Die Auferstehung des Oliver Bender. Hermann Brünjes
Читать онлайн книгу.Telefonbuch oder bei Google.«
»Thanatologe? Was ist das denn?«
»Musste ich auch erst nachsehen. Thanatologie ist ein richtiges Studienfach mit Abschluss. Es sind Experten in Sachen Sterben und Tod.«
Ich staune, wofür es bei uns alles Experten gibt.
»Waren deine Kollegen nach der Aktion auf dem Friedhof noch bei Frau Bender, der Witwe des Verstorbenen?«
»Ich vermute ja. Eigentlich erzählt mein Kumpel mir immer alles, was so läuft. Aber was die Frau des verschwundenen Toten angeht, hat er nichts, absolut nichts, rausgerückt. Das falle unter die Schweigepflicht, war sein Argument.«
Ich will mich schon verabschieden, da fallen mir gleich zwei weitere Fragen ein.
»Du hast erzählt, wer bei der Graböffnung anwesend war. Warum war eigentlich die Witwe nicht dabei?«
Schorse stutzt einen Moment.
»Hast recht. Eigentlich müsste sie sogar gefragt werden. Ich habe keine Ahnung.«
»Okay, frag doch bitte noch einmal nach. Aber noch etwas. Du sprichst von zwei Kollegen. Und einer davon war nicht aus Lüneburg, sondern aus Hannover?«
»Richtig. Bei ungewöhnlichen Ereignissen ziehen wir jemanden vom Innenministerium hinzu. Die sind auch Fachleute für Spurensicherung in, na ja, sagen wir merkwürdigen Fällen.«
»Ich verstehe, so etwas wie außergewöhnliche Phänomene, AkteX – die unheimlichen Fälle des FBI und sowas ...?«
Schorse grunzt etwas vor sich hin.
»Nicht wie in den amerikanischen Serien. Aber bei möglicherweise leeren Gräbern agieren die Polizeistellen eben auch bei uns nicht ohne Fachleute.«
Wir verabschieden uns. Ich verspreche meinem Freund, ihn zum Bierchen einzuladen, wenn ich mal in Lüneburg bin.
Dieses Telefonat hat mich nun wirklich weitergebracht. Jetzt ist es gewiss: Das Grab war und ist leer. Ich muss an meine Bibellektüre von gestern denken. Hatten sie bei Jesus nicht auch gemeint, man habe seinen Leichnam gestohlen? Womöglich, um Gerüchte einer Auferstehung zu streuen, Jesus auf diese Weise zum Gott zu erklären und dann mit dem Christentum so richtig loszulegen?
Für damals verstehe ich diese Erklärung.
Für heute erscheint sie mir abwegig. Warum sollte man aus Oliver Bender einen Gott machen? Was sollte ein »Bendertum« als Neuauflage des Christentums bringen? Warum sollte jemand Benders Leichnam klauen? Wegen der alten Bibel? Ich glaube nicht, dass damit ein wertvolles Buch, eine handschriftliche Erstausgabe oder so etwas gemeint ist. Sie war vermutlich nur für Bender selbst wertvoll, weil es eben seine Bibel war. Außerdem hätten die Grabräuber dann ja die Leiche nicht auch noch mitnehmen müssen.
Im Übrigen gab es keinerlei Spuren für eine Öffnung des Grabes – was wieder den übernatürlichen Erklärungen Raum zu Spekulationen verschafft.
Mir dröhnt der Kopf. Dass ein Mediziner dabei war, ist einleuchtend. Falls Bender im Sarg lag, konnte man seinen Tod noch einmal ärztlich und amtlich bestätigen. Aber warum ein Psychiater und Thanatologe? Vermutlich hatten sie damit gerechnet, dass sie die Ehefrau nach der Exhumierung psychologisch betreuen müssen oder dass sie vom Grabschänder ein Profil erstellen können. Es wäre schon interessant, die Meinung dieses Dr. Semmler einzuholen.
Ich tippe seinen Namen in meinen Laptop. Es erscheinen nur einzelne Einträge. Der Mann scheint es nicht nötig zu haben, auf Publicity zu setzen. Eine eigene Homepage hat er nicht. Sein Name erscheint im Zusammenhang mit Gutachten und Vortragsveranstaltungen. An der Leuphana-Universität Lüneburg hat er offenbar einen Lehrauftrag für angewandte Psychologie. Im Telefonbuch finde ich eine Nummer. Sie enthält die mir so vertraute Vorwahl unserer Kreisstadt.
Eine Frau nimmt das Gespräch an.
»Hier ist die Praxis von Dr. Ewald Semmler!« flötet sie ins Telefon. »Was kann ich für Sie tun?«
Ich frage nach ihrem Chef. Vermutlich war es ungeschickt, mich als Journalist vorzustellen. Sie wird immer reservierter. Zuerst hat der Doktor im Moment gerade keine Zeit, dann ist er gar nicht im Hause und zuletzt ist er soeben zu einer längeren Vortragsreise aufgebrochen.
Ich gebe auf. »Wenn er wieder ansprechbar ist, geben Sie ihm bitte meine Telefonnummer und sagen Sie ihm, ich bin dem auferstandenen Oliver Bender begegnet! – Und versemmeln Sie es nicht!« Den Nachsatz kann ich mir nicht verkneifen. Ich lege auf.
Ich koche mir einen Kaffee.
Keine zehn Minuten später klingelt mein Telefon. Es ist Dr. Semmler höchstpersönlich. Das ging schnell.
»Herr Jahnke?« Er entschuldigt sich für die Abfuhr durch seine Sprechstundenhilfe. Er sei zu beschäftigt, um alle möglichen Fälle zu kommentieren und sich ständig mit den Medien zu befassen.
»Aber beim Stichwort ›auferstanden‹ reagieren Sie?«
Er lacht.
»Allerdings! Sie reagieren doch vermutlich auch auf Stichworte, die Ihnen eine gute Story signalisieren.«
Der Mann scheint ganz umgänglich zu sein. Wir verabreden uns in einer Stunde in einem Café in der Innenstadt. Auf dem Weg zur Redaktion komme ich ohnehin daran vorbei.
*
Das Café ist eigentlich eine Eisdiele. Davon gibt es in unserer schönen Stadt ziemlich viele. Drinnen ist sie wenig einladend: Ein dunkler, schmaler Raum mit schlichten Tischen und Bänken entlang der Wand. Der Tresen mit seiner riesigen Auswahl an Eissorten steht vorne, von der Straße aus gut sichtbar. Fast ununterbrochen kaufen dort große und kleine Schleckermäuler ihre Eisbecher oder -waffeln.
Als ich mein Fahrrad an einen Papierkorb anschließe, der neben einer Sitzbank an der Straße steht, sind fast alle Tische besetzt. Im Gegensatz zu drinnen wirkt die Eisdiele hier draußen beschaulich und gemütlich. Unter bunten Sonnenschirmen reihen sich mehrere Tische mit Gartenstühlen, dazwischen tropische Topfpflanzen. Die Innenstadt ist verkehrsberuhigt. Blumenkübel, Bänke und Barrieren verhindern schnelles Fahren und so fahren hier nur wenig Autos durch.
Wir haben kein Erkennungszeichen verabredet. Trotzdem tippe ich bei dem einzelnen Mann am äußeren Tisch sofort auf Arzt oder Psychiater. Wie Thanatologen typischerweise aussehen, weiß ich nicht. Ob sie ständig Schwarz tragen? Vermutlich nicht. Der Mann dort hinten trägt jedenfalls trotz der hohen Temperaturen ein braunes Jackett, darunter ein hellblaues Hemd, bis oben zugeknöpft. Dunkle Jeans und sportliche Schuhe mit weißer Sohle, dazu ein gut gepflegter Bart, eine Brille mit dunklem Rahmen und eine »Südddeutsche« vor sich auf dem Tisch – dieser Mann muss einfach Dr. Ewald Semmler sein.
Auch er scheint mich sofort zu erkennen. Er winkt mich zu sich. Ich frage mich, ob auch ich typische Merkmale meiner Profession aufweise. Vielleicht mein kleiner Rucksack für iPad und Kamera? Oder weil ich eher unauffällig gekleidet bin, mit blauer Jeans, Sandalen, kurzärmeligem Polishirt ... keine Ahnung, woran man Journalisten erkennt. Ich finde es für meinen Beruf auch erheblich zuträglicher, wenn man möglichst lange unauffällig bleibt.
»Hallo Herr Jahnke! Kommen Sie, trinken auch Sie einen Cappuccino? Ich habe mir bereits einen bestellt.«
Noch während ich mich setze, winkt er die Kellnerin herbei und bestellt für mich. Auf jeden Fall ist dies ein Mann voller Tatkraft und Selbstbewusstsein. Er kommt auch gleich zur Sache.
»Was reden Sie da von Oliver Bender? Sie haben ihn gesehen?« Er will vermutlich den Verlauf unseres Gespräches kontrollieren. Ich allerdings auch.
»Bevor ich Ihnen davon berichte, muss ich wissen, ob Sie bestätigen können, dass sein Grab leer war.«
Er stutzt. »Woher wissen Sie davon? Wie kann die Presse bereits darüber informiert sein?«
»Na ja, nicht die Presse. Nur ich. Sagen wir, ich habe so meine Quellen.«
»Ah, ich vermute, Sie kennen Pastor Kerber. Ich kann