SCHNELL, ERBARMUNGSLOS, RELATIV: DIE ZEIT. Dominic D. Kaltenbach

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SCHNELL, ERBARMUNGSLOS, RELATIV: DIE ZEIT - Dominic D. Kaltenbach


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ist viel zu groß, dass alles auf einer Fehlentscheidung beruht. Den allgegenwärtigen Kommentatoren entgeht nicht der kleinste Ansatz von Lebenszeitverschwendung. Solange jedoch nicht für jedermann erkennbar ist, was diese schon auf den ersten Blick sehen, legt man sich sicherheitshalber vielleicht besser gar nicht fest und bleibt damit immerhin flexibel.

      Wer seine Kinder auf diesen unerbittlichen Kampf vorbereiten will, hat keine Zeit zu verlieren. Sprachkompetenzen, künstlerische Fähigkeiten, körperliche Fitness, Durchsetzungsvermögen, pharmazeutische Grundlagen - was bis zur Einschulung nicht sitzt, bleibt für immer und ewig unerreichbar. Nebenbei lernen die Kinder, mit Hindernissen umzugehen: Entweder findet der Facharzt die zugrunde liegende körperliche Benachteiligung, deren Berücksichtigung der Anstand gebietet, oder der Rechtsanwalt macht geltend, dass die gesamte Aufgabenstellung gegen die Menschenrechte verstößt.

      Völlig erschöpft wünschen sich alle endlich einmal Ruhe. Sie sehnen sich in die Zeit zurück, als die Uhr ihren Vernichtungszug gegen die Langsamkeit noch nicht begonnen hatte. Damals war das beschauliche Leben noch von der Tugend der Geduld getragen und bei niemandem stieg die Herzfrequenz und der Blutdruck an, nur weil innerhalb einer Viertelstunde einmal nichts geschah. Dieser wunderschöne Traum übersieht natürlich, wer hätte es anders erwartet, dass der damalige Alltag von Hunger, Krankheit, Tod und Teufel geprägt war. Vor gerade einmal einhundert Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland 15 Jahre unterhalb des Renteneintrittsalters. Nunmehr liegt sie, dank der Beibehaltung der identischen Haltbarkeitserwartung, erfreulicherweise darüber. Es gibt augenscheinlich eben nichts, was der Mensch seit seinem irdischen Auftreten nicht gesteigert hätte und doch hat er heute von allem zu wenig. Nur eine zeigt sich von dem Gehetze und den effizienzgetriebenen Zerstückelungen völlig unbeeindruckt: die Zeit selbst! Es wird also allerhöchste derselben, dieses Durcheinander zu ordnen.

      Es wird Zeit!

      Wenn Ordnung in einen Sachverhalt zu bringen ist, gibt es kein geeigneteres Instrument als die Zeit. Bei aller nervenaufreibenden Schwammigkeit unserer Tage verkörpert sie Verbindlichkeit. Kein noch so individualisierter Freigeist kann sich ihrer unumstößlichen Aneinanderreihung wohldefinierter Abschnitte entziehen. Mit der Zeit im Anschlag bleibt jedem einzelnen Menschen mit all seiner Subjektivität nichts anderes übrig, als sich auf die urmenschliche und damit brillante Fähigkeit zur Objektivität zu besinnen. Anhand des chronologischen Ablaufs lässt sich eindeutig erkennen, welcher Aspekt ursächlich zu welchen Folgen geführt haben muss.

      Dieses wohlgeordnete und stabile Nacheinander hat jedoch bereits auf den zweiten Blick einen entscheidenden, Streit erzeugenden Haken - Vergänglichkeit. Während Erzkonservative in der Veränderung die Rückgratlosigkeit ihrer Zeitgenossen erkennen, sehen diese, mit Berufung auf Heraklit (ca. 550 v. Chr. bis 480 v. Chr.), in selbiger nichts anderes als die objektive Schönheit der Welt. Letztere bereitete allerdings bereits dem herangezogenen antiken Philosophen Kopfzerbrechen. Trotz tagtäglicher Konfrontation ist der Mensch in seiner einschränkenden Oberflächlichkeit offensichtlich nicht in der Lage, die göttlich harmonische Ordnung der Dinge zu erkennen. Nach 2500 Jahren Fließen kommt die Krone der Schöpfung nach aktuellstem Stand der Realitätsforschung nunmehr zu dem Ergebnis, dass es die über jeden Zweifel erhabene, objektive, wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit gar nicht geben kann. In jedes wirklichkeitsorientierte Erkennen hat sich vorab bereits der „Zeitgeist“ eingeschlichen. Dabei handelt es sich um ein übernatürliches Wesen mit zwei konfliktträchtigen Gesichtern. Auf der einen Seite verführt es den Avantgardisten in Gestalt eines Propheten des Neuen. Auf der anderen Seite bestätigt dieser Dämon die Masse in ihren alten Denkgewohnheiten. Die individuelle Fähigkeit, Vergangenes und Zukünftiges zu ordnen, kann sich diesem Einfluss des mitmenschlichen Umfeldes und des jeweiligen Lebensalters einfach nicht entziehen. Wer von sich behauptet, objektiv zu sein, setzt sich folglich dem Verdacht aus, in einem bildungsfernen Milieu einen ausgeprägten Altersstarrsinn entwickelt zu haben.

      Zweifelsfrei muss es doch einmal eine Zeit gegeben haben, in der der Mensch im Paradies des „Hier“ und „Jetzt“ leben durfte. Die naturgegebene Praxis dessen, was der heutigen Beratungsliteratur als Idealbild fern von Stress und Zeitdruck vorschwebt. Eine Welt, in der Ursache und Wirkung eindeutig und unmittelbar erkennbar sind. Eine Art Urzeit der Zeit, wie sie von der Phänomenologie als „primitive Gegenwart“ beschrieben wird. Geprägt durch ein unspektakuläres „Dahinwähren“, zählt in selbiger einzig der ewige Moment. Nur hin und wieder bricht plötzlich und aus heiterem Himmel etwas Neues in diese ruhige Phase hinein und sichert damit den gemächlichen Fortgang. Dieser beschränkt sich auf das schlichte Verabschieden des Bisherigen in die Vergangenheit, weil das Frische fortan den Platz des Gegenwärtigen einnimmt. Für optimierendes Planen und folgenschweres Grübeln ist hier kein Raum vorgesehen.

      Vor dem geistigen Auge erscheinen damit unweigerlich die Urahnen aus dem Neandertal. Diese waren gezwungenermaßen mit nichts anderem als der buchstäblichen Wirklichkeit konfrontiert. Die theoretische Frage, ob eine sinnlich wahrgenommene Gefahr tatsächlich existiert, stellte sich praktisch nicht. Entweder dümpelte man weiter oder wurde in die Vergangenheit gerissen. Zum endgültigen Verhängnis soll dem Homo sapiens neanderthalensis unerwarteterweise ein Klimawandel geworden sein. Zu dieser Zeit lebte er bereits in direkter Konkurrenz mit dem intelligenteren Homo sapiens sapiens. Ob der Unterschied zwischen kurzfristigem Wetter und langfristigem Klima damals geläufiger war als heute, ist nicht überliefert. Jedenfalls wird vermutet, dass dem doppelt Vernunftbegabten dessen Kommunikationsfähigkeit zum entscheidenden Vorteil gereichte. Wer Sachverhalte zu bezeichnen vermag, kann sich mit den Mitmenschen auch über eine Realität abstimmen, die es erst noch herbeizuführen gilt. Während das Leben in der „primitiven Gegenwart“ von allerlei Überraschungen geprägt ist, vermag das Sprachgenie diesen nunmehr zuvorzukommen. Ergänzt um die „Zukunft“ sind dem Wortgewandten damit, zusammen mit der „Gegenwart“ und der „Vergangenheit“, alle Teile der „Modalzeit“ ein Begriff. Für eine genauere Einordnung innerhalb dieser Kategorien fehlt nur noch die „Lagezeit“ mit ihren Unterscheidungen nach „früher“, „später“ und „gleichzeitig“ - fertig ist die Zeit mit ihren Schichten.

      Allerdings scheint auch eine noch so ausgefeilte Sprache nicht vor überraschenden Fehleinschätzungen zu schützen. Mit grammatikalisch verschlungenen Schachtelsätzen beschreibt Immanuel Kant (1724 bis 1804) ein grundsätzlich selbstbewusstes Subjekt, das dazu berufen sei, die ganze Welt zusammenzusetzen. Nicht weniger wortgewaltig schreibt der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl (1859 bis 1938), einem vorab fertigen Ich sogar die Konstituierung der Welt zu. Beiden sei entgangen, so Hermann Schmitz, dass nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt im Bewusstsein erzeugungsbedürftig sei. Ohne dessen Sprachkompetenz wären die Schichten der Zeit zwar gar nicht möglich, damit ist das Individuum jedoch nicht obligatorisch Gestalter, sondern lediglich Mitspieler der Zeit. Die dem Homo sapiens sapiens damit immerhin zugeschriebene geistige Schaffung der Zeit kommt jedoch ebenfalls etwas zu früh. Neueren Funden zufolge beschränkte sich das archaisch zyklische Zeitverständnis des Homo sapiens neanderthalensis keinesfalls nur auf den kurzfristigen und offensichtlichen Tag-Nacht-Rhythmus. Mit einer gewissen Weitsicht scheint sich auch der primitive Vorfahre auf das Kommende eingestellt zu haben. Selbst der unfassbare Bereich des Übernatürlichen soll dem Begriffsstutzigen nicht fremd gewesen sein.

      Ein Blick auf die theologischen Hintergründe relativiert glücklicherweise das Verhältnis zu den Unzivilisierten. Der französische Soziologe Emile Durkheim (1858 bis 1917) spricht erstaunlicherweise bereits dann von einer Religion, wenn irgendein Lebewesen regelmäßig im Anschluss an die Nahrungsbeschaffung jaulend im Kreis herum springt, um für den erfahrenen Erfolg zu danken. Hier werde eine direkte weltliche Erfahrung mit einer übernatürlichen Kraft in Verbindung gebracht. Wer derart in der Lage ist, zwischen sakralen und profanen Ereignissen zu unterscheiden, von dem kann ebenfalls gesagt werden, dass er denkt. Mit dieser Schlussfolgerung wird jedoch die Fähigkeit zu einem ordnenden chronologischen Nacheinander komplett von der Notwendigkeit einer verfeinerten Ausdrucksweise befreit. Immerhin kann hier mit dem französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss (1908 bis 2009) noch ergänzt werden, dass Denken - selbst wilden, ursprünglichen und mythischen Inhalts - unweigerlich zur Sprache drängt. Damit lässt die erreichte syntaktische Komplexität wenigstens auf einen nicht unwesentlichen


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