DIE EISERNE FERSE. Jack London

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DIE EISERNE FERSE - Jack London


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lachte. Er lachte brutal, und mich trieb es, dem Bischof beizustehen.

      »Vergessen Sie nicht«, sagte ich, »dass Sie nur die eine Seite der Sache sehen. Es ist viel Gutes in uns, wenn Sie es auch nicht sehen wollen. Bischof Morehouse hat Recht. Das Unrecht der Industrie ist schrecklich, aber er sagt, es rührt nur von der Unwissenheit her. Der Schlund, der zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft klafft, ist zu breit geworden.«

      »Der wilde Indianer ist nicht so roh und grausam wie die kapitalistische Klasse«, erwiderte er, und in diesem Augenblick hasste ich ihn.

      »Sie kennen uns nicht«, antwortete ich. »Wir sind nicht roh und grausam.«

      »Beweisen Sie das«, forderte er mich auf.

      »Wie kann ich es Ihnen beweisen?« Ich wurde zornig.

      Er schüttelte den Kopf.

      »Ich verlange ja nicht, dass Sie es mir beweisen sollen. Beweisen Sie es sich selbst.«

      »Ich weiß Bescheid«, sagte ich.

      »Sie wissen nichts«, erwiderte er grob.

      »Aber Kinder«, sagte Vater besänftigend.

      »Es ist mir ganz einerlei...«, begann ich unwillig, aber Ernst unterbrach mich.

      »Ich glaube, Sie - oder Ihr Vater, was dasselbe ist - haben Geld in den Sierra-Spinnereien angelegt.«

      »Was hat das damit zu tun?«, rief ich.

      »Nicht viel«, begann er langsam. »Nur, dass das Gewand, das Sie tragen, mit Blut befleckt ist. Dass die Nahrung, die Sie essen, blutig ist. Dass das Blut kleiner Kinder und starker Männer von Ihren Dachbalken herabtropft. Wenn ich jetzt die Augen schließe, kann ich es immerfort über mir tropfen hören: Tripp, tropp, tripp, tropp.«

      Und indem er die Tat den Worten folgen ließ, schloss er die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Vor Zorn und verletzter Eitelkeit brach ich in Tränen aus. Nie in meinem Leben war man mir so brutal begegnet. Sowohl der Bischof wie mein Vater waren verlegen und bestürzt. Sie versuchten die Unterhaltung in ruhigere Bahnen zu lenken, aber Ernst öffnete die Augen, ließ sie einen Augenblick auf mir ruhen und wandte sich dann ab. Sein Mund war starr und seine Augen auch, und sie lächelten nicht. Was er mir sagen, welche furchtbare Züchtigung er mir angedeihen lassen wollte, habe ich nie erfahren, denn in diesem Augenblick blieb ein Mann, der auf dem Bürgersteig vorbeiging, stehen und sah zu uns herein. Er war groß, ärmlich gekleidet und trug auf dem Rücken eine schwere Last von Rohr- und Bambusständern, Stühlen und Ofenschirmen. Er sah zum Hause herauf, als sei er unschlüssig, ob er eintreten und versuchen sollte, etwas von seiner Ware zu verkaufen. »Der Mann heißt Jackson«, sagte Ernst. »Mit dem kräftigen Körper sollte er arbeiten und nicht hausieren«, antwortete ich kurz. »Sehen Sie seinen linken Ärmel«, sagte Ernst höflich. Ich blickte hin und sah, dass der Ärmel leer war. »Blut von diesem Arm war es, das ich von Ihren Dachbalken tropfen hörte«, sagte Ernst mit immer gleich bleibender Höflichkeit. »Er verlor seinen Arm in den Sierra-Spinnereien, und wie ein niedergebrochenes Pferd warfen sie ihn zum Sterben auf die Landstraße. Unter sie verstehe ich den Generaldirektor und die Beamten, die von Ihnen und den anderen Aktionären für die Leitung der Spinnerei bezahlt werden. Es war ein Unfall. Er erlitt ihn bei dem Versuch, der Gesellschaft ein paar Dollar zu retten. Er geriet mit dem Arm zwischen die Zahnräder. Er hätte das Steinchen ruhig lassen können, das er zwischen den Zähnen sah. Es wäre nur eine Reihe von Stiften verbogen worden. Aber er griff nach dem Stein, und dabei wurde sein Arm gepackt und von den Fingerspitzen bis zur Schulter zerfleischt. Es war Nacht. Die Spinnerei machte Überstunden. Sie schütteten damals eine fette Dividende aus. Jackson hatte viele Stunden gearbeitet, seine Muskeln waren erlahmt, und so führten sie die Bewegung ein wenig langsam aus. Deshalb packte ihn die Maschine. Er hat eine Frau und drei Kinder.«

      »Und was tat die Gesellschaft für ihn?«, fragte ich darauf. »Nichts. Ach ja, doch, etwas taten sie. Sie führte den Prozess, den Jackson nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus auf Schadenersatz anstrengte, erfolgreich durch. Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte, wissen Sie.«

      »Sie haben nicht alles erzählt«, sagte ich mit Überzeugung. »Oder Sie wissen nicht alles. Vielleicht war der Mann unverschämt.«

      »Unverschämt! Ha! Ha!« Sein Lachen war teuflisch. »Du lieber Gott, unverschämt! Mit seinem verstümmelten Arm! Trotz allem war er demütig und bescheiden und dachte gar nicht daran, unverschämt zu sein.«

      »Aber das Gericht«, drängte ich. »Der Prozess wäre doch nicht zu seinen Ungunsten entschieden worden, wenn nicht noch etwas gewesen wäre, das Sie nicht erwähnt haben.«' »Der erste Anwalt der Gesellschaft ist Ingram, ein scharfsinniger Jurist.« Ernst sah mich einen Augenblick gespannt an, dann fuhr er fort: »Ich will Ihnen etwas sagen, Fräulein Cunningham. Untersuchen Sie den Fall Jackson.«

      »Das hatte ich mir sowieso vorgenommen«, sagte ich kühl.

      »Schön«, meinte er freundlich. »Und ich will Ihnen sagen, wo Sie den Mann finden können. Aber ich zittere für Sie, wenn ich daran denke, was Sie durch Jacksons Arm erfahren werden.«

      Und so kam es, dass sowohl der Bischof wie ich auf den Vorschlag Ernsts eingingen. Die beiden entfernten sich und ließen mich allein mit dem schmerzlichen Gefühl eines Unrechts, das mir und meiner Klasse angetan war. Dieser Mann war ein wildes Tier. Ich hasste ihn und tröstete mich nur mit dem Gedanken, dass man eben von einem Angehörigen der arbeitenden Klasse kein anderes Benehmen erwarten konnte.

      (1) In jenen Tagen machte man einen scharfen Unterschied zwischen Eingeborenen und Eingewanderten.

      (2) Dieses Buch wurde in den dreihundert Jahren der Herrschaft der Eisernen Ferse immer wieder heimlich gedruckt. In der Nationalbibliothek von Ardis befinden sich eine ganze Reihe von Ausgaben verschiedener Verleger.

      (3) In jenen Tagen übten räuberische Individuen die Kontrolle über alle Transportmittel aus und erhoben vom Publikum eine Abgabe für deren Benutzung.

      (4) Diese Streitigkeiten waren in jenen irrationellen und anarchistischen Zeiten sehr häufig. Zuweilen weigerten die Arbeiter sich, zu arbeiten. Zuweilen weigerten die Kapitalisten sich, die Arbeiter arbeiten zu lassen. Bei der Heftigkeit und Verwirrung solcher Unstimmigkeiten wurde viel Eigentum zerstört und manches Leben vernichtet. Alles dies ist uns heute unverständlich - ebenso unverständlich wie eine andere Gewohnheit jener Zeit, nämlich die Gepflogenheit von Männern der niederen Klasse, die Einrichtung zu zertrümmern, wenn sie sich mit ihren Frauen zankten.

      (5) Proletariat: stammt ursprünglich von dem lateinischen proletarii, ein Name, der zur Zeit des Servius Tullius denen gegeben wurde, die für den Staat nur als Erzeuger von Nachkommenschaft (proles) Wert hatten; mit anderen Worten, sie kamen weder für Besitz und Stellung, noch für außergewöhnliche Befähigung in Betracht.

      (6) Von den Sozialisten bei der Wahl im Jahre 1906 der christlichen Zeitrechnung aufgestellter Kandidat für den Gouverneursposten von Kalifornien. Er war Engländer von Geburt, Verfasser vieler national-ökonomischer und philosophischer Bücher und einer der bedeutendsten Sozialistenführer seiner Zeit.

      (7) Es gibt kein schrecklicheres Blatt in der Geschichte als die Behandlung von Kindern und Frauen in den englischen Fabriken in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung. Aber manche der stolzesten Schicksale jener Tage erwuchsen aus diesen Industriehöllen.

      (8) Ein noch besseres Beispiel hätte Everhard vorbringen können, wenn er daran gedacht hätte, wie die Kirche vor ihrer Zeit für die Sklaverei eingetreten war. Im Jahre 1835 stellte die Versammlung der presbyterianischen Kirche fest: »Sklaverei ist sowohl im Alten wie im Neuen Testament anerkannt und von Gott nicht verboten.« Die Charlestoner Baptisten-Gesellschaft veröffentlichte im Jahre 1835 folgendes: »Das Recht des Herrn, über die Zeit seiner Sklaven zu verfügen, ist klar vom Schöpfer aller Dinge anerkannt, der unbedingt das Besitzrecht über jeden Gegenstand zu erteilen kann, wem ihm beliebt.« Reverend E.D. Simon, Doktor der Religionsgeschichte und Professor am Randolph-Macon Methodist-College in Virginia, schrieb: »Die Heilige Schrift bestätigt an


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