Spiel des Zufalls. Joseph Conrad
Читать онлайн книгу.einer gewissen Arbeit sehr beschäftigt gewesen. Ich hatte mich immer schon gefragt, wie sie ihre Zeit wohl hinbringen mochte. Nun wußte ich es: mit Schreiben. Wie ihr Gatte hatte auch sie ein kleines Buch herausgegeben. Es kam mir viel später einmal in die Hände. Hatte aber mit Gehsport nichts zu tun. Es schien vielmehr ein Handbuch für unverstandene Frauen (also so ziemlich für alle Frauen), eine Art Leitfaden für weibliche Sittenfreiheit in Theorie und Praxis. Man konnte über die offenkundige Einfalt lachen. Natürlich fragte ich Fyne nicht, welcher Art die Arbeit war, die seine Frau so beschäftigt hatte. Doch staunte ich ganz für mich über ihre völlige Unkenntnis der Welt, ihres eigenen Geschlechts und der anderen Gattung von Sündern. Doch wo hätte sie irgendwelche Erfahrung herhaben sollen? Ihr Vater hatte sie klösterlich abgeschlossen gehalten. Die Ehe mit Fyne brachte darin Wechsel, aber doch nur den in eine neue Abgeschlossenheit. Du wirst mir einwenden, daß die angeborene Beobachtungsgabe genügt haben müßte. Nun ja! Da sie sich aber zur Lehrerin und Führerin aufgeworfen hatte, so war es nicht weiter überraschend für mich, zu sehen, daß sie blind war. Das ist ganz in der Ordnung. Sie war eine durchaus einfältige Person; nur wäre es sehr ungehörig gewesen, ihrem Manne das zu sagen.«
3
Der wirtschaftliche Aufschwung und das Kind
Ich hielt es aber nicht für ungehörig, Fyne gegenüber zu bemerken, daß seine Frau am Abend zuvor annähernd gewußt zu haben schien, wohin sich das unternehmende junge Mädchen gewandt haben mochte. Fyne schüttelte den Kopf. Nein. Seine Frau war ihrer Sache bei weitem nicht so sicher gewesen, wie sie vorgegeben hatte. Sie hatte lediglich ihre Gründe, anzunehmen, besser, zu hoffen, daß das Mädel irgendwo in London ein Zimmer genommen habe und in der Stadt untergetaucht sei -- in Erwartung oder vielleicht im Grauen vor dem herannahenden Tage.
Er brach ab und saß in düsterem Sinnen, aber immer noch würdig da.
›Vor was für einem Tage?‹ fragte ich vorsichtig. Doch er hörte mich offenbar nicht. Er strahlte eine so unheilvolle Atmosphäre aus, daß ich schließlich die Geduld verlor.
›Warum in aller Welt tun Sie denn gar so trübselig?‹ rief ich ehrlich überrascht und ungeduldig. ›Man könnte meinen, das Mädel sei eine Staatsgefangene und Ihrer Obhut anvertraut gewesen.‹
Und plötzlich war ich noch mehr über mich selbst überrascht, da ich so ohne weiteres Dinge als gegeben hingenommen hatte, die bei näherem Zusehen merkwürdig genug erschienen.
›Warum denn nur all die Geheimnistuerei? Warum sind sie geflohen -- wenn es eine Flucht ist? -- Hatte das Mädel Angst vor Ihrer Frau? Und Ihr Schwager? Welcher Teufel reitet ihn, sich heimlich trauen zu lassen? Hatte auch er Angst vor Ihrer Frau?‹
Fyne versuchte sich aufzuraffen.
›Natürlich hat mein Schwager, Kapitän Anthony, der Sohn des ...‹ Er brach ab, als wollte er eine schlechte Gewohnheit abtun. ›Er hat sich von ihr bereden lassen. Wir waren sehr gut gegen das Mädchen.‹
›Ich habe es gleich für ein verdrehtes und unbedachtes kleines Ding gehalten. Warum aber sollten Sie und Ihre Frau sich eine verrückte Laune oder sonst eine Rücksichtslosigkeit so sehr zu Herzen nehmen?‹
›Es ist eine ganz unerhörte Rücksichtslosigkeit‹, erklärte Fyne gewichtig -- und seufzte.
›Ich nehme an, daß sie arm ist,‹ hob ich nach kurzem Schweigen wieder an, ›aber schließlich ...‹
›Sie wissen nicht, wer sie ist.‹ Fyne hatte seine gewohnte Würde zurückgewonnen.
Ich gestand, daß mir ihr Name entgangen war, als uns seine Frau bekannt gemacht hatte. ›Es war irgendwas mit S, oder nicht?‹ Fyne erwiderte darauf mit größter Kühle, daß das nichts zur Sache täte, der Name sei nicht ihr Name gewesen.
›Wollen Sie damit sagen, daß Sie mir eine junge Dame unter einem falschen Namen vorgestellt haben?‹ fragte ich in dem vergnüglichen Gefühl, daß die Tage der Wunder und Zeichen noch nicht vorüber seien. Daß die so unheimlich wohlanständigen Fynes sich zu etwas Ähnlichem hergegeben haben sollten, überstieg alle Begriffe. Etwas heftiger als sonst versicherte mir der kleine Fyne, daß ich keine Entschuldigung für diesen Formfehler verlangen würde, sobald ich den wahren Namen des jungen Mädchens kennte. Dabei bekam sein Baß eine wärmere Färbung.
›Wir haben in jeder Weise versucht, dem Mädchen freund zu sein. Es ist die Tochter und das einzige Kind von de Barral.‹
Offenbar rechnete er damit, ich würde sprachlos überrascht sein; er sah mich starr an, als spähte er nach den ersten Anzeichen. Ich aber konnte seinen durchdringenden Blick einfach nur erwidern. So sahen wir uns eine Weile gegenseitig an. Da ich mir meiner Begriffsstutzigkeit bewußt war, so begann ich in meiner Erinnerung zu kramen: de Barral ... de Barral ... und mit einem Strahl brachen Licht und Wärme über mich herein, als wäre ein Fenster meines Gedächtnisses, einer Hauptstraße zu, plötzlich aufgerissen worden. De Barral! Konnte es denn der sein? Doch gewiß nicht!
›Der Finanzmann?‹ stammelte ich halb ungläubig.
›Jawohl‹, sagte Fyne, und diesmal paßte seine starre Würde gut. ›Der Sträfling‹.«
Marlow sah mich bedeutungsvoll an und erklärte: »Merkwürdig genug hat wohl niemand jemals daran gedacht, daß de Barral Kinder haben könnte oder ein anderes Heim als die Bureaus der ORB oder andere als finanzielle Lebensinteressen. Du erinnerst dich ja an den Krach, wie ich sehe ...?«
»Ich fuhr damals gerade auf dem Indischen Ozean,« sagte ich, »aber natürlich ...«
»Natürlich,« fiel Marlow ein, »die ganze Welt ... Du magst dich wundern, daß ich den Namen nicht sofort wiedererkannt hatte. Aber du weißt ja, daß mein Gedächtnis ein reines Massengrab von Eigennamen ist. Da liegen sie leblos und erwarten den Zauberschlag, und wenn er kommt, dann folgen sie ihm nicht einmal gar zu willig. Der Name ist das erste, was ich von einem Manne vergesse. Der Gerechtigkeit halber muß ich zugeben, daß es oft auch das letzte ist. Und daraus erklärt es sich, daß ich so viele namenlose Erinnerungen habe. De Barral nun hatte ich in meinem Massengrab zugleich mit so vielen Namen seiner eigenen Erfindung bestattet, daß er tatsächlich einen recht beträchtlichen Haufen gebleichter Gebeine wegschaffen mußte, bevor er auf den Ruf des Geisterbanners Fyne vor mich hintreten konnte. Der Bursche hatte eine wahre Leidenschaft für Namen: Die ORB-Depositenbank, die SZEPTER-Darlehensgenossenschaft, die ›Wohlfahrt- und Eigenheim-Gesellschaft‹ ... Jawohl, ausgesprochenen Geschmack in der Erfindung von Namen. Und sonst nichts, ganz und gar nichts. -- Keinerlei anderes Verdienst. -- Da war noch ein Name, ein reiner Glücksfall --, sein eigener Name de Barral, den er nicht erfunden hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein einfacher Jones oder Brown einen so ungeheuren Fischzug im Meere menschlicher Dummheit fertig gebracht hätte wie er. Vielleicht unterschätze ich aber auch die Leichtigkeit, mit der die Menschheit an den Köder geht. Wahrscheinlich sogar. Die Gier dieses Ungetüms ist unbeschreiblich, undenkbar, übersteigt jeden Begriff. De Barrals Laufbahn bildet den Beweis dafür, daß sie auch den nackten Haken annehmen. Er hatte ihn nicht einmal mit einem Märchen beködert. Dazu hatte seine Vorstellungskraft nicht ausgereicht ...«
»War er ein Ausländer?« fragte ich. »Sein Name ist offenbar französisch. Es war doch sein Name?«
»Oh, er hat ihn nicht erfunden. Er hatte ihn bei der Geburt bekommen, in Bethnal Green, wie sich während des Prozesses herausstellte. Er liebte Anspielungen auf seine schottische Verwandtschaft. Doch das hat jeder große Mann getan. Die Mutter, glaube ich, war übrigens wirklich Schottin von Geburt. Der Vater de Barral aber, wo immer er auch herstammen mochte, begann, als er sich vom Finanzdienst (als Zollwächter, glaube ich) zurückgezogen hatte, in London-Ost in ganz kleinem Maßstabe Geld auszuleihen. An Leute, die auf den Docks zu tun hatten, an Stauer, kleine Leichterschiffer, Schiffslieferanten, kleine Buchhalter -- lauter armseliges Volk. Der Alte lebte davon. Er war durchaus ehrenwert, glaube ich, und hatte Einfluß genug, um seinen einzigen Sohn als Unterbeamten in die Buchhaltung einer der Dockgesellschaften zu bringen. ›Nun, mein Junge‹, sagte er ihm, ›habe