DIE EISERNE FERSE. Jack London

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DIE EISERNE FERSE - Jack London


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Es schien, als hätte er unsere letzte stürmische Begegnung vergessen; aber ich war nicht in der Stimmung, sie zu vergessen.

      »Ich habe den Fall Jackson verfolgt«, sagte ich unvermittelt.

      Er wartete gespannt, dass ich weitersprechen sollte, aber; ich konnte in seinen Augen die Gewissheit lesen, dass meine Ansichten erschüttert worden seien.

      »Man scheint ihm übel mitgespielt zu haben«, gestand ich. »Ich - ich - glaube, dass etwas von seinem Blute von unsern Dachbalken tropft.«

      »Natürlich«, antwortete er. »Wenn man gegen Jackson und alle seine Genossen barmherzig gewesen wäre, würde die Dividende nicht so fett sein.«

      »Ich werde nie mehr Gefallen an schönen Kleidern finden können«, fügte ich hinzu.

      Ich fühlte mich gedemütigt und zerknirscht, und mich durchrieselte es süß, dass Ernst eine Art Beichtvater für mich war. Dann, wie später immer, stützte mich seine Kraft. Sie schien eine Verheißung von Schutz und Frieden auszustrahlen. »Und ebenso wenig werden Sie Gefallen an Sackleinen finden können«, sagte er mit Nachdruck. »Sie kennen die Jutespinnereien, dort herrschen dieselben Zustände. Dort wie überall. Unsere viel gepriesene Zivilisation ist auf Blut begründet, mit Blut gesättigt, und weder Sie, noch ich, noch sonst irgendjemand kann es vermeiden, von diesem roten Blut befleckt zu werden. Wer waren die Leute, mit denen Sie sprachen?«

      Ich erzählte ihm alles, was vorgefallen war.

      »Und nicht einer von ihnen hatte Handlungsfreiheit«, sagte er. »Sie alle sind an die erbarmungslose Industriemaschine gefesselt. Und das Tragische dabei ist, dass sie alle mit ihrem Herzblut daran gefesselt sind. Ihre Kinder - es ist immer das junge Leben, das sie instinktiv schützen. Dieser Instinkt ist stärker als alle Ethik in ihnen. Mein Vater! Er log, er stahl, er tat alles Mögliche Ehrenrührige, um Brot für mich und meine Geschwister zu schaffen. Er war ein Sklave der Industriemaschine, die ihn zerstampfte, ihn zu Tode hetzte.«

      »Aber Sie«, warf ich ein. »Sie sind doch sicher frei in ihrem Handeln.«

      »Nicht ganz«, erwiderte er. »Ich bin nicht durch mein Herzblut gefesselt. Ich bin oft dankbar, dass ich keine Kinder habe, und dabei liebe ich Kinder. Und doch würde ich mir keine wünschen, wenn ich verheiratet wäre.«

      »Das ist ein schlechter Grundsatz«, rief ich.

      »Ich weiß«, sagte er traurig, »aber für mich ist er angebracht. Ich bin Revolutionär, und das ist ein gefährlicher Beruf.«

      Ich lachte ungläubig.

      »Was würde Ihr Vater tun, wenn ich nachts bei ihm einzubrechen versuchte, um seine Dividenden von den Sierra-Spinnereien zu stehlen?«

      »Er schläft mit einem Revolver auf dem Nachttisch neben sich«, antwortete ich. »Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er Sie erschießen.«

      »Und wenn ich und ein paar andere anderthalb Millionen Mann (6) in die Häuser aller Wohlhabenden führen würde -es gäbe eine mächtige Schießerei, nicht wahr?«

      »Ja, aber das würden Sie nicht tun«, bemerkte ich.

      »Eben das will ich tun. Und wir haben die Absicht, nicht nur allen Reichtum in den Häusern zu nehmen, sondern auch sämtliche Quellen dieses Reichtums, alle Bergwerke, Eisenbahnen, Fabriken, Banken und Geschäfte. Das ist die Revolution. Sie ist wirklich gefährlich. Ich fürchte, die Schießerei wird schlimmer werden, als ich mir je erträumen ließ. Aber, wie gesagt, heute ist niemand frei in seinem Handeln. Wir sind alle von den Rädern und Zähnen der Industriemaschine gepackt. Sie haben das dort, wo Sie waren, gesehen, Sie sehen, dass die Männer, mit denen Sie sprachen, es auch waren. Sprechen Sie noch mit einigen ändern. Gehen Sie zu Ingram. Suchen Sie die Reporter und Redakteure auf, die dafür sorgten, dass der Fall Jackson nicht in die Zeitungen kam. Sie werden sehen, dass sie alle Sklaven der Maschine sind.«

      Im Verlauf unserer Unterhaltung stellte ich eine einfache Frage nach der Haftpflicht gegenüber den Arbeitern bei Unfällen und erhielt von ihm eine statistische Belehrung.

      »Es steht alles in den Büchern«, sagte er. »Alle Fälle sind gesammelt, und es ist unumstößlich, dass die wenigsten Unfälle sich in den Morgenstunden ereignen, dass ihre Zahl aber mit jener Stunde, mit der der Arbeiter körperlich und geistig ermüdet und langsamer wird, rasch anschwillt.«

      »Weshalb, meinen Sie, hat Ihr Vater dreimal so viele Chancen für die Sicherheit von Leib und Leben wie ein Arbeiter? Er hat sie. Die Versicherungsgesellschaften (7) wissen es. Ihn kostet eine Unfallversicherung auf tausend Dollar vier Dollar zwanzig jährlich, einen Arbeiter hingegen fünf-zehn Dollar.«

      »Und Sie?«, fragte ich, und in diesem Augenblick spürte ich eine mehr als oberflächliche Unruhe in mir.

      »Ach, als Revolutionär habe ich etwa achtmal so viel Aussicht wie ein Arbeiter, verletzt oder getötet zu werden«, antwortete er sorglos. »Von einem sehr geübten Chemiker, der mit Explosivstoffen umgeht, verlangt die Unfallversicherung die achtfache Prämie wie von einem Arbeiter. Ich glaube, mich würden sie überhaupt nicht aufnehmen. Warum fragen Sie?«

      Ich konnte die Augen nicht aufschlagen und fühlte, wie mir das Blut in heiß in die Wangen stieg. Nicht, weil er meine Unruhe bemerkt haben konnte, sondern weil ich sie selbst, und dazu in seiner Gegenwart, entdeckt hatte.

      In diesem Augenblick trat mein Vater ein und machte Anstalten, mit mir fortzugehen. Ernst gab ihm einige Bücher zurück, die er von ihm geliehen hatte, und verabschiedete sich. Aber im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um und sagte: »Wissen Sie, statt dass Sie sich Ihre Seelenruhe stören lassen und ich die des Bischofs störe, sollten Sie lieber Frau Wickson und Frau Pertonwaithe aufsuchen. Ihre Männer sind, wie Sie wissen, die beiden Hauptaktionäre der Spinnerei. Wie alle anderen Menschen, sind auch diese beiden Frauen an die Maschine gefesselt, wenn sie auch obendrauf sitzen.«

      (1) Dieses Wort bezeichnet den Zustand halb zerstörter und verfallener Häuser, in denen große Massen der arbeitenden Bevölkerung in jenen Tagen Unterkunft fanden. Sie zahlten den Grundbesitzern feste und im Verhältnis zum Werte solcher Häuser ungeheure Abgaben.

      (2) In jenen Tagen war Diebstahl ungeheuer verbreitet. Jeder stahl vom andern. Die Herren der Gesellschaft stahlen legal, die ärmere Klasse illegal. Nichts war sicher, wenn es nicht bewacht wurde. Riesige Menschenmassen waren als Wächter zum Schutze des Eigentums angestellt. Die Häuser der Wohlhabenden waren eine Kombination von Banksafe und Festung. Die Aneignung der persönlichen Besitzgegenstände anderer durch unsere Kinder in heutiger Zeit ist als ein rudimentäres Überbleibsel des Stehldranges anzusehen, der in jenen frühere Zeiten allgemein war.

      (3) Den Arbeitern wurden Beginn und Schluss der Arbeit durch das wilde, nervenzerreißende Kreischen von Dampfpfeifen angezeigt.

      (4) Aufgabe der Trustanwälte war es, durch korrupte Methoden den geldrafferischen Neigungen der Trusts zu dienen. Hierauf bezieht sich, was Theodore Roosevelt, damals Präsident der Vereinigten Staaten, im Jahre 1905 sagte: »Wir alle wissen, dass, wie die Dinge zur Zeit liegen, viele der einflussreichsten und bestbezahlten Mitglieder der Gerichtsbarkeit in jedem Zentrum des Reichtums es sich zur besonderen Aufgabe machen, kühne und feindurchdachte Pläne auszuarbeiten, die ihre wohlhabenden Klienten, seien es einzelne Persönlichkeiten oder Korporationen, instand setzen, die Gesetze zu umgehen, die den Nutzen der großen Reichtümer zum Besten der Gesamtheit regulieren sollten.«

      (5) Eine typische Illustration des mörderischen Ringens, das die ganze Gesellschaft umfasste. Die Menschen plünderten sich gegenseitig wie raubgierige Wölfe. Die großen Wölfe fraßen die kleinen, und in diesem Rudel war Jackson einer der allerkleinsten.

      (6) Diese Bemerkung bezieht sich auf den im Jahre 1910 in den Vereinigten Staaten von den Sozialisten gestellten Antrag. Die Geschichte dieses Antrages zeigt deutlich das rasche Wachsen der Revolutionspartei. Es stimmten für sie im Jahre 1888: 2.068; 1902: 127.713; 1904: 435.040; 1908: 1.108.427 und 1910: 1.688.211.

      (7) In dem schrecklichen Kampf jener Jahrhunderte befand sich niemand dauernd in Sicherheit, so viele Reichtümer er auch aufgehäuft haben mochte. Aus Sorge um das Wohlergehen


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