Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace

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Edgar Wallace - Gesammelte Werke - Edgar Wallace


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wenn ihn nicht der Detektiv zur rechten Zeit eingeholt hätte.

      »Hallo, Mr. Milburgh, Sie sind es doch, wenn ich nicht irre?«

      Der Geschäftsführer wandte sich um, rieb sich die Hände und lächelte wie gewöhnlich.

      »Das ist ja Mr. Tarling, der Detektiv. Eine schreckliche Katastrophe! Wie furchtbar für alle, die davon betroffen werden.«

      »Das traurige Ereignis hat sicher das ganze Warenhaus in Aufruhr gebracht.«

      »Ach ja«, sagte Milburgh mit gebrochener Stimme. »Wir halten das Geschäft heute geschlossen. Es ist entsetzlich – es ist der grauenhafteste Vorfall, auf den ich mich besinnen kann. Hat man denn schon irgendeinen Verdacht, wer der Täter sein könnte?«

      Tarling schüttelte den Kopf.

      »Es ist eine ganz geheimnisvolle Sache, Mr. Milburgh. Hat Lyne eigentlich für den Fall seines Todes bestimmt, wer dann die Geschäfte führen sollte?«

      Milburgh zögerte und schien nur ungern zu antworten.

      »Ich führe die Geschäfte natürlich«, sagte er dann, »genau wie damals, als Mr. Lyne seine Weltreise machte. Ich habe auch schon von Mr. Lynes Rechtsanwälten eine Vollmacht erhalten, die Geschäfte weiterzuführen, bis das Gericht einen Treuhänder ernennt.«

      Tarling sah ihn scharf an.

      »Welchen Einfluß hat denn Lynes Tod auf Ihre persönlichen Verhältnisse?« fragte er schroff. »Verbessert oder verschlechtert sich dadurch Ihre Stellung?«

      »Leider verbessert sie sich, denn ich habe größere Machtvollkommenheit und natürlich auch größere Pflichten. Ich wünschte, ich wäre nie in diese Lage gekommen, Mr. Tarling.«

      »Ich bin davon überzeugt«, erwiderte der Detektiv und erinnerte sich an Lynes Zweifel an der Ehrlichkeit dieses Mannes.

      Nach ein paar allgemeinen Bemerkungen verabschiedeten sie sich.

      Auf der Fahrt nach Hertford mußte Tarling dauernd über diesen Mann nachdenken. Milburgh war in mancher Beziehung zweifelhaft, und es fehlten ihm gewisse Eigenschaften, die ein ehrlicher Geschäftsmann unter allen Umständen besitzen muß.

      In Hertford stieg Tarling in ein Auto und nannte dem Chauffeur seine Adresse.

      »Hillington Grove? Das sind über zwei Meilen«, meinte der Fahrer. »Sie wollen sicher zu Mrs. Rider?«

      Tarling nickte.

      »Sind Sie nicht mit der jungen Dame gekommen, die auch zu Besuch erwartet wird?«

      »Nein«, antwortete Tarling erstaunt.

      »Mir ist nämlich gesagt worden, ich sollte am Bahnhof nach ihr Umschau halten«, erklärte der Chauffeur.

      Noch eine weitere Überraschung erwartete den Detektiv. Er hatte sich Hillington Grove trotz des großartigen Namens als ein kleines Häuschen vorgestellt und war sehr erstaunt, als der Chauffeur in ein großes, hohes Parktor einbog, einen breiten langen Fahrweg entlangfuhr und dann auf einem mit Schotter bestreuten Platz vor einem großen schönen Gebäude hielt. Er hatte nicht vermuten können, daß die Eltern einer Angestellten der Firma Lyne so vornehm wohnten. Sein Erstaunen wuchs noch mehr, als die Haustür von einem livrierten Diener geöffnet wurde.

      Tarling wurde in ein Wohnzimmer geführt, das geschmackvoll und künstlerisch ausgestattet war. Er war fest davon überzeugt, daß ein Irrtum vorliegen müßte, und dachte sich eben eine Entschuldigung aus, als sich die Tür öffnete und eine Dame eintrat.

      Sie mochte Ende der Dreißig sein, aber sie war noch sehr schön und hatte das Auftreten einer Dame der Gesellschaft. Sie war äußerst liebenswürdig zu Tarling, aber er glaubte doch, eine gewisse Ängstlichkeit in ihrem Gesichtsausdruck wahrzunehmen.

      »Ich fürchte, mir ist ein Irrtum unterlaufen«, begann er. »Ich wollte nämlich Miss Odette Rider sprechen –«

      Zu seinem größten Erstaunen nickte die Dame. »Sie ist meine Tochter. Haben Sie irgendwelche Nachrichten von ihr? Ich bin sehr besorgt um sie.«

      »Sie sind besorgt um sie?« fragte Tarling schnell. »Ist irgend etwas geschehen? Ist sie denn nicht hier?«

      »Nein, sie ist nicht hier, sie ist nicht gekommen.«

      »Aber war sie denn vorher nicht hier? Ist sie nicht schon gestern abend hier angekommen?«

      Mrs. Rider schüttelte den Kopf.

      »Nein, sie war nicht hier. Sie hatte mir versprochen, einige Tage bei mir zu verbringen, aber gestern abend erhielt ich ein Telegramm – warten Sie einen Augenblick, ich will es Ihnen gleich holen.«

      Sie blieb nur kurze Zeit fort und kam mit einem braungelben Formular zurück, das sie dem Detektiv übergab. Er las:

      Ich habe meinen Besuch aufgegeben, schreibe nicht an meine Wohnung. Ich werde dir Nachricht zukommen lassen, sobald ich meinen Bestimmungsort erreicht habe. Odette

      Das Telegramm war auf der Hauptpost in London aufgegeben und trug den Aufgabestempel von neun Uhr abends – also drei Stunden früher, als nach allgemeiner Ansicht der Mord begangen wurde.

      »Kann ich dieses Telegramm behalten?« fragte Tarling.

      Die Dame nickte; Er sah, daß sie nervös und aufgeregt war.

      »Ich kann gar nicht verstehen, warum Odette nicht kommt«, entgegnete sie. »Wissen Sie vielleicht den näheren Grund?«

      »Ich kann Ihnen leider auch keine Erklärungen geben. Aber bitte sorgen Sie sich nicht deshalb, Mrs. Rider. Sie hat wahrscheinlich noch im letzten Augenblick ihre Meinung geändert und wohnt bei Freunden in der Stadt.«

      »Haben Sie denn Odette nicht gesehen?« fragte Mrs. Rider ängstlich.

      »Ich habe sie seit mehreren Tagen nicht mehr gesprochen.«

      »Ist vielleicht irgend etwas passiert?« Ihre Stimme zitterte, und sie unterdrückte mit Mühe ein Schluchzen. »Sehen Sie, ich bin seit zwei oder drei Tagen hier im Haus und habe weder Odette gesehen noch – sonst jemand«, fügte sie schnell hinzu und machte bei diesen Worten einen schwachen Versuch zu lächeln.

      Wen mochte sie wohl erwarten? Und warum machte sie eben diese Pause beim Sprechen? War es möglich, daß sie nichts von der Ermordung Lynes gehört hatte? Er beschloß, das sofort festzustellen.

      »Es wäre ja möglich, daß Ihre Tochter durch den Tod von Mr. Lyne in der Stadt zurückgehalten wurde«, sagte er und beobachtete sie scharf.

      Sie starrte ihn an und wurde bleich.

      »Mr. Lyne ist tot?« stammelte sie. »Mußte dieser junge Mann schon so früh sterben?«

      »Er wurde gestern morgen im Hydepark ermordet aufgefunden.«

      Mrs. Rider schwankte und sank in einen Stuhl.

      »Ermordet! – Ermordet –«, flüsterte sie, »o mein Gott, nicht das! Nicht das!«

      Ihr Gesicht war aschfahl, sie zitterte am ganzen Körper, diese stattliche Frau, die vorhin noch mit einer so vornehmen Ruhe in das Zimmer getreten war.

      Plötzlich bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und begann leise zu weinen.

      »Haben Sie Mr. Lyne gekannt?« fragte er nach einer Weile.

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Haben Sie etwas über Mr. Lyne gehört?«

      Sie schaute auf.

      »Nein«, sagte sie ruhig, »nur daß er – nicht angenehm im Umgang war.«

      »Verzeihen Sie, aber Sie scheinen sehr interessiert« – er unterbrach sich, als sie den Kopf hob und ihn ansah.

      Er wußte nicht, wie er diesen Satz beenden sollte. Er war erstaunt, daß die Tochter dieser Frau, die anscheinend in glänzenden Vermögens Verhältnissen lebte, als Angestellte


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