Politische Rhetorik der Gewalt. Dr. Detlef Grieswelle

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Politische Rhetorik der Gewalt - Dr. Detlef Grieswelle


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Unterschiedlichkeit von Interessen und Meinungen ausgeht und eine Staatskonstruktion zugrunde legt, die deren Artikulation und Konkurrenz ermöglicht: Durch Akzeptanz und Schutz der offenen politischen Willensbildung der Parteienkonkurrenz und der Oppositionsfreiheit sowie durch die Existenz von parlamentarischen Institutionen und Verfahrensstrukturen für die politische Willensbildung. Streit entspreche demnach den normativen Prämissen des demokratischen Staates, meint Oberreuter ganz richtig. Integration entstehe aus Konflikten, Diskussionen und Kompromissen – also aus Streit offener Kommunikation69. „Das größte Defizit an Streitkultur ist die Perhorreszierung des Streits, sodann das Missverständnis seiner potenziellen Reichweite und seiner Grenzen. Von Streitkultur lässt sich sprechen, wenn Vielfalt und ihre öffentliche Artikulation legitim sind, die Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unstreitig und wenn Würde und Rechte der Konfliktparteien unangegriffen bleiben“. Die hohe Zustimmung der Bevölkerung in der früheren Bundesrepublik Deutschland zu grundlegenden Prinzipien pluraler Demokratie begründete noch lange nicht ein angemessenes Verständnis politischer Willensbildung: So stimmten 70% dem Statement zu, Auseinandersetzungen der Interessengruppen schadeten dem Gemeinwohl; 92% meinten, die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Sonderinteressen der Einzelnen stehen, was ein unsäglich formuliertes Statement mit ebenso unsäglicher Zustimmung darstelle, wie Oberreuter formuliert; 65% meinten, die Opposition sollte die Regierung in ihrer Arbeit unterstützen, nicht kritisieren; abstrakt hielten 93% Opposition für eine Voraussetzung lebensfähiger Demokratie, aber konkret beraubten 61% sie ihrer Funktion als Widerpart der Regierung70. Allerdings ist zu beachten, wie Leggewie71 betont, dass hinsichtlich der Harmoniesehnsucht und Streitunfähigkeit der Westdeutschen im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien in den 70er und 80er Jahren eine Normalisierung eingetreten ist.

      Des Weiteren darf die Forderung nach einer Streitkultur im Sinne eines angemessenen Umgangs mit dem Gegner nicht dazu führen, dass der notwendige Streit mit Stilfragen allzu sehr eingeengt wird, Politik in pluraler Demokratie ist vor allem auch Kampf: Kampf um Mehrheiten, damit für richtig und zuträglich gehaltene Problemlösungen Gültigkeit erlangen. Konkurrenz muss auch schmerzen können. Wichtige Themen verdienen herausfordernde Deutlichkeit, Stilargumente dürfen nicht von der Sache selbst ablenken und Alternativen delegitimieren; Oberreuter72 fasst diese Gedanken zusammen: „Wo substanzielle Differenzen zu Kontroversen führen, widerspräche der Versuch, sie durch Stil- und Kulturforderungen einzuebnen und zu harmonisieren, den Prinzipien der Konkurrenzdemokratie.“ Diese gebe dem Dissens normativen Raum, sodass Unterschiede artikuliert werden könnten – nötigenfalls auch hart, deutlich und schonungslos.

      Es ist also nach den Chancen für die Artikulation von Konflikten zu fragen. Die deutsche politische Tradition mit ihren dominanten Werten der Harmonie und Geschlossenheit sowie der Ablehnung der offenen Gesellschaft und Konkurrenzdemokratie legen dies nahe; aber auch heutige Tendenzen, die klare und polemische Artikulation von Meinungen in streitiger Auseinandersetzung als negativ für Parteien, Parlament, Koalitionen und Regierungen zu interpretieren. Antiparteienaffekte und Oppositionsskepsis schöpfen aus solch mangelndem Verständnis für parlamentarische Demokratie und ihre Diskussions- und Willensbildungsprozesse. Grenzen für den Streit werden also neben institutionellen Vorkehrungen und Regelungen der Demokratie in Deutschland in beträchtlichem Maße durch Sanktionierung von Streit und Polemik durch eine kritische Öffentlichkeit gezogen.

      Nichtsdestotrotz ist es nützlich, für Theorie wie praktisches Handeln, Kriterien für eine angemessene Kultur des Streitens zu entwickeln, und das gerade nicht, um Kooperation und Harmonieverständnisse und -bestrebungen zu befördern, sondern um Pluralismus, Konflikte, streitige Auseinandersetzung und auch Polemik zu stärken. Die Kriterien für einen solchen kultivierten Streit können aus dem Fundus der institutionellen Erfahrungen mit Demokratien und aus Geist und Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates gewonnen werden. Zu einer solchen demokratischen Streitkultur gehören folgende fundamentalen Voraussetzungen, die wir in Anlehnung an eine wegweisende Typisierung von Sutor auf den Punkt bringen73:

      1. Es müssen gute grundlegende kulturelle Bedingungen für die Möglichkeit friedlicher Austragung politischer Konflikte vorliegen (Anerkennung fundamentaler Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder, prinzipieller Wertkonsens, Loyalität gegenüber der gemeinsamen Ordnung, Verurteilung von Gewalt etc.);

      2. Politik ist wesentlich Praxis – also weder Theorie noch Technik, d. h. nicht Vollzug erkannter Wahrheiten und auch nicht sozialtechnisch geleitete Herstellung der Gesellschaftsordnung (Absage an absolute Wahrheitsansprüche, Bereitschaft zur Infragestellung im öffentlichen Diskurs, keine Determinierung von Entscheidungen, aber auch kein Dezisionismus);

      3. unverzichtbar sind Konfliktregelungsmechanismen und institutionelle Vorkehrungen – über die grundlegenden Spielregeln der Demokratie hinaus (Apriori für produktive Austragung von Konflikten und Konsensbildung, die häufig in Form von Kompromissen erfolgt);

      4. der politische Streit darf nicht reduziert werden auf bloßen Interessen-Machtkampf, sondern hat sich vor allem auch am Gemeinwohl auszurichten (das Gemeinwohl ist der eigentliche Sinn politischer Ordnung; es darf nicht missverstanden werden als Summe partikularer Interessen, auch nicht als vorgegebene feste Größe, die Interessen übergestülpt wird, sondern als ein im demokratischen Diskurs zu suchendes Regulativ);

      5. es müssen bei den Bürgern Dispositionen in Form von Tugenden vorhanden sein, damit eine demokratische Streitkultur gelingt (Klugheit im Sinne praktischer Vernunft – Verbindung der Erkenntnis mit dem Wollen, des Wissens mit dem Handeln, des Denkens mit dem Tun; Kombination von Situationsanalyse, Sinn für das Mögliche im Licht des Wünschbaren, Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit; Gerechtigkeitswille – Verkehrsgerechtigkeit, zuteilende Gerechtigkeit, gesetzliche Gerechtigkeit; Zivilcourage – Mut zu eigener Meinung, Konfliktbereitschaft zur Findung guter Lösungen, Kampf für eine als recht erkannte Sache; Mäßigung – in Form von Zurücknahme der eigenen Person und Position, Verträglichkeit im Umgang).

      Im Rahmen der Diskussion über das rechte Maß wird nicht selten auf die Zügelung und Disziplinierung von Aggressivität abgestellt. Gegensätze und Kampf bedeuten geradezu zwangsläufig auch Aggressivität gegenüber dem politischen Gegner im Sinne einer Beschädigung oder Verletzung, wobei diese häufig auch instrumentell eingesetzt werden, um Vorteile zu erzielen. Das moralische Postulat kann nur beinhalten, massive Aggressionen in Form verletzender Malediktion zu vermeiden bzw. einzugrenzen: Gemeint sind Hetze, Häme, Verleumdung, Verfluchung und Beschimpfung, Schmähung und Verunglimpfung, Drohung. Allerdings gibt es öffentlich konkurrierende gesellschaftliche Anschauungen darüber, inwieweit solche Schädigungen nicht akzeptiert werden können; obwohl aggressive Aussagen und Handlungen je nach politischem Standort zum Teil verschieden bewertet werden, existieren doch auch bezüglich der Aggression74 recht einheitliche Bewertungen der Legitimität und Illegitimität von Handlungen durch die Bevölkerung. Will ein Redner bei einem Publikum mit seinen Aussagen Erfolg haben, dann bedarf es also in der Regel einer gewissen Kontrolle seiner Aggressivität gegenüber dem politischen Gegner. Das kann geschehen durch sparsame Benutzung aggressionsfördernder Begriffe, Signale und Symbole, insbesondere von Parolen und Reizwörtern; durch Vermeidung falscher Attribution, also unangemessener Ursachen- und Schuldzuschreibung bei unerfreulichem Verhalten anderer Menschen; durch die Bereitschaft, Ziele wie Durchsetzung und Gewinn, Beachtung und Anerkennung, Abwehr und Schutz zu erreichen ohne Schädigung und Schadenszufügung, also ohne Aggression als Mittel zum Zweck; durch Verminderung von Abwertung und Herabsetzung; durch mehr verhaltensbezogene Kritik anstelle pauschaler Personabwertung, die in der Regel als stärkere Provokation empfunden wird und heftigere emotionale Abwehr oder Kränkung hervorruft; zu guter Letzt durch Vermeidung aggressiver Modelle, indem also, z. B. in Versammlungen, Diskussionsleiter, Moderatoren, Diskussionsteilnehmer etc. in ruhiger, konstruktiver Weise die Stimmung zu prägen versuchen.

      Wenn um das Gemeinwohl gestritten wird und es um das soziale und politische Zusammenleben geht, dann muss wohl ein Mindeststandard an rationaler Auseinandersetzung dem politischen Diskurs als Maßstab angelegt werden. Denn dann sind nicht nur Propaganda und symbolische Kritik gefordert. Bei aller scharfen Gegenüberstellung von Standpunkten und deutlich artikulierter Infragestellung von Positionen, also bei aller dissonanten, konfliktorischen Auseinandersetzung, ist doch zu beachten, dass die Kontroversen zivilisiert


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