aber keinesfalls eines göttliches Wesens. Es gibt auch heilige Wälder. Diese dienen eher zum Schutz der Medizinalpflanzen, denn das hohe Buschgras wird jedes Jahr abgebrannt. Überall gibt es kleine Zeichen der Gegenwart von Unsichtbarem: Der Platz für das Opfer im Innenhof, das Eingangshaus und ausserhalb des Rundhauses besondere Bäume und Wälder. Das sind übrigens Elemente, die nicht kultivierte Menschen, d.h. eine Mehrheit von Missionaren, Touristen und Franzosen, in Bezug auf die Tradition leichtfertig von Fetischismus oder Animismus sprechen lassen! Animismus bedeutet aber, Pflanzen oder Tiere als göttliche Wesen zu verehren. Fast alle katholischen Priester sprechen eher abschätzig von Heiden, wenn sie von den Gläubigen der traditionellen Religion reden.

      Der Begriff [Heide] diente ursprünglich als polemische Kategorie zur Abwertung des anderen, dem die Zugehörigkeit zu einer Religion abgesprochen wird wiki[Heidentum]).

      Doch erstens ist unsere Tradition monotheistisch und zweitens haben die meisten Menschen eine tiefe, weise Religiosität und Philosophie. Deine Freunde können anhand der wenigen Beispielen erahnen, dass der ganze Lebensraum sakral ist, mit seinen Abläufen von jedem Tag, von jedem Jahr mit den Zeiten der Initiation und den anderen grossen Festen.

      — egalitäre Strukturen und Konsens

      Ich möchte kurz erklären, weshalb ich meine Gastkultur als „egalitäre Konsens-Kultur“ bezeichne. Der Ausdruck scheint kompliziert. Ich wollte zuerst den Ausdruck „egalitäre Kultur“ verwenden, doch scheint er zu nahe an einer Philosophie des Egalitarismus zu sein.

      „Egalitäre Konsens-Kultur“, diesem Ausdruck bin ich so in meinen Quellen nicht begegnet, wohl aber Egalitarismus in wiki[Egalitarismus]. Auf Englisch Egalitarianism [Stanford Encyclopedia of Philosophy].

      Ich kann natürlich keinen Beitrag zu einer politischen Philosophie oder zu einer Sozialphilosophie leisten, sondern ich möchte einfach beschreiben, was ich angetroffen habe.

      Wie ich gelesen habe, gibt es einen politischen, wirtschaftlichen oder philosophischen Egalitarismus. Die bekannteste Form ist wahrscheinlich die Theorie des Kommunismus, der möchte, dass jeder Mensch (Frauen und Männer) über einen gleichen Lohn, über einen gleichen Lebensstandard und über einen gleichen Anteil an Produktionsmitteln verfügt. Das Recht auf Privateigentum wird aberkannt. Die Führungsstruktur einer solchen Gesellschaft kann in der Realität durchaus totalitär sein, jedenfalls war sie es in der UdSSR. Mir scheint, dass der Ausdruck „egalitär“ oft etwas Gleichschaltendes hat, indem eine Person fast ausschliesslich als austauschbares Element gesehen wird. In meiner Gastkultur wird aber dem Alter, der Erfahrung und überhaupt der ganzen Person Rechnung getragen. Privates Eigentum kann man in einem vernünftigen Rahmen haben, jedoch als „Mieter“, nicht als Besitzer. Der Ausdruck „Konsensdemokratie“ bezeichnet in der politischen Philosophie etwas einseitig die Art der Entscheidungsfindung im Gegensatz zu einer Abstimmung oder zu einem autoritären Akt. Ein Beispiel von Konsensdemokratie indigener Völker:

      In der Versammlung ergreifen alle das Wort und diskutieren; am Ende der Diskussion interpretiert und resümiert ein Älterer die Entscheidung, zu der man gelangt ist. Er verkündet: „Wir denken und sagen ...“ ... Man ist zu einem Konsens gekommen, der sich im Wort „wir“ ausdrückt. Diese Art von Versammlung zeigt uns die verwirklichte Intersubjektivität. Es ist eine Gemeinschaft, die dank der Teilnahme aller und eines jeden lebt.“(Carlos Lenkersdorf in wiki[Konsensdemokratie])

      Aber ein so verstandener Konsens beinhaltet nicht ausdrücklich die Absage an jede Konzentration von Macht, die ein Priester, Heiler, Diskussionsleiter oder Chef auf sich vereinen könnte. Der Konsens im Palaver (s.u.) hingegen benötigt keine Zusammenfassung durch einen Ältesten oder einen Leiter der Diskussion. Das Ziel des Palavers ist, gemeinsame Haltungen zu finden (heute würde man vielleicht grossspurig von Strategien sprechen), um Konflikte der ganzen Wirklichkeit gerecht zu lösen. Die Harmonie untereinander und die Harmonie mit dem Unsichtbaren muss eventuell angepasst oder wiederhergestellt werden. Auf diese Weise wird ein Zusammenleben ermöglicht, in dem alle Institutionen von jedem Mitglied der Gemeinschaft mitgetragen werden. Ich meine, dass die Tradition meiner Gastkultur wesentlich auf den Pfeilern „Konsens“ und „egalitär“ ruht und jede Konzentration von Macht vermeidet.

      Der besondere Blick der Tradition auf unsern „Vater-Gott“ führt zum Wissen, dass alle Menschen gleich sind, dass sich niemand über andere als Chef erheben darf. Leider wurde mit der Kolonisation die „Chefferie“, das Häuptlingswesen, in meiner Gastkultur eingeführt. Die Befehls-Übermittlung vom Kolonisator zu den „Einheimischen“ sollte gewährleistet werden.

      Aber das Wort, mit dem der „Chef“ in meiner Gastkultur bezeichnet wird, bedeutete in der Tradition „Wohltäter“. Man brauchte die Bezeichnung für jemanden, der auf seinem Boden etwas mehr angepflanzt und geerntet hatte, als unbedingt nötig gewesen wäre. So konnte er einem Dorfbewohner helfen, dessen Vorräte, einer schlechten Ernte oder einer Krankheit wegen, vorzeitig aufgebraucht waren. Der „Wohltäter“


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