Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace

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Edgar Wallace - Gesammelte Werke - Edgar Wallace


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Mr. Sweeny war ein wenig erleichtert, daß er Gelegenheit hatte, ihr die Geschichte zuerst von seinem Standpunkt aus zu erzählen. »Mr. Merrivan vermißte einige Stücke seines Tafelsilbers, die ich unglücklicherweise meinem Bruder geliehen hatte, der sie kopieren wollte. Er interessierte sich sehr für altes Silber, da er selbst gelernter Juwelier und Goldschmied ist. Als nun Mr. Merrivan die Stücke vermißte –« Er hustete wieder, wurde sehr verwirrt und sagte, er sei bezichtigt worden, das Silber gestohlen zu haben! Mr. Merrivan hatte ihn fristlos entlassen! »Ich hätte damals verhungern können, wenn nicht Mr. Selim von mir gehört und mir diese Stellung gegeben hätte. Sie ist nicht gerade glänzend«, fügte er entschuldigend hinzu, »aber es ist doch wenigstens etwas. Ich wünsche oft, ich wäre wieder dort in dem hübschen Tal von Beverley Green.«

      Sie unterbrach ihn: »Wann kann ich denn Mr. Selim sprechen?«

      Aber er schüttelte wieder energisch den Kopf.

      »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Miss Nelson. Ich habe ihn selbst auch noch nicht gesehen.«

      »Wie?« Sie starrte ihn verwirrt an.

      »Das ist eine Tatsache. Er ist Geldverleiher – aber das brauche ich Ihnen doch nicht zu erzählen.«

      Er sah sie mit einem wissenden Blick an, und sie wäre am liebsten vor Scham in den Boden versunken.

      »Er wickelt alle seine Geschäfte brieflich ab. Ich empfange hier die Besucher und bespreche mit ihnen die Angelegenheit. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß er sich daran hält«, erklärte er. »Die Kunden füllen dann die Formulare aus – Sie verstehen mich schon –, sie geben an, welche Summe sie brauchen, welche Sicherheiten sie bieten können und dergleichen Dinge – und ich lasse dann die Schriftstücke hier im Geldschrank für Mr. Selim, bis er kommt.«

      »Wann kommt er denn?«

      »Das weiß Gott allein«, erwiderte Mr. Sweeny. »Auf jeden Fall kommt er hierher, denn die Briefe werden zwei- bis dreimal wöchentlich abgeholt. Er setzt sich dann schriftlich mit den Leuten in Verbindung. Ich erfahre niemals, welches Darlehen sie erhalten oder wieviel sie zurückzahlen.«

      »Gibt er Ihnen seine Aufträge auch schriftlich?« fragte Miss Nelson, deren Neugierde im Augenblick über ihre Enttäuschung siegte.

      »Nein, er telefoniert mit mir, ich weiß aber niemals, woher. Es ist überhaupt eine sonderbare Stellung. Ich bin nur je zwei Stunden an vier Tagen der Woche beschäftigt.«

      »Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, ihn zu sprechen?« fragte sie noch einmal verzweifelt.

      »Nein, nicht die geringste«, entgegnete Mr. Sweeny, der wieder überheblich wurde. »Es ist nur ein Weg vorhanden, mit Albert Selim geschäftlich zu. verkehren – man muß ihm schreiben.«

      Sie dachte eine Weile nach.

      »Geht es Mr. Nelson gut?«

      »Danke, sehr gut«, antwortete sie hastig, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, sich nach meinem Vater zu erkundigen. Ich –« Es war ihr unerträglich peinlich, einen Angestellten ins Vertrauen ziehen zu müssen. »Sie sagen doch nichts davon, daß Sie mich hier gesehen haben?«

      »Aber bestimmt nicht«, meinte Sweeny zuvorkommend. »Großer Gott, wenn Sie wüßten, welche Leute hierherkommen, Sie würden erstaunt sein. Berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen, Leute, deren Namen ein Begriff sind. Minister, Geistliche –«

      »Leben Sie wohl, Sweeny.«

      Sie schloß die Tür hinter sich.

      Ihre Knie wankten, als sie die Treppe hinunterstieg. Sie zog es vor, den Fahrstuhl nicht zu benützen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie sich auf eine Unterredung mit Mr. Selim verlassen hatte. Verzweifelt sah sie sich nun der unerbittlichen Wirklichkeit gegenüber. Es gab keinen Ausweg mehr. Was konnte den Untergang jetzt noch aufhalten? Nichts – nichts! Der Mann, den sie hatte sprechen wollen, der einzige, der ihr helfen konnte, war unerreichbar für sie:

      Sie stieg um und kam um fünf Uhr nachmittags in Beverley an. Der erste, den sie sah, als sie aus dem Zug stieg, war der ruhige, kluge Detektiv mit den grauen Augen. Er hatte sie auch erkannt, und ihre Blicke trafen sich, als sie das Abteil verließ. Einen Augenblick stand ihr Herz still, dann sah sie an seiner Seite einen Mann mit Handschellen – es war der kanadische Professor! Den hatte er also verhaften wollen – den freundlichen Gelehrten, der sich mit ihr so interessant über Versteinerungen unterhalten hatte.

      Scottie wußte sehr viel über Fossilien und Gesteinsformationen. Es war sein Steckenpferd. An Scotties anderer Seite stand ein Polizist. Der Verbrecher selbst erwiderte ihren erschrockenen Blick durch ein liebenswürdiges Lächeln. Sie vermutete, daß solche Menschen allmählich abstumpften und hart wurden.

      Sie sah schnell zu Andy hinüber, ging an ihm vorbei und atmete dann erleichtert auf. Ihre schreckliche Befürchtung hatte sich also nicht bewahrheitet. Sie konnte getrost zurückkehren. Und sie war beinahe in froher Stimmung, als sie den mit Rosenstöcken eingesäumten Gartenweg entlangging.

      Wenn man in Nelsons Haus eintrat, kam man in eine große Eingangshalle, die auf drei Seiten von einer Galerie umgeben war, zu der man auf einer breiten Treppe emporsteigen konnte.

      Nelson stand an einer Staffelei und betrachtete ein Gemälde, sein Gesicht war nicht zu sehen. Aber Stella brauchte es auch nicht zu sehen, seine Haltung sagte ihr schon genug. Er wandte sich jetzt um und betrachtete seine Tochter mit einem gewissen Unmut. Er hatte ein schmales Gesicht und war ziemlich kahlköpfig. Seine Nase war fein und aristokratisch, Mund und Kinn waren ohne Energie. Ein dünner, brauner Schnurrbart, der grau zu werden begann, gab ihm ein fast militärisches Aussehen, das augenblicklich auch zu seiner kriegerischen Stimmung paßte.

      »Nun, endlich zurück?«

      Er kam langsam auf sie zu. Seine Hände lagen auf dem Rücken, die Schultern waren zurückgezogen.

      »Weißt du auch, daß ich kein Mittagessen hatte?« fragte er düster.

      »Ich sagte dir doch heute morgen, daß ich in die Stadt fahren würde. Warum hast du nicht Mary gefragt?«

      Sie fürchtete schon seine Antwort.

      »Mary habe ich entlassen«, erklärte er hochfahrend.

      Stella seufzte.

      »Du hast doch nicht etwa auch die Köchin fortgeschickt?«

      »Die habe ich auch hinausgeworfen.«

      »Hast du ihnen denn auch ihren Lohn gegeben?« fragte sie zornig. »Vater, warum machst du immer so schreckliche Geschichten?«

      »Ich habe sie entlassen müssen, weil sie unverschämt wurden«, entgegnete Mr. Nelson würdevoll. »Das genügt doch wohl. Ich bin Herr in meinem eigenen Hause.«

      »Ich wünschte, du wärst etwas mehr Herr deiner selbst«, sagte sie müde, ging zum Kamin, nahm eine dort stehende Flasche und hielt sie gegen das Licht. »Immer wirfst du die Dienstboten hinaus, wenn du betrunken bist!«

      »Betrunken?« fragte er beleidigt.

      Sie nickte. In solchen Augenblicken sagte sie ihre Meinung frei heraus. »Morgen wirst du mir wieder erzählen, daß du dich an nichts erinnern kannst, und dann tut dir alles leid. Ich muß aber wieder nach Beverley und zwei neue Dienstboten auftreiben. Sie werden sehr schwer zu finden sein.«

      Nelson hob die Augenbrauen. »Wie, du hältst mich für betrunken?!« rief er vorwurfsvoll.

      Aber sie achtete nicht weiter auf ihn, ging in die Küche und machte sich daran, etwas zu kochen. Sie hörte, wie er die Treppe hinaufstieg und immer wieder vor sich hinsagte: »Betrunken?« Dann lachte er höhnisch.

      Sie saß am Küchentisch, trank eine Tasse Kakao und aß eine Schnitte Brot mit Butter. Sie sah sich auch nach einem Stückchen Käse um, aber sie wußte im voraus, daß nichts dasein würde. Mr. Nelson hatte eine Vorliebe für Käse, wenn er trank. Hätte er doch nur etwas gearbeitet! Sie ging in das Atelier, das auf der Rückseite des Hauses


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