Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt. Günter Neumärker

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Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt - Günter Neumärker


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„andere Jacke“ an. Die Doro bekommt die Mutterrolle, der Georg die Vaterrolle zugewiesen, und ich bin der Versager. Das hat allerdings den großen Vorteil, dass mir meine Geschwister diese Rolle nicht streitig machen. Während sich die Doro und der Georg noch bis in die 1990er Jahre hinein erbitterte Konkurrenzkämpfe liefern werden, werde ich meine Jacke 1967 ausziehen, mein Leben selbst in die Hand nehmen und erfolgreich nach Berlin gehen.

      Doros Rolle als “Ersatzmutter“ kommt mir allerdings sehr zu Pass, denn Doro und ich sind ein Herz und eine Seele, und das werden wir wohl bis ans Ende unsere Tage auch bleiben. So manches Mal hat sie für mich bei der Mutter eine Zustimmung für etwas bewirkt, das die Mutter zuvor schon abgelehnt hatte. Von daher ist mir die Rolle der Maria als Fürbitterin in der Katholischen Kirche durchaus verständlich.

      Natürlich hat meine Mutter, trotz gegenteiliger Bekundungen, auch keinen Sinn für die Hausarbeit. Die liegt ganz in der Hand der Oma, die die Haushilfen anleitet und auch selbst Hand anlegt.

      Ganz im Gegensatz zum Georg hatte ich es sehr gut bei meiner lieben Tante Ruth. Nun, wo die Mutter zu Hause ist, und Tante Ruth in Bad Salzuflen auf die Bibelschule geht, wendet sich das Blatt, und ich habe den Eindruck, dass ich nun dafür büßen muss, dass es dem Georg nicht so gut ging.

      Seit langer Zeit muss ich mittags unserer Haushilfe beim Abwasch helfen und abtrocknen. Heute hilft der Georg auch dabei, und nimmt sich anschließend aus der Haushaltskasse 5 Pfennige. Die habe ihm die Mutter für jedes Abtrocknen versprochen. Wie schön, denke ich, und möchte nun auch immer 5 Pfennig haben. „Nein“, sagt meine Mutter, „Du musst ja sowieso abtrocknen, beim Georg ist das eine Sonderleistung, die auch besonders bezahlt werden muss.“

      Den Eindruck, dass ich gegenüber meinen Geschwistern generell benachteiligt werde, habe ich noch viele, viele Jahre lang. Einmal habe ich dieses Gefühl ganz konkret angesprochen und gesagt: „Ich glaube, Du hast meine Geschwister mehr lieb als mich.“ Da kam mir meine Mutter ideologisch und erwiderte: „Das gibt es gar nicht, dass eine Mutter ihre Kinder unterschiedlich lieb hat.“ Erst 1989 wird meine Mutter eine „Fehlspekulation“ von mir heilen, die mich mehrere 1000 DM gekostet hätte; Geld, das ich mir geliehen hatte. Erst von da an werde ich das Gefühl haben, jetzt werde ich genauso behandelt wie meine Geschwister.

      Im Jahre 2000 wird meine Mutter ihren 81. Geburtstag bei mir in Kellenhusen feiern und ein weiteres Geständnis ablegen, indem sie sagt: „Meine Erziehung war immer willkürlich.“ „Auch das“, sage ich ihr, „weiß ich schon lange, und ich finde es sehr respektabel, dass Du das nun bekennst.“ Damit wird zwischen uns alles bereinigt werden, was Jahrzehnte unter der Decke gehalten, abgewiegelt und bestritten worden war.

       Berufswunsch

      Meine Mutter ist Vikarin, mein Opa Evangelist und auch Onkel Paul-Walter ist Pastor. Was ich erst später erfahre: Pastoren gab es in unserer Familie schon seit der Reformation, so zum Beispiel Jacob Stein, genannt Pater Stephan, der 1532 konvertierte. Einer meiner Vorfahren hat schon an Luthers Grab eine Rede gehalten. Da liegt es doch nahe, dass auch ich Pastor werden will, denn es liegt ja ganz offenbar in den Genen.

      Zuerst bin ich allerdings davon überzeugt, dass ein Pastor nur sonntags arbeiten muss, und so wähle ich den Doppelberuf: Pastor und Anstreicher (Maler).

      Nun aber tut sich eine neue Perspektive auf. Nach Waldbröl kommt ein Missionszelt. Dort wird ein Evangelist wie mein Opa eine Woche lang predigen. Nur, dass der Prediger im Zelt, Zeltmissionar heißt. Ich will Zeltmissionar werden.

      Selbstverständlich helfe ich beim Aufbau des Zeltes mit, und was besonders schön ist, ich darf auch, weil Herbstferien sind, im Lautsprecherwagen mit über Land fahren und zu den Vorträgen einladen. Das geht über viele Jahre so.

      Mit von der Partie ist Horst Waffenschmidt, der später als Staatssekretär im Innenministerium für die Russlanddeutschen zuständig sein wird. Der fragt mich bei einer dieser Fahrten, wen ich denn lieber hätte, meine Mutti oder die Tante Ruth. Natürlich sage ich: „Die Tante Ruth“, und er meint, dass wolle er meiner Mutter erzählen. Diese Peinlichkeit will ich mir ersparen, und so berichte ich ihr selbst von dem Gespräch. Es hat meine Mutter überhaupt nicht berührt, sie meinte nur: „So, so.“

      1963 werde ich diesen Berufswunsch „begraben“, dann wird meine Mutter sagen, ich solle mit der Mittleren Reife die Schule verlassen und ich stimme ihr zu. Somit entfällt das Studium der Theologie mangels Abitur, und ich muss mir ein neues Berufsziel suchen.

       Die Hohegrete

      Das christliche Erholungsheim „Hohegrete“ spielt in unserer Familie eine besondere Rolle. Hatte die Unterprimanerin Anneliese Schäfer dem Assessor Günter Neumärker zunächst einen Korb gegeben, weil sie Theologie studieren wollte, so bestellte sie ihn in den Sommerferien 1937 auf die Hohegrete, um ihn dort ihren Eltern vorzustellen, was, wie man weiß, erfolgreich war. Und so feierten die Zwei hier ihre Verlobung.

      15 Jahre sind seither vergangen. Jetzt sind Osterferien, und heute fährt die Tante Ruth mit dem Georg und mir dort hin. Wir fahren mit dem Zug bis (kneifen) „AU“ und von dort mit der Taxe an unser Ziel. Georg und ich finden bequem auf dem Beifahrersitz Platz, denn ich bin noch sehr zart. Auf der Rückfahrt wird es merklich eng, ich habe erheblich zugenommen und kämpfe seit her mit meinem Übergewicht.

      Noch zwei Mal werden Hans-Georg und ich hier unsere Ferien mit der Tante Ruth verbringen.

       Die Mundorgel

      Mein Vater war mit dem Druckereibesitzer im Ort befreundet. So darf ich in der Druckerei Heise ein- und ausgehen, bekomme Papier geschenkt und kann bei der Arbeit zusehen. Stets bin ich freundlich geduldet. Der Chef trägt einen weißen Kittel und sein Sohn Hans einen "Blaumann".

      1953 fällt mir in dieser Druckerei die erste Ausgabe der Mundorgel in die Hände - jenem kleinen Büchlein voller Fahrtenlieder - und natürlich bekomme ich ein Exemplar geschenkt.

      Ich zeige es einem Schulfreund, und der fragt mich, ob ich ihm meine Mundorgel verkaufen würde. Ich weise auf den gedruckten Preis von 50 Pfennig hin, und er gibt mir 20 Pfennig dafür. Irgendwie ist mir dabei aber unwohl. Ich hatte die Mundorgel ja geschenkt bekommen und bin mir sicher, dass ich auch eine weitere geschenkt bekomme. Darf ich da einen Gewinn machen? Nein, das darf ich nicht! Das ist unanständig. So gebe ich meinem Kumpel seine 20 Pfennig zurück.

      Selbstverständlich eile ich sofort in die Druckerei, um mir ein neues Exemplar zu holen. Aber was ist das? Die gewohnte Freundlichkeit ist verschwunden. Vater und Sohn sind sehr ungehalten darüber, dass ich Dinge verschenke, mit denen sie ihr Geld verdienen. Aber natürlich bekomme ich eine neue Mundorgel geschenkt, und der Ärger ist schnell vergessen. Später wird einmal ein Chef von mir sagen: "Jede Gefälligkeit rächt sich."

      Fünfzig Jahre später wird es die Mundorgel immer noch geben. Nicht nur im Miniformat für die Brusttasche des Fahrtenhemdes, sondern auch gebunden in Postkartengröße mit Noten und Gitarrenakkorden. An Hans Heise, inzwischen über 70 Jahre alt, schicke ich eine E-Mail, in der ich diese Geschichte erzähle. Wenig später ruft er zurück und erzählt mir, wie er an diesen schönen Auftrag, die Mundorgel zu drucken, gekommen ist.

       Die Schule geht weiter

      Die ganze Schulzeit über ändert sich nichts an meinen Leistungen. Zu allem Überfluss schreiben wir bald täglich ein Diktat, und da mache ich auf meiner Schiefertafel locker 36 Rechtschreibfehler. Zum Glück sitze ich neben Paul-Erhardt, denn der ist der Beste in der Klasse und lässt mich oft abschreiben. Aber, wie das unter Kindern so üblich ist, eines Tages haben wir uns fürchterlich zerstritten. Paul-Erhardts Schwester Gerda kommt in die Schule und fordert, dass wir auseinander gesetzt werden. Da war´s vorbei mit dem Abschreiben. Natürlich muss ich, weil ich ein schlechter Schüler bin, den Platz wechseln, und komme auch nicht auf meinen Stammplatz zurück, nachdem wir uns wieder vertragen haben.

      Ich bin Legastheniker, aber das weiß noch niemand. Später wird man wissen, dass sich Legastheniker in der Schule gewaltig anstrengen müssen, und das tue ich auch. Leider sind die Ergebnisse nicht entsprechend. Manchmal wache


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