Wie ein Dornenbusch. Wilfried Schnitzler

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Wie ein Dornenbusch - Wilfried Schnitzler


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Den Zoll brauchte Cornelius nicht zu passieren, da er als sein Bestimmungsland Panama angegeben hatte, somit gleich in ein Durchgangslager eingewiesen wurde, wo er bis zu seiner Weiterreise zu bleiben hatte. Das war ihm nicht unlieb, denn das Zimmerchen, das er für ein paar Dollar mieten konnte, war zwar spärlich eingerichtet, hatte aber ein Bett, eine Wasch-kommode, ein paar Kleiderhaken, einen kleinen Tisch mit Stuhl und sogar einen, schon ein wenig blinden Spiegel an der Wand. Er war entsetzt, als er da hineinschaute. Ein ungewaschenes und unrasiertes Gesicht mit einem wilden Haarschopf starrte ihm da entgegen. So hatte man ihn tatsächlich ins Land gelassen?! Er musste seine Kleidung wechseln, sich endlich waschen und wenigstens Unterwäsche und Hemd und Kragen wechseln. Auf dem Schiff kam mit kaltem, salzigen Seewasser nur die Zahnbürste in die Nähe seines Gesichts. Endlich auch mal wieder ohne Anzug in einem Bett schlafen und ungestört in einem eigenen Zimmer sein, ohne so viele Menschen um sich herum haben zu müssen.

      Das eingezäunte Transitgelände war ziemlich weitläufig, er fühlte sich ganz und gar nicht eingesperrt. Die frühsommerlichen Temperaturen in dieser Jahreszeit an der Ostküste waren angenehmer als in Lille und lockten raus, nach den engen, erbärmlichen Verhältnissen im Schiff. Er verspürte einen ungeahnten Tatendrang. Mit dem Reisegeld des Bischofs besuchte er ein Badehaus, vertraute einem Friseur Haare und Bart an und wagte sich sogar in eine Taverne für eine warme Mahlzeit. Ein so saftiges Steak mit Bratkartoffeln und zarten Möhren existierte nicht einmal in seinen Träumen. So etwas Feines hatte er noch nie gegessen. Ihm drehten sich noch immer die Gedärme um, wenn er sich in Gedanken die Menschen auf dem Schiff bei Salzheringen und fettem Pökelfleisch vorstellte. Im Quartier gab es auch einen kleinen aber gut bestückten Kolonialwarenladen, die Besitzer waren ein deutsches Ehepaar. Sie schickten ihn zu einer Schiffsagentur am Platz um seine Weiterreise zu regeln. Ein Wechsel des Bischofs, den er mit sich führte, war für die Schiffspassage von New York nach Colón ausgestellt und garantierte die Bezahlung direkt bei Ankunft in Panama. Eine solche Regelung war ungewöhnlich, aber mit dem bischöflichen Siegel akzeptabel.

      Die Zeit des Wartens verstrich zu schnell. Er hatte sich in den letzten Tagen als Stammgast in der Taverne so richtig wohl gefühlt, wo er sich einmal am Tag zum reichhaltigen und schmackhaften Mittagessen einfand. Es gab genügend Muße für kleine Spaziergänge im warmen Sonnenschein ums Quadrat und er hatte ausreichend Zeit über seine Zukunft nachzudenken, die er nach alledem für gar nicht so übel hielt. Er erwartete eine sichere Stellung und ein geregeltes Auskommen. Alles andere musste sich finden. Bestimmt würde er irgendwann Lust verspüren, dem Vater zu schreiben, nachdem er letztendlich dessen Willen gefolgt war. Ganz fest nahm er sich vor, schnellstmöglich Caspar zu sich zu rufen. Dafür wollte er eisern sparen.

       6 Auf der SS Athos nach Colón

      Eine Dampfbarkasse brachte ihn den Hudson hinunter zur SS Athos, einem kleinen Einmaster der North American Steam Ship Company, der am Pier schon unter schwarzem Qualm aus seinem Schornsteinrohr, bereit zum Auslaufen, vor Anker lag. Die Reederei verband mit ihren Postschiffen die große Metropole von New York mit der kleinen Ortschaft Colón an der Atlantikküste von Panama. Die Amerikaner nannten den Ort stolz nach ihrem Landsmann ‚Aspinwall’, dem Bürger, der so viel zur Finanzierung des Baus der Panama Eisenbahn vor über 30 Jahren beigetragen hatte. Das Schiff tuckerte auf seiner Route entlang der Ostküste, immer gen Süden, bis in die karibische See.

      Als Cornelius auf der SS Athos im Zwischendeck, wie schon über den Atlantik, seine Koje suchte, war die Kabine fast leer. Auch in der ersten und zweiten Klasse reisten nur einige vermögende und abenteuerlustige Vergnügungssuchende, die die weißen Tropenstrände der Karibik sehen und kennenlernen wollten. Geschäftsleute sah man wenige.

      So viel Platz hatte es nicht immer auf den Postschiffen nach Panama gegeben. Es waren nur wenige Jahrzehnte her, da trekkten Tausende zuerst per Schiff nach Colón, überquerten mit der Panama-Eisenbahn in wenigen Stunden die Landenge, um im Hafen von Balboa an der Pazifikküste wieder ein dort wartendes Dampf- oder Segelschiff zu besteigen, das sie entlang der Westküste bis nach San Franzisko brachte. Das war ein kaum endender Strom von Abenteurern. Für die Desperados war das Schiff ein relativ komfortables, zeitsparendes und risikoarmes Transportmittel, statt 2000 Meilen durch Indianergebiet auf dem Landweg viele Monate beschwerlich und gefährlich im Ochsenkarren, der Postkutsche oder mit dem Pferd den Kontinent von Ost nach West zu durchziehen. Der ‚Wilde Westen’ war keineswegs romantisch, dafür gab es genügend Gesetzlose im Land und Friedensrichter, die schnell mit dem Galgen zur Hand waren. Seit die transkontinentale Eisenbahn vor beinahe zwei Jahrzehnten den riesigen amerikanischen Kontinent vom Atlantik bis zum Pazifik verbunden hatte, brach der Treck der Glückssucher im Goldrausch nach Kalifornien ziemlich rasch am Isthmus zusammen.

      Ein zweiter Ansturm von Mensch und Material setzte mit dem Bau des Panama-Kanals ein, aber die französische Société Civile Internationale du Canal Interocéanique, mit ihrem Präsidenten, dem Grafen Ferdinand de Lesseps, berühmtem Erbauer des Suez Kanals, musste erfolglos die Arbeiten am Bau des Panama-Kanals einstellen. Das Ende löste einen riesigen Finanzskandal an der Börse in Paris und politische Tumulte in Frankreich und Panama aus. Schuld waren Planungsmängel, falsche geologische Untersuchungen, Bestechungen, unzählige technische Schwierigkeiten und Pannen, gekrönt mit schlechter Organisation. Riesige Summen wurden buchstäblich im Sumpf des 73 km langen Kanalaushubs versenkt. Am Ende hatten Gelbfieber und Malaria mehr als zwanzigtausend Arbeiter in der morastigen Landschaft bei sintflutartigen Regenfällen und tropischen Temperaturen hingerafft.

      Jetzt konnte aber Cornelius die Reise auf dem amerikanischen Schiff, ohne europäischen Klassendünkel genießen. Die Passagiere im Zwischendeck hatten die Freiheit sich überall zu bewegen solange sie den Reisenden der komfortablen Kabinen nicht die Liegestühle und den Aussichtsplatz aufs Meer an der Reling wegnahmen. Die Lounges und Speisezimmer durfte Cornelius allerdings nur durch die Bullaugen bewundern oder wenn gerade die weiten Türflügel offen standen. In einem kleinen Raum unter Deck standen ein paar Tische mit Bänken, wo er essen konnte. Die Kantine bereitete recht akzeptable Eintöpfe: Fisch mit Kartoffeln, ein Stückchen Huhn im Reis oder Schweinefleisch auf Bohnen. Manchmal leistete er sich sogar ein Glas englisches Porterbier.

      Draußen, auf dem offenen Deck, wehte meist eine milde Brise bei wärmender Sonne. Er fand einen Liegestuhl in einer ruhigen Ecke, den sonst niemand zu beanspruchen schien. Diese Solitüde war ihm angenehm, denn um ihn herum sprachen alle Englisch, dessen Worte er zwar wissbegierig aufsaugte, aber noch wenig Sinn für ihn ergaben. Er war vor allem über die häufig sehr unterschiedlichen Dialekte dieser Sprache überrascht und versuchte herauszufinden, ob ihre Gesichter zum Klang der Worte passten und wo diese Menschen vielleicht herkamen. Er hätte geschworen, dass da Leute von Ungarn versuchten Englisch zu sprechen, so hart war ihre Aussprache. Wenn er sich später daran erinnerte, musste er darüber lächeln, denn das waren Iren oder Schotten mit ihrem besonderen englischen Akzent, so ganz anders, als das der Londoner Aristokratie oder dem Slang der amerikanischen Südstaaten. Aber diesen Unterschied lernte er, wie gesagt, erst nach vielen Jahren zu unterscheiden.

      Er räkelte sich gerne, versteckt in seinem Liegestuhl, und beobachtete die Wellen und das Meer, das immer ruhiger, blauer und tiefgründiger wurde, je weiter sie gen Süden vorstießen. Nach und nach entledigte er sich im Sonnenschein seiner schweren Kleidungsstücke. Manchmal tauchten unerwartet Tümmler und fliegende Fische auf, Kreaturen, die vor seinen Augen im Wasser spielten und die er bis jetzt nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ein Matrose, der wohl sein Interesse beobachtete, deutete im Vorbeigehen auf die Meerestiere und rief ihm ab und an die Namen zu. Er horchte in sich hinein, und fand da in solchen Momenten einen Menschen, den er für ziemlich gesegnet hielt, der nie und nimmer, nicht in seinen kühnsten Phantasien zu träumen gewagt hätte, eine solche Schöpfung Gottes, solche Naturwunder mit eigenen Augen zu erleben. Das waren für Cornelius ganz neue Welten. Wenn er nicht gerade vor sich hin träumte, nahm er Jakobs Geschenk zur Hand, das ihm sein Gärtnerfreund noch beim Abschied zugesteckt hatte, ‚Philipp Helds Großes Illustriertes Gartenbuch zur Selbstbelehrung für Gartenbesitzer, alles in durchaus klarer, leichtverständlicher Darstellung.' Es war für den Eigengebrauch geschrieben worden und reich bebildert. Was da der königlich württembergische Garteninspektor aus seiner langen Erfahrung für Gartenliebhaber von sich gab, war überaus faszinierend, genau das Richtige für Cornelius und ließ


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