Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt. Günter Neumärker

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Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt - Günter Neumärker


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erfolgreich zu widersetzen Das hat es ja in unserem Hause bisher noch nie gegeben.

      Natürlich kommt, was kommen muss: Meine Oma steht weinend im Wohnzimmer, hält ihre Lieblingstasse in der Hand, der Rand ist angeschlagen!

      Die Belgier sind abgezogen. Wir sitzen am Tisch und essen unser Abendbrot, als die Tür aufgeht und ein Soldat ein Paket aus Zeitungspapier auf den Nähtisch, links neben der Tür, legt, „ein Moment“ sagt, und noch einmal hinausgeht, um mit einem großen Karton zurückzukehren. In seiner Abwesenheit öffnet meine Oma das Paket, darin sind lauter Tassen und Untertassen. Natürlich solides Kasino Geschirr. Aber der Wunsch nach Wiedergutmachung ist unverkennbar.

       Die Sünden

      Warum der liebe Gott ein lieber Gott ist, weiß ich nicht so recht, denn alles, was Spaß macht, ist Sünde, und da soll der liebe Gott ja nun mal keinen Spaß verstehen.

      Natürlich ist es auch Sünde, "Böse Wörter" zu gebrauchen. Nun liege ich in meinem Bettchen, habe mein Nachtgebet „Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“- gesprochen und kann noch nicht einschlafen. Schwaches Licht dringt durch die Fensterläden. Vor mich halte ich ein blaues Taschentuch, dessen Saum mit Zickzackstich genäht ist, und dieser Saum erinnert mich an ein böses Wort. "Jetzt sag ich es noch einmal", flüstere ich vor mich hin, und damit mich der liebe Gott nicht sieht, krieche ich unter mein Federbett, um dort voller Inbrunst zu sagen: "Zickezacke Hühnerkacke."

      Viel hat diese Erziehung natürlich nicht genutzt. Dreißig Jahre später brülle ich sehr oft Scheiße, wenn mir beim Heimwerken etwas misslingt.

      Aufgeregt winkt mich meine Frau heran. Sie steht in der offenen Tür zum Kinderzimmer. Auf dem Boden sitzt unser zweieinhalb Jahre alter Sohn, völlig versunken vor einer kleinen Werkbank, in der bunte Rundhölzer stecken, die er mit einem Holzhammer durch die engen Öffnungen treibt, und bei jedem Schlag sagt er, ebenfalls voller Inbrunst: "Szeiße, Szeiße, Szeiße..."

       Der Teufel

      Wieder meint es ein Gönner meines Großvaters, dem Evangelisten Daniel Schäfer, gut mit uns und schickt uns zu Weihnachten eine Gans. Kurioserweise wohnt der Spender in der "Ostzone", und schickt ein Lebensmittelpaket in den Westen. Später wird es für viele Jahre umgekehrt sein.

      Nun liegt sie, als „Jute Jabe Jottes“, gut gebraten und zerteilt auf dem Teller, und die Mutti weist uns auf einen kleinen Fleischklumpen hin und sagt: "Dies hier ist das Herz", worauf mein Bruder fragt: "Wohnt da auch der Teufel drin?" Dies verneint unsere Mutter jedoch mit ernsthafter Mine.

       Die Freunde

      Meine Freunde heißen Paul-Erhardt Schneider und Kurt-Walter Nöll. Der wird zuhause, und auch von uns Freunden Männi genannt. Eines Tages wird mir seine Schwester Karin ganz klar sagen: "Er heißt nicht Männi, sondern Kurt-Walter", das werde ich mir merken.

      Paul-Erhardt, genauso alt wie ich, wohnt auf derselben Straßenseite praktisch zwei Häuser vor uns. Praktisch nur deshalb, weil diese Häuser erst noch gebaut werden müssen. So liegt zwischen uns eine große Wiese, auf der wir gerne spielen.

      Männi wohnt mir schräg gegenüber. Genau wie ich, wohnt auch er im Haus seiner Großeltern Simon. Sein Opa ist Hufschmied, und die Schmiede liegt auf dem Hof hinter seinem Haus. Sie ist auch ein wunderbarer Spielplatz für uns Kinder. Noch heute kann ich an keinem Amboss vorbeigehen, ohne ihn zum Klingen zu bringen. Aber kein Amboss war bisher so wohlklingend, wie der meiner Kindheit in der Schmiede Simon. Dort standen die zwei Ambosse nämlich auf Holzstümpfen und nicht auf Betonsockeln, wie allgemein üblich, und das Holz erzeugt eine wohlklingendere Resonanz als Beton.

      Gerne fahren Paul-Erhardt und ich mit unseren Dreirädchen die Bahnhofstraße hinunter, denn die hat ein gehöriges Gefälle. Am Ende der Fahrt angelangt, ruft Paul-Erhardt jedes Mal: "Berliiin!“ Das hat für mich zunächst einen seltsam mystischen Klang, weil ich nicht weiß, dass Berlin eine große Stadt ist, die ganz weit weg ist, nämlich „einen ganzen Tag lang mit dem Auto", wie mir meine Oma später erklärt.

      Anfang der 1950er Jahre werden wir drei Freunde auf Schneiders Grundstück sein, und Paul-Erhardt erhebt den Anspruch, vor uns hergehen zu dürfen, da es ja sein Grundstück sei. Wir lassen ihm den Vortritt. Anschließend gehen wir auf Simons Hof. Hier nun fordert Kurt-Walter das Recht des Voranschreitens. Jetzt kommen wir in unseren Garten, und meine Freunde sind beide der Meinung, dass wir bei uns alle nebeneinander gehen dürfen. Ich habe keine Einwände dagegen, es ist mir herzlich egal wie wir durch unseren Garten gehen. So zeigt sich schon früh, dass ich weder von krankhaftem Ehrgeiz gequält werde, noch über eine hervorragende Führungsqualität verfüge.

      Nicht nur die Wiese zwischen Schneiders und uns ist noch von ursprünglicher Natur. Nein, hinter unserem Haus bis an das Grundstück von Schneiders heran erstreckt sich auch ein kleines Wäldchen, das steil zum Brölbach hin abfällt und bis an Venns Villa reicht: „Venns Busch“.

      Herr Dr. Venn war in Waldbröl Sanitätsrat und baute sich dieses herrschaftliche Haus in der Kaiserstraße. Im Erdgeschoss befindet sich nun die Buchhandlung „I. Max und Co“ ehemals Breslau, die von seiner Enkeltochter Frau Birke betrieben wird. Hier kauft unsere Mutter meistens ihre Bücher. Mit Sohn Albrecht und seinem Vetter Eberhard Konrad, der auch in der Villa Venn wohnt, sind wir befreundet. Beide sind so alt wie die Doro. Im Nachbarhaus wohnt Wolfgang Klees, auch mit ihm bin ich befreundet, er ist genauso alt wie ich, aber katholisch, und so geht er auf eine andere Schule. Birkes und Klees ziehen Mitte der 1950er Jahre aus Waldbröl fort.

       Der Leistenbruch

      Mechthild wohnt gegenüber im Haus von Tante Grete, der Schwägerin meiner Oma. Mechthild ist so alt wie Georg, und sie gehen gemeinsam zur Schule. Ihr Vater ist Arzt am Krankenhaus in Waldbröl. Heute besucht er mich im Schlafzimmer, und er hat so merkwürdige Bänder mit Lederpolstern an ihren Enden bei sich. Es sind Bruchbänder. Ebenso wie Walter, der Bruder meines Vaters, der daran schon mit einem Jahr starb und wie die Doro, habe ich einen Leistenbruch, der solange mit diesen Bändern zurückgedrängt wird, bis ich operiert werde.

      So finde ich mich eines Tages in einem Dreibettzimmer im Krankenhaus wieder. Mein Gitterbettchen steht an der Wand zum Flur. Die zwei anderen Jungen in meinem Zimmer sind beide älter als ich. Eigentlich fühle ich mich ganz wohl hier. Das einzige, was mich stört, ist die Bettpfanne, die finde ich ausgesprochen unsympathisch. Irgendwie kann ich auch nicht einsehen, warum ich bei der einen Krankenschwester über das Gitter klettern darf um auf den Nachttopf zu gehen, bei der anderen aber in die Bettpfanne machen muss. Nur aus Protest benutze ich bei einem „großen Geschäft“ dann weder den Nachttopf, noch die Pfanne und mache ins Bett. Natürlich haben dies die Schwestern meiner Mutter erzählt, die darüber nicht gerade begeistert ist.

      Die Zeit ging schnell vorbei, und gestern fuhr ich mit der Taxe nach Hause. Heute Morgen stehe ich im Unterhemdchen in der Küche neben dem Spülbecken. Doro und Georg sitzen auf der Küchenbank vorm Fenster, dem Platz für uns Kinder, und Doro sagt zu mir: “Zeig mir doch noch einmal Deine Narbe.“ Da hebe ich mein Hemdchen hoch, und neben dem Oberschenkel verläuft sie, die Narbe, eine dünne, schwarze Linie, und ich bin mächtig stolz auf sie.

      Mit 53 Jahren muss ich die Operation wiederholen, und ich sage den Ärzten, dass ich mit drei Jahren schon einmal am Leistenbruch operiert wurde. Ich sage: „Machen Sie das ja anständig, ich habe keine Lust in fünfzig Jahren wieder zu kommen.“ Da solle ich mir mal keine Sorgen machen, meinen die Ärzte lächelnd, denn sie haben den Scherz sehr wohl verstanden.

      Woher ich wusste, dass ich damals drei Jahre alt war? Ich weiß es nicht. In 2007 werde ich meine Patentante Käthe besuchen, und sie erzählt mir, dass sie mich damals im Krankenhaus besuchte, und ich im Flur auf meine Zimmernummer 3 zeigte, und sagte: “So alt bin ich jetzt.“

       Die erste große Reise

      Heute heißt es, früh aufstehen, denn ich fahre mit Tante Ruth nach Nastätten im Taunus, wo immer das ist.

      Zuerst geht es mit dem Brölbähnchen, einer


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