Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze

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Nachtmahre - Christian Friedrich Schultze


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um den Polarstern herum gewandert.

      Über dem Pass zum Sonneberg hin, genau an der Stelle, wo nach wochenlangem Biwakieren in den Wäldern 1968 die russischen Panzer, Lastkraftwagen und motorisierten Schützen der miteinander auf EWIG verbündeten Volksarmeen in die Tschechoslowakei einbrachen, um den von Millionen Menschen mit Hoffnung begrüßten Prager Frühling niederzuwalzen, war die schmale Sichel des Mondes hervorgetreten. Dieser Naturvorgang fand statt, mit Zuverlässigkeit, nach wie vor.

      Wir schwiegen. Für heute schien alles gesagt. Unser Gespräch hatte ein gutes, wenn auch offenes Ende gefunden. Es hatte Antworten gegeben und weitere Fragen. Nichts war endgültig, nichts stand fest. Besonders heutzutage...

      Und wer da behauptete, Unwiderrufliches über Fragen wie Liebe, Leben, Tod, Macht, Glück, Leid, Raum, Zeit oder Ewigkeit zu wissen, war entweder ein Dummkopf oder ein Verführer. Das hatten wir bereits vorher gewusst.

      2.

      Es ist schwer, einen neuen Blickwinkel für sich selbst zu finden, selbst wenn man es wirklich will. An dem, was du dir im Verlaufe deines Lebens mühsam an Wissen und Erfahrung erworben hast, hängst du eben und lässt es nicht gern in Frage stellen, selbst wenn es sich herausgestellt hat, dass es falsch ist und du es im Grunde auch bereits weißt Die Macht der Gewohnheit ist so stark. Und es kann manchmal geradezu tödlich sein zuzugeben, dass man sich für einen Irrtum geopfert hat.

      Mir war also klar geworden, dass es nicht allein die philosophischen oder gesellschaftlichen Fragestellungen waren, die mich zu einem Entschluss drängten. Oder die persönlichen Probleme, in die ich mich manövriert hatte.

      Es lag in mir, da hatte Thomas völlig recht. Nur, dies zu wissen, brachte mich auch nicht recht weiter. Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, dachte ich an jenem Abend resigniert. Irgendwoher würde vielleicht ein Anstoß kommen.

      Sicher gewöhnt man sich dran, dass einen ihre LEHRE auf Schritt und Tritt verfolgt, einen täglich aus Rundfunk, Fernsehen und Presse anspringt. Eigentlich müssten nach fünfunddreißig Jahren Einerlei alle gleichmäßig ausgerichtet sein, müsste jeder nach diesem Glauben problemlos leben können. Denn nun ist klar, dass es sich bei den uns verwirrenden Erscheinungen nicht um antagonistische Widersprüche handelt. Unsere Dialektik erlaubt es uns sogar, die überall wie Pilze emporschießenden Übel als für die Entwicklung notwendige Widersprüche zu kennzeichnen.

      Aber merkwürdig, das Volk verschließt sich mehr und mehr. Es ist nicht wahr, dass man die Masse ideologisch manipulieren kann, wenn sie für die neue LEHRE nicht offen ist. Wenn nicht geglaubt wird, entsteht keine Woge. Im Gegenteil, irgendwann verkehrt sich plötzlich alles.

      Es setzt sich zusammen aus einem Mosaik von tausenden Kleinigkeiten, die so vielschichtig und verflochten wirken, dass man daran zweifeln muss, jemals beschreiben zu können, wie diese schizophrene Doppelbödigkeit überhaupt entstand, auf der unser heutiges Leben gründet und was uns trotz dieses ständig wachsenden Gegensatzes zwischen Sein und Schein vor dem Zusammenbruch bewahrt.

      Nur wer drin ist, weiß es. Nur wer drin war, kann endgültig desillusioniert sein. Nur wer wirklich dafür begeistert war, kann das Vakuum ermessen, das folgte, nachdem der schöne und humane Traum des Sozialismus von Leuten vom Schlage Stalins getötet und von der resignierten Gemeinde der ehemaligen Kämpfer zu Grabe getragen wurde.

      Und dabei sah anfangs tatsächlich alles so gut aus, so, als sei die Zeit endlich reif.

      Die Welt ist doch wirklich nicht mehr dieselbe, seit die Bombe auf Hiroshima fiel. Und darüber hinaus sind in der Zeit unseres kurzen Lebens über die Hälfte aller bisherigen Erfindungen der Menschheit gemacht worden. Der Mensch setzte seinen Fuß auf einen anderen Himmelskörper und war dadurch doch immerhin in der Lage, die Einmaligkeit seines blauen Planeten zu erkennen. Und da sollten die sozialistischen Vordenker nicht recht gehabt haben?

      3.

      Ich empfand ein großes Erstaunen in mir, als ich plötzlich, so kurze Zeit nach unserem ergiebigen abendlichen Frühlingsspaziergang, jenes eigenartige Gefühl verspürte, dass etwas mit mir nicht in Ordnung sei.

      Wir waren gleich auf unsere Zimmer gegangen, als ich, kaum im Bett liegend, fühlte, wie nacheinander einzelne Gliedmaßen und bald auch mein ganzer Korpus abzusterben begannen. Zuerst war es nur so ein Kribbeln, bald darauf aber war mir, als trockneten mir unaufhaltsam Haut und Fleisch ein, so dass sie gewissermaßen an den Knochen klebend zusammenschrumpften.

      Auf welche Weise ich ins Krankenhaus gelangt war, entzog sich meiner Kenntnis. Wahrscheinlich hatte ich bereits im Hotel das Bewusstsein verloren. Noch im Auto, das einer neuzeitlichen GRÜNEN MINNA beunruhigend ähnelte, hatte ich es jedoch kurz vorm Erreichen der Auffahrt zum Eingang des Hauptgebäudes wiedererlangt.

      Zum Entsetzen des Fahrers wie des mich begleitenden Pflegers war ich, als man die hintere Tür des Wagens geöffnet hatte, von der Trage gesprungen und mit der Aktentasche in der Hand, in der sich, was mich überraschte, mein Frühstück vom Morgen befand, in das Hauptgebäude hinein, den langen gefliesten Korridor entlang und dann rechts die Treppen zur ersten Etage hoch in die innere Abteilung gelaufen.

      Seltsamerweise wusste ich genau, wohin ich wollte.

      Als ich die Pendeltür zur Station aufstieß, um mich im Schwesternzimmer zu melden, schienen alle außerordentlich überrascht und starrten mich einigermaßen fassungslos an. Offenbar sah ich selbst für das an Kummer und Elend gewöhnte Krankenhauspersonal ziemlich furchterregend aus. Meine Begleiter, die mir gefolgt waren, ohne mich jedoch einholen oder gar aufhalten zu können, standen jetzt abwartend und zögernd hinter mir in der Tür.

      Die diensthabende Stationsschwester schrie, etwas außer Kontrolle geratend, eine kleine schwarzhaarige Praktikantin, die ich von irgendwoher kannte, und den Fahrer des Gefängniswagens gleichzeitig an:

      „Menschenskinder, das ist doch der Magenbluter, den können sie doch nicht so alleine hier raufkommen lassen! Schwester Rosi, holen sie um Gotteswillen ganz schnell Doktor Deutscher her! Ich hab` keine Ahnung, was ich im Augenblick machen soll!“

      Ich stand wie angewurzelt in der Tür. Ich empfand weder Schmerzen noch sonst irgend etwas und war über die entstandene Aufregung ein bisschen verwundert. Allmählich allerdings überkam mich eine eigentümliche Taubheit, die zuerst den Kopf, dann aber den gesamten Körper erfasste. Auch bemerkte ich, dass weitere merkwürdige Veränderungen mit mir vorgingen. Mir dämmerte, dass jetzt wohl das Furchtbarste kam, was ich je in meinem Leben erfahren hatte. Dabei war ich aber völlig ruhig. Mir fiel nur auf, dass sich die Menschen um mich herum plötzlich in Zeitlupe bewegten und alle Geräusche kurzzeitig wie weggeschaltet waren. Dann begann es.

      Zunächst rollte und schrumpelte mir die Haut vom Fleisch. Das ging ganz schnell, als ob ein Flammenwerfer an mir arbeitete. Danach schmolz mir in der gleichen Weise das Fleisch von den Knochen. Während dieses für mich völlig schmerzlosen Vorgangs, der am ganzen Körper gleichzeitig stattfand, konstatierte ich voller Kummer, dass draußen vor dem Fenster der Wind die welken Blätter von einem Haselnussstrauch trieb.

      Es ist Herbst geworden, dachte ich und fühlte mich mit einem Mal sehr müde.

      Unterdessen beobachteten Schwestern und Pfleger mit Grauen, aber tatenlos, die Veränderungen, die an mir stattfanden. Nun begannen sich auch Gesichtshaut, Gesichtsfleisch und Haupthaar stückchenweise vom Schädelknochen zu lösen und zu Boden zu bröckeln. Gleichzeitig bildete sich mein Zahnfleisch rapide zurück. Nacheinander lösten sich die Zähne und füllten Stück um Stück meine Mundhöhle.

      Strahlung, dachte ich. Das ist Neutronenstrahlung!

      Ich wollte kämpfen. Wofür? Wogegen? Meine Füße klebten am Boden fest.

      Um das eklige Gefühl der ausfallenden Zähne im Mund loszuwerden, beschloss ich, sie umgehend auszuspucken. In der linken Hand hielt ich immer noch die Aktentasche mit meinem Frühstück, welches ich nun ganz umsonst mitgenommen hatte. Also hob ich den rechten Arm, um die Handfläche unter den Mund zu halten und die Zähne da hineinzuspeien.

      Was


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