Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze

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Nachtmahre - Christian Friedrich Schultze


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Bewusstsein der Leute und um ihre Zuverlässigkeit. Aber begreif‘ doch! Es macht mich fertig, in der Strömung mitzuschwimmen. Es kotzt mich zur Zeit alles an, da kann ich hernehmen, was ich will. Mich selbst eingeschlossen.

      Man sieht einfach nicht mehr, wofür man sich guten Gewissens engagieren soll. Das braucht man aber, wenn man moralisch nicht vor die Hunde gehen will.

      Damals, in der FDJ, da waren wir begeistert, nicht von allem, aber doch vom Grundsatz her. Irgendwie dabei sein, wenn wir aus dem Dreck des Zusammenbruchs steigen. Dem blödsinnigen Krieg der Väter eine vernünftige Antwort geben. Einen Sozialismus aufbauen, in dem nicht mehr eine Handvoll Leute von der Arbeit aller anderen lebt. Dafür war ich vor allem, als ich in die Partei eintrat. Dafür war ich sogar noch, als ich schon merkte, dass da bereits wieder andere Typen am Werk waren, denen es mitnichten um das Wohl des Volkes, das sie ununterbrochen im Munde führten, sondern einzig um ihr eigenes ging.

      Vielleicht war in einem gewissen Masse auch mein alter Herr schuld, der für mich immer einen lebenden Widerspruch darstellte im Hinblick darauf, was er wollte und was er konnte. Verglichen mit dem, was auf diesem Gebiet heute geschieht, war er allerdings in armseliger Waisenknabe.

      Ich will jedenfalls, dass es allen gutgeht, dass alle sich frei fühlen können und besonders, dass niemand jemals mehr ein Gewehr in die Hand zu nehmen braucht, um damit einen anderen zu töten.

      Doch wo stehen wir heute?

      Was ist aus dem Land, den Menschen, den guten Idealen geworden? Was ist in Ungarn, der Tschechoslowakei und nun zuletzt in Polen wirklich geschehen?

      Und was ist mit mir?

      Heute muss ich bekennen, dass ich der falschen Revolution nachrannte, dass ich in einer falschen Partei bin und leider auch die falsche Frau hatte. Allmählich habe ich sogar das Gefühl, dass ich auf dem falschen Breitenkreis sitze: Dauernd regnet es hier, der Himmel ist meistens grau, und sieben Monate im Jahr ist es zu kalt.“

      Thomas lächelte.

      „Heute war der Himmel blau. Und du bist lediglich mit den Nerven herunter, deshalb siehst du alles so schwarz. Weshalb ärgerst du dich über vergangene Fehler? Jeder macht die seinen, das ist doch nichts Neues. Du musst das wollen, was du auch kannst, das Einfache, Naheliegende. Schon das ist ja beinahe unmöglich. Aber das Unmögliche ist durch uns einfach nicht zu machen. Das muss man mal einsehen.“

      „Ich bin eher der Meinung, dass man gerade das Unmögliche wollen muss, sonst geht es mit der Welt nicht vorwärts. Im Grunde deines Herzens meinst du doch auch, dass man ein bisschen mehr machen muss, als man zu können glaubt.“

      „Deshalb muss man nicht unbedingt aus dem Rahmen fallen wollen, finde ich. Der Mensch ist nun mal unvollkommen.“

      „Deine Theorie, dass wir nur dazu da sind, das Gesetz zu erfüllen, kenne ich bereits“, erwiderte ich.

      „Das ist nicht meine Theorie. Wieso glaubt ihr Marxisten oder was ihr seid, dass eine Revolution so etwas Überwältigendes ist, nur weil sie ab und zu auch die menschliche Gesellschaft erfasst? Wie kommt ihr bloß auf die Idee zu glauben, dass die russische die wichtigste und letzte gewesen sei? Warum vertraut ihr Marx und Einstein in Wirklichkeit gar nicht, die die unumstössliche Dialektik zwischen Evolution und Revolution so genial nachgewiesen haben?

      So Gott will, werden noch hunderte Revolutionen in der Geschichte der Menschheit stattfinden. Du könntest sogar froh darüber sein, dass du dich einer verschrieben hattest. Für mich gibt es überhaupt keinen Grund zur Aufregung, nur weil die vorläufig letzte erst einmal zu Ende gegangen ist, auch wenn in ihrem Ergebnis freilich nicht allzuviel Neues herausgekommen ist. Jedenfalls nicht, was den Sinn des Menschseins anbelangt.“

      Wenn ich nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass er alles, was er sagte, völlig ernst meinte, hätte ich glauben können, dass er der allergrößte Zyniker sei.

      Ich sagte: „Demzufolge wird es also ewig so weitergehen? Für alle Zeiten soll es Ungerechtigkeit, Dummheit und Grausamkeit geben, und uns wird es niemals gelingen, eine positive Wende herbeizuführen?

      Wieso lässt Gott so etwas zu? Wieso tut er nichts zur Schaffung des Paradieses? Warum machte er ein Entwicklungsgesetz mit solch hohen Kosten wie Krieg, Revolution, Hunger, Krebs? So kann er doch der Freund des von ihm zu seinem Ebenbild geschaffenen Menschen nicht sein!“

      „Also, eigentlich hat er uns beauftragt, unsere Sache vernünftig zu machen. Aber er muss wohl schon geahnt haben, dass wir so sein wollten wie er. Zumindest hinsichtlich der Allmacht-Frage, der moralischen eher nicht.

      Da wir`s aber anscheinend doch nicht so perfekt können, machen wir`s jetzt so: Geht es uns gut, ist das selbstverständlich unser Verdienst, geht es schlecht, ist ER schuld. Aber es kommt anders, mein Freund. Er wird schon nochmal eingreifen. Ich glaube jedenfalls daran. Zunächst sind wir der Schlange auf den Leim gegangen, leider. Dennoch werden wir aus dem Feuersturm, den wir selbst entfachen werden, gerettet. Du solltest mal den Propheten Daniel und die Offenbarung lesen!“

      „Ich glaube an keine Propheten.“

      „Jeder glaubt an Propheten. Die einen an Christus oder Mohammed, die andern an Lenin.“

      „Wer sagt dir, dass deine besser sind?“

      „Mein Gefühl und die Bibel. Weil da geschrieben steht: ´...an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen...´“

      „Deine Selbstsicherheit geht mir auf die Nerven. außerdem ist es ja so, dass wir Heutigen den Marx verfälscht haben.“

      „Oh ja, es gibt auch sehr integere Marxisten, wie du mir bereits mehrfach bewiesen hast. Und auch heute ist es noch schwer für sie, ihren falschen Glauben aufzugeben, obwohl alle Praxis gegen die Theorie spricht. Fällt dir denn immer noch nicht auf, dass es bei aller Vorgabe, die Welt endlich verändern zu wollen, in Wahrheit Fatalismus ist, wenn man bekennt, dass alles, auch des Menschen Wille, objektiven Gesetzen untergeordnet ist und der Mensch selbst nichts weiter als die höchste Organisationsform der Materie? Diese Entpersonifizierung der Welt macht dich endgültig zum Sklaven. Sie degradiert dich zum unwichtigen Rädchen im historischen Getriebe.

      Nichts von der Freiheit des Menschen, sich so oder so zu entscheiden. Nichts von seiner Verantwortung gegenüber dem Prinzip des Guten. Niemand leugnet, dass es für die Entwicklung der Menschheit Gesetzmäßigkeiten gibt. Doch zeigt sich nicht bereits jetzt schon ganz deutlich, dass die ökonomischen Triebkräfte am Ende eben nicht ausschlaggebend für das Handeln der Menschen sind? Ich leugne nämlich ganz entschieden, dass es die Arbeit war, die den Affen zum Menschen gemacht hat. Warum sollte der Affe wohl anfangen zu arbeiten? Hatte er nicht genug von allem? Weshalb sollte er mehr produzieren wollen, als er wirklich für sich benötigte?

      Alle sind so hingerissen von der Logik des Gebäudes, dass gar niemand merkt, dass gleich am Anfang etwas nicht stimmt. Erst heute, da die Arbeit den Menschen allmählich immer mehr zum Affen macht, beginnen endlich einige nachzudenken. Nein, mein Lieber, mein Bild ist anders. Der Mensch war von Beginn an Mensch. Als Ergebnis eines revolutionären Schöpferaktes.“

      Ich wunderte mich etwas über seinen plötzlichen Ausbruch, und ich schwieg vorsichtshalber erst einmal. Wir waren auf dem kahlen Plateau des Gipfels angekommen. Wir stellten uns auf das Dach der Schutzhütte, die anstelle des schon vor dem Krieg abgebrannten Gasthauses an den Felsen herangebaut wurde. Der Fernsehumsetzer ragte schwarz und drohend gegen den nun bereits nächtlichen Himmel, wie ein Symbol dafür, dass es außer uns beiden und meinen Problemen noch eine Menge anderes zwischen Himmel und Erde gab, dessen Existenz zwar gegenwärtig, aber ohne diese in die Natur hinein greifende Technik nicht wahrnehmbar wurde.

      Wir ließen uns von dem unübersehbaren klaren Sternengefunkel überwältigen. Hätten wir etwas mehr Kenntnis über astronomische Dinge besessen, so würden wir sicher nach der einmaligen Konstellation der Planeten unseres Sonnensystems rund um die Venus gesucht haben, wie es sie dieser Tage gab und wie sie nur alle hundert Jahre vorkommen soll. So aber schauten wir unwissend hinein in die dunkelblaue Unendlichkeit, durch die sich die Milchstraße von Nord nach Süd zog, und es überkam mich ein Gefühl von Ewigkeit,


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