Spiel des Zufalls. Joseph Conrad

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Spiel des Zufalls - Joseph Conrad


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auf Werbung aus. Er umwarb die Tochter eines alten Schiffskapitäns, der Kirchenvorsteher seiner Pfarrei war und in einem alten, baufälligen Haus mit Garten aus der Zeit des letzten Georg lebte: in einem der Häuser, wie man sie heute noch inmitten kleiner ›Bauplätze‹ in den elendesten Straßen sieht, einander zum Verwechseln ähnlich, jedes mit sechs Zimmern.

      Einige davon waren die Pfarrhäuser armer Kirchspiele. Der alte Seemann hatte eines davon billig bekommen und de Barral bekam seine Tochter. -- Was für ihn kein schlechtes Geschäft war. Der alte Seemann war sehr nett gegen das junge Paar und liebte ganz besonders das kleine Mädchen. Frau de Barral war eine ausgeglichene, anspruchslose Frau, damals noch von Herzen fröhlich und ohne Ehrgeiz; aber nach Art aller Frauen sehnte sie sich doch nach Abwechslung und, dann und wann, nach einem neuen Ereignis. Sie war es, die de Barral ermutigte, einen Posten in der Westendfiliale einer großen Bank anzunehmen, der ihm angeboten war. Er hatte scheinbar lange Zeit nicht den Mut zu diesem großen Wagnis aufgebracht. Schließlich siegten die Beweisgründe seiner Frau. Später pflegte sie zu sagen: ›Das war das einzige Mal, daß er auf mich gehört hat; und heute weiß ich nicht, ob ich nicht lieber hätte sterben als ihm zureden sollen.‹

      Du wirst dich vielleicht wundern, daß ich alle diese Einzelheiten kenne. Ich erfuhr sie viel später von Frau Fyne. Frau Fyne nämlich hatte, als sie selbst noch Fräulein Anthony war, in den Tagen ihrer Knechtschaft, Frau de Barrel in ihrer Verbannung gekannt. Frau de Barral wohnte damals in einem großen, steinernen Schloß mit Bogenfenstern, in einem großen, feuchten Park, genannt ›Die Priorei‹, unfern des Dorfes, in dem der feinsinnige Dichter sich sein Haus gebaut hatte.

      Das waren die Tage von de Barrals Erfolgen. Er hatte den Besitz gekauft, ohne ihn je gesehen zu haben, und hatte seine Frau und sein Kind sofort hingeschickt. Er wußte nicht, was er mit ihnen in London anfangen sollte. Er selbst bewohnte eine Zimmerflucht in einem Hotel. Dort gab er Abendgesellschaften, an die sich Kartenpartien anschlossen. Er hatte allmählich eine Leidenschaft für Glücksspiele entwickelt -- vielleicht auch nur eine Manie für die Karten. -- Jedenfalls spielte er hoch, zum Zeitvertreib, hatte aber recht zweifelhafte Partner.

      Inzwischen lebte Frau de Barral, die ihn jeden Tag erwartete, in der Priorei, hatte eine zweispännige Equipage, eine Erzieherin für das Kind und viele Dienstboten. Die Leute aus dem Dorfe sahen durch das Gitter, wie sie unter den Bäumen des großen Parks mit ihrem kleinen Mädchen umherwanderte, verloren in der fremden Umgebung. Nie kam jemand zu ihr. Dort starb sie auch, wie manche treue und empfindliche Tiere sterben -- an Vernachlässigung. Ganz einfach daran. Recht unerwartet und ohne alles Aufsehen. Das Dorf trauerte ihr nach, denn trotz ihres offenbaren Kummers war sie doch immer gütig gegen die Armen und jederzeit zu einem kleinen Schwatz mit den einfachen Leuten bereit gewesen. Natürlich wußten alle, daß sie keine wirkliche Dame war -- nicht das, was man eine wirkliche Dame nennt. Und auch ihr Verkehr mit Fräulein Anthony hatte sich nur vor der Türe und auf der Dorfstraße abgespielt. Carleon Anthony war eingefleischter Aristokrat (sein Vater hatte als Architekt Edelsitze restauriert) und erlaubte seiner Tochter nur den Verkehr mit den jungen Damen des Landadels. Trotz dieser erklärten Abneigung des Dichters gegen nicht ganz makellose Verfeinerung kam es doch zu einigen ruhigen, etwas trübseligen Spaziergängen, auf und ab in der großen Kastanienallee, die zum Parktor führte, wobei Frau de Barral schließlich Fräulein Anthony ›meine Liebe‹ nannte und sogar ›mein armer Schatz‹. Die arme Seele hatte niemanden, mit dem sie hätte sprechen können, außer diesem nicht eben glücklichen Mädchen. Die Erzieherin verachtete sie, die Haushälterin wahrte auf ihre Art Abstand. Auch liebte Frau de Barral ja das leere Frauengeschwätz nicht. Fräulein Anthony aber vertraute sie einiges an. Es sei ganz furchtbar, versicherte sie, wenn plötzlich ein solcher Reichtum über einen hereinbreche. Einmal gestand sie sogar, daß sie wohl an der Angst sterben würde. Herr de Barral (sie sprach nie anders von ihm) sei ein ausgezeichneter Gatte und musterhafter Vater gewesen, aber: ›Sehen Sie, meine Liebe, ich kenne ihn von Grund auf. Ich weiß ganz gewiß, daß er schließlich mit all dem Geld, das die Leute ihm zur Verwaltung übergeben, nichts wird anfangen können. Es scheint mir mehr als wahrscheinlich, daß er Dummheiten machen wird. Wenn er herkommt, muß ich das alles einmal richtig mit ihm durchsprechen. So wie wir es in den glücklichen Zeiten unseres Lebens oft zu tun pflegten.‹ Und dann entrang sich ihr eines Tages ein Angstschrei: ›Meine Liebe, er wird nie hierherkommen, niemals, niemals!‹

      Damit hatte sie unrecht. Er kam zum Begräbnis, schien tief erschüttert und weinte bitterlich am offenen Grabe, das kleine Mädchen fest an der Hand. Fräulein Anthony sah dies alles mit eigenen Augen an und hatte dafür dem Dichter mit einer ganzen Woche voll Zank und Streit zu zahlen. De Barral klammerte sich an das Kind wie ein Ertrinkender. Dennoch brachte er es fertig, den Halbsechs-Uhr-Schnellzug zu erreichen, und fuhr in einem reservierten Abteil mit niedergelassenen Vorhängen ganz allein in die Stadt ...«

      »Und ließ das Kind zurück?« fragte ich.

      »Jawohl, ließ es zurück ... Er scheute das Problem; das war so seine Art. Er hatte keine Ahnung, was er mit ihm anfangen sollte, so wenig übrigens, wie mit sonst jemandem, sich selbst mit eingeschlossen. Er flüchtete in seine Hotelwohnung zurück. Er war der hilfloseste ... Sie wäre wohl bis zum Ende ihrer Tage in der Priorei geblieben, wenn nicht die hochnäsige Erzieherin gedroht hätte, ihre Entlassung zu fordern. An dem Kind lag ihr gar nichts. Und die einsame, düstere Priorei ging ihr auf die Nerven. Sie dachte nicht daran, sich mit einem solchen Leben abzufinden, und da sie geradeswegs aus dem Hause irgendeines Herzogs gekommen war, so behandelte sie de Barral sehr von oben herab. Um sie zu versöhnen, nahm er für sie ein prachtvoll eingerichtetes Haus im teuersten Teil von Brighton und fuhr dann und wann über den Sonntag hinaus, mit einem Koffer voll ausgesuchter Süßigkeiten und einer dicken Tasche voll Geld. Das gab die Erzieherin für ihn in hochfürstlicher Weise aus. Sie war an die Vierzig und fand insgeheim Geschmack daran, männliche Zufallsbekannte -- junge Männer einer bestimmten Sorte -- zu begönnern. Davon wußte natürlich Frau Fyne damals aus eigener Anschauung nichts. Sie sagte mir nur, daß sie sogar während der Zeit in der Priorei die Erzieherin im Verdacht gehabt habe, ein falsches, herzloses, gewöhnliches Frauenzimmer mit recht niedrigen Neigungen zu sein. Doch de Barral wußte es nicht. Er wußte buchstäblich überhaupt nichts ...«

      »Aber, sag' mir doch, Marlow,« fiel ich ein, »wie willst du mir diese Behauptung beweisen? Er muß doch in seiner Art, in irgendeiner Art eine Persönlichkeit gewesen sein! Man kann doch nicht den größten Krach eines Jahrzehnts in einem Wirtschaftskörper zuwege bringen, ohne irgend etwas los zu haben?«

      Marlow schüttelte den Kopf.

      »Er war nur ein Symptom, ein Potenzexponent. Er hatte gar nichts los. Damals war gerade das Wort ›Wirtschaftlicher Aufschwung‹ in aller Munde. Du kennst die Macht des Schlagworts. Wir machen ganze Zeitspannen durch, die von dem oder jenem Wort beherrscht werden, mag es nun Entwicklung heißen oder Wettbewerb, Erziehung, Reinheit, Tatkraft, meinetwegen auch Heiligkeit. Es ist dann das Deckwort der Zeit. Damals also war es das Wort ›Aufschwung‹, das Arm in Arm mit Rechtschaffenheit, dem unzertrennlichen Gefährten und Rückhalt aller solchen Schlagworte, durch die Straßen lief und jedermann sozusagen ins Auge sah. Nicht einmal die kleinen Straßenmädchen, die armen Dinger, konnten sich dem Zauber entziehen ... Nun gut! ... Die meisten Tagesblätter kreischten in allen erdenklichen Tönen, wie eine Rotte verdammter Papageien, von einem scherzhaften Teufel abgerichtet, daß der Finanzmann de Barral berufen sei, unserem Volke zu der neuentdeckten Tugend des Aufschwungs zu verhelfen. Das wolle er mit allen den großen Unternehmungen bewirken, die die sittlichen Vorzüge des Aufschwungs auch noch den engsten Köpfen sinnenfällig machten, einfach dadurch, daß sie zehn Prozent Zinsen für alle Einlagen versprachen. Und man brauchte durchaus nicht den wohlhabenden Kreisen anzugehören, um an dem Vorteil der Tugendhaftigkeit teilhaben zu können. Und wenn einer nur einen halben Schilling übrig hatte und hinging und ihn de Barral gab, so half er am Aufschwung mit. Es sieht ganz so aus, als ob de Barral selbst daran geglaubt hätte. Er muß daran geglaubt haben. Es ist einfach undenkbar, daß er allein sich von der Behexung frei gehalten haben sollte, die die ganze Welt ergriffen hatte. Dazu war er nicht klug genug. Wenn man ihn sah, so konnte man allerdings nicht sagen ...«

      »Hast du ihn damals gesehen?« fragte ich etwas neugierig.

      »Ja! Merkwürdig,


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