Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt. Günter Neumärker

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Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt - Günter Neumärker


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es meinem Vater gelungen, wegen eines Herzfehlers als „nicht verwendungsfähig“ eingestuft zu werden, im September 1944 aber wird er doch noch eingezogen. 1943 begleitet er eine Gruppe Kölner Schüler nach Johannisbad im Sudetenland. Meine Mutter, mit der Doro an der Hand, besuchen ihn dort. Hier hört mein Vater von seinem Vetter, der in den USA gelebt hatte, dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen kann, weil die USA größer und stärker sind. Es ist das letzte Mal, dass sie glücklich zusammen waren, obwohl meine Mutter seither Visionen hatte und ahnte, dass er, einmal in den Krieg gezogen, nicht mehr heimkehren wird.

       Das Ende naht

      Die Front rückt näher, Bomber dröhnen über unser Haus, und ich liege mit Keuchhusten in meinem Körbchen. Wenn die Sirenen heulen, beginnt für mich eine schwere Zeit, denn die Familie sucht Schutz im Keller, während ich mit meinen Ängsten allein im dunklen Wohnzimmer zurück bleibe und keiner da ist, der meine Schreie hört und mich tröstet.

      Was in meiner Mutter zerstört wurde, als sie mit mir schwanger war und von Ihren Eltern dafür bittere Vorwürfe einstecken musste? Ich weiß es nicht. Allein der Gedanke, ich würde mich selbst in Sicherheit begeben und meinen Sohn in der Gefahr zurücklassen, ist mir einfach unvorstellbar.

      Wieder heulen die Sirenen: Fliegeralarm! In aller Eile werden die notwendigen Utensilien zusammengepackt, als meine Mutter plötzlich sagt: „Ach, heute nehmen wir den Günter mal mit in den Keller.“ Gemeinsam mit ihrer Schwester Ruth tragen sie mich im Kinderwagen die Kellertreppe hinunter. Kaum ist die Kellertüre geschlossen, da kracht auch schon eine Bombe auf unser Haus, eine Brandbombe, und die landet genau in meinem Körbchen, das in tausend Stücke zerfetzt wird. In dieser Nacht bin ich dem Tod zum ersten Mal von der Schippe gesprungen. Es wird nicht das letzte Mal sein. Schon wenige Jahre später werde ich mich an den roten Pillen meiner Oma vergiften.

       Frieden

      Endlich ist der Krieg vorbei, alle kehren heim. Mein Opa, der auswärts eine Pfarrstelle hatte, weil er als Evangelist im Dritten Reich die Machthaber kritisiert hat und deshalb Redeverbot bekam, Onkel Paul-Walter, und schließlich Onkel Johannes, der jüngste Bruder meiner Mutter aus Englischer Gefangenschaft. Nur mein Vater nicht. Die Visionen meiner Mutter werden sich wohl bewahrheitet haben. Offiziell gilt er als vermisst. Tatsächlich, so erfahren wir sehr viel später, gerät mein Vater noch am 9. Mai 1945 (am 8. Mai hatte Deutschland kapituliert) in russische Gefangenschaft und kommt nicht mehr zurück. Lange bevor die offizielle Todesnachricht eintrifft, heißt es immer, der Papa sei im Himmel. Ich habe ihn sehr vermisst.

      Meine Mutter und Onkel Johannes beginnen das Studium der Theologie in Bonn, was meine Mutter ja seit jeher wollte. So werden wir drei Kinder von unserer Tante Ruth, die ebenfalls Kriegerwitwe ist, und unserer Oma, die ja im Haus das Sagen hat, aufgezogen.

      Nun sind wir eine richtige Großfamilie. Oma, Opa, Tante Ruth, Onkel Johannes, wir Neumärkers, unser Dienstmädchen Irmgard und Fräulein Satzinger. Anna Satzinger ist Schneiderin und hat schon für meine Großeltern in Köln genäht. Im Krieg wurde sie nach Waldbröl evakuiert und schläft mit Irmgard zusammen in einem Zimmer. Bis in die 1950er Jahre hinein wird sie bei uns wohnen und auch noch danach für uns die schönsten Kleider nähen. Irgendwann in dieser Zeit verlobe ich mich mit ihr, sie wird meine erste Braut. Die sechzig Jahre Altersunterschied stören mich dabei gar nicht.

       Meine erste Erinnerung

      Vieles von dem, was ich bisher erlebt habe, konnte ich bestenfalls im Unterbewusstsein wahrnehmen oder weiß es sowohl aus Erzählungen, als auch aus meinem Album. Nun aber liege ich, noch klitzeklein, im Waschbecken und sehe ganz deutlich, wie sich meine Oma und meine Tante Ruth über mich beugen. Ich sehe den Medizinschrank über der Badewanne und das Badezimmerfenster. Ich werde gebadet, und dies ist meine erste Erinnerung. Natürlich habe ich mich oft gefragt: Kann es denn überhaupt sein, dass du dich daran erinnerst, so klein wie du warst? Ja, es kann, denn das Waschbecken hatte durchaus die Größe dazu. Restlos überzeugt war ich aber erst, als mir klar wurde, dass ich in meiner Erinnerung genau in der Position liege, die erforderlich ist, um von Rechtshändern gewaschen zu werden. Ich bin nun einmal Linkshänder, und deshalb fallen mir solche Unterschiede eben besonders auf.

       Schokolade

      Belgische Truppen haben unser Dorf besetzt, und in unserem Haus ist ein Belgischer Offizier eingezogen. Im Zivilberuf ist er katholischer Priester, ein feiner Herr. Er hat im Erdgeschoss sein Arbeitszimmer und im Obergeschoss sein Schlafzimmer. Neben seinem Adjutanten gehen auch seine sonstigen Untergebenen bei uns ein und aus.

      Gestern Abend, nach dem Abendbrot, als der Offizier noch im Kasino war, ging ich mit Oma und Tante Ruth in sein Arbeitszimmer. Meine Oma öffnete eine Schranktür und holte eine Orange heraus, zeigte uns diese mit einem vielsagenden Blick, um sie wieder zurück zu legen. Offensichtlich lag in dem Schrank aber auch Schokolade, denn heute Morgen hat sie mir verboten, bei den Belgiern darum zu betteln. Auf diese gute Idee wäre ich allein gar nicht gekommen. So aber setze ich das Verbot gleich in die Tat um und laufe schnurstracks ins Arbeitszimmer, um mir ein Stück Schokolade zu erbitten. Der Offizier gibt seinem Adjutanten eine entsprechende Anweisung, und stolz zeige ich meiner Oma, die gerade in der Küche arbeitet, meine neue Errungenschaft: Einen ganzen Riegel! Natürlich werde ich ausgeschimpft, aber in dem Moment geht der Offizier durch den Flur, und sagt: „Nicht schimpfen, kleine Kinder essen gern Schokolad.“ Das ist nun ein Befehl der Besatzungsmacht, gegen den selbst meine Oma machtlos ist. Ich bin gerettet!

       Meine Großeltern

      Die Eltern meines Vaters leben beide nicht mehr. So habe ich nur die Eltern meiner Mutter als Großeltern. Anna und Daniel Schäfer.

      Mein Opa ist ein in Deutschland sehr bekannter und geschätzter Evangelist. Sein Beruf bringt es mit sich, dass er viel verreist ist. Jedes Mal, bevor er wieder auf Reisen geht, werde ich ihm später zum Abschied den Schlager: „Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn, bleib nicht so lange fort, denn ohne Dich ist´s halb so schön, darauf hast Du mein Wort...“ singen.

      Die Frage, was eher war, die intensive Reisetätigkeit meines Großvaters und daraus resultierend die Machtbefugnis meiner Oma, oder die Herrschsucht meiner Oma und daraus resultierend die rege Reisetätigkeit meines Opas, kann ich nicht beantworten. Auf jeden Fall führt meine Oma zu Hause das Regiment, und wenn mein Opa daheim ist, so liegt er im Liegestuhl auf dem Balkon und sonnt sich, geht im Garten spazieren, oder bringt jede Postkarte, die er schreibt, einzeln zum Briefkasten.

      Seine wahre Bedeutung aber, die ich zu seinen Lebzeiten noch nicht so recht erkennen konnte, erschließt sich mir, als ich ihn googele, und sehe, dass er auch noch 50 Jahre nach seinem Tod selbst in Katholischen Pfarrblättern zitiert wird. 1954, mit 65, stirbt mein Opa an Nierenversagen.

      Meine Oma hat einen entstellten Fuß (Hartmannfuß), einen Herzfehler und Diabetes. Als ich fünf Jahre alt bin, ist mir klar, dass sie wegen ihres Herzens vor meinem Opa sterben wird.

      Solange ich denken kann, und solange sie lebt, sagt sie mehrfach am Tage: „Ich sterbe bald, ihr glaubt es mir ja nicht, aber ich sterbe bald.“ Diese Todesdrohungen führen bei mir zu einer gewissen Gleichgültigkeit. Sie beeindrucken mich nicht, solange darüber ohne konkreten Befund gesprochen wird. Alles, was in dieser Richtung gesagt wird, kann ich nicht ernst nehmen.

      Später wird genau daran meine erste Ehe zerbrechen, weil der Hinweis meiner Frau, sie sei beinahe gestorben, mein Herz nicht erreichen wird und ich ihr deshalb als lieblos erscheine.

      Meine Oma ist 79 Jahre alt geworden und hat ihren Mann um 19 Jahre überlebt.

      

       Die Sammeltasse

      Auf der Toilette steht Omas Lieblingssammeltasse, aus hauch-dünnem Porzellan, mit bunten Blümchen bemalt und mit Goldrand verziert. Aus dieser feinen Tasse trinken die Soldaten Wasser. Das aber gefällt meiner Oma gar nicht, und sie tauscht die gute Tasse gegen ein schlichtes Wasserglas aus. Das wiederum gefällt den Belgiern nicht, die unverzüglich die Tasse zurück verlangen,


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