Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze
Читать онлайн книгу.musste, in meinem wie im Interesse der übrigen Gesellschaft, was damals für mich noch ungefähr dasselbe war.
Eines Tages sprang ich also solange auf den Schienen vor der anrollenden Bahn hin und her, bis sie wirklich stoppte. Die Aufregung unter den Passagieren war groß. Trotzdem wurde es leider nur ein halber Erfolg, da der Straßenbahnführer, der ausgestiegen war und mich eingefangen hatte, mir kurzerhand den Hintern versohlte und mich meiner inzwischen herbeigeeilten Mutter übergab.
Die Bahn fuhr weiter, bis 1962, dann wurde ihr Verkehr eingestellt und durch Kraftomnibusse ersetzt, was mehr Umweltbelastung bedeutete. So kämpft man oft gegen ein kleines Übel, um sich am Ende ein größeres dafür einzuhandeln.
Noch etwas anderes störte mich an meiner damaligen Umwelt. Es war das unweit von unserem Haus gelegene, wohlerhaltene Kriegerdenkmal des Ersten Weltkrieges. Dass es im dritten Jahres des Bestehens der neuen Deutschen Demokratischen Republik ungestört weiterexistierte, war fraglos ein Anachronismus. Woher ich diese Empfindung bezog, ist mir auch heute noch unklar. Leider überkommen mich auch jetzt manchmal derart seltsame Gefühle, wenn ich sehe, wer mit Orden und Würden dekoriert und für wen Denkmäler errichtet werden.
Damals war mir das Heldenmal anscheinend zuwider, weil es mich in zu eindringlicher Weise daran erinnerte, dass Krieg für Männer, Frauen und Kinder, ganz besonders aber für Väter, eine schreckliche Sache war.
Außerdem verkraftete ich wohl die ständigen Widersprüche nicht, in die sich mein erst zart entwickeltes Heldenverständnis verstrickte.
Auf den Gedenksteinen für die Jahre 14 bis 18 waren die deutschen Männer noch Helden. So stand es für Kundige zu lesen. Unsere Väter waren anfangs auch welche gewesen, dann aber, ab 1945, keine mehr. Wahrscheinlich mussten Helden auch gewinnen, um welche sein zu können. Denn die Sieger besaßen davon viele, wie wir später lernten.
Ich beschloss, das Bauwerk zu schleifen. Weit kam ich aber leider nicht. Ich transportierte gerade die dritte Fuhre abgebauter Pflastersteine in meinem sehr leistungsfähigen Holzspielauto ab, als ein neubestallter Ordnungshüter mein zukunftserhellendes Tun abrupt unterbrach, um mich sodann meinen Eltern und einem siebentägigen Stubenarrest zu übergeben. Mein Vater war im Grunde seines Herzens ein Krieger. Und obwohl zu Beginn der neuen Epoche jedes Mannes Hand abfaulen sollte, der je wieder ein Gewehr in die Hand nahm, stimmte er in der Heldenfrage mehr mit dem Ordnungshüter überein. So absolvierte ich meine erste Haftstrafe.
Heutzutage dominieren allerorten wieder die Krieger. Pazifisten sind wahrscheinlich keine richtigen Männer. Und heute steht übrigens noch mehr drauf, idiotische Denkmäler zu stürzen.
Natürlich wirst du einwenden, dass das alles kindlich-kindische Instinkthandlungen waren und ich noch gar keine pazifistischen Überzeugungen haben konnte.
Sicher, es wirkt immer etwas kindisch, gegen Windmühlen zu kämpfen. Das Leben zeigt jedoch, dass es manchmal darauf ankommt, gefühlsmäßig zur richtigen Zeit das Richtige zu tun. Erst hinterher liefern wir eine verstandesmäßige Erklärung, die oft wie eine Entschuldigung anmutet.
Viel Zeit hast du meistens nicht, wenn du handeln sollst. Aber wieviel unnötige Zeit wird verschwendet, um zu begründen, wie notwendig es war, das Falsche oder nichts zu tun. Und wieviel zu beweisen, dass das Richtige nicht in unsere vorgefasste Meinung passt.
Sind wir wirklich weiter als die Kinder?
Meinen Versuchen, bereits frühzeitig den rechten Weg zu finden, wurde also zunächst ein Riegel vorgeschoben. Nicht zuletzt dadurch, dass im Herbst des Jahres 1952 meine sozialistischer Bildungsweg begann.
Anfangs der fünfziger Jahre wussten nur ganz wenige Leute, was dies bedeutete. Meine Eltern, ein Teil meiner Lehrer und natürlich ich wussten es noch nicht so recht...
4. Kapitel
Ich klingelte dem Kellner, um ihm das Tablett mit den Resten des Frühstücks übergeben zu können. Es dauerte nicht lange, bis er erschien.
Ich gab ihm ein mittleres Trinkgeld, worauf er mich etwas verdutzt ansah, sich aber dann eiligst bedankte und auf meine entsprechende Geste verschwand. Von einem DDR-Menschen hatte er das offensichtlich nicht erwartet. Warum sollten wir wohl auch Trinkgelder verteilen und wovon? Seit Jahren zog man uns unsere Brüder und Schwestern aus dem krisengeschüttelten kapitalistischen Deutschland mit der harten Mark vor und ließ uns manchmal förmlich stehen, wenn wir auf die Frage „DDR oder deutsch“ wahrheitsgemäß antworteten.
Uns Dienstreisenden ging es dabei noch verhältnismäßig gut. Wir wurden vorwiegend von unseren Partnerbetrieben betreut und brauchten selbst kein Geld oder aber viel weniger für Übernachtung, Verpflegung und kulturelle Genüsse auszugeben. Als Tourist musst du es heute einmal im verbündeten Ausland versuchen!
Da kannst du ausprobieren, wie du mit hundertfünfzig Forint pro Tag ein Zimmer für hundertachtzig Forint bezahlst, dich gleichzeitig ernährst und die Kosten für die öffentlichen Verkehrsmittel begleichst.
Ausnahmen bildeten die Polen und die Sowjetfreunde. Bis 1980 hat ihre sprichwörtliche östliche Gastfreundschaft uns gegenüber gehalten. Inzwischen ist auch das Vergangenheit. Der sozialistische Mensch hat es nun noch schwerer zueinander zu kommen.
Ich zog mich an, schaffte etwas Ordnung und schloss alles so gut es ging weg. Als ich das Hotel verließ, war es bereits nach zehn. Ein warmer, blauer Augusttag wallte mir entgegen. Im Hotel war es angenehm kühl gewesen. Anscheinend betrieb man da wirklich eine Klimaanlage. Trotz Energiekrise. Überhaupt erschien es mir, dass die Ungarn die einzigen im „Sozialistischen Lager“ waren, denen es gelang, die weltweite Rezession einigermaßen abzufangen. War das überhaupt noch Sozialismus, was die mit ihren Kommanditgesellschaften machten? Oder war es so ERST Sozialismus?
Anfangs blendete mich die Sonne. Es war noch Zeit. Ich beschloss, einen gemächlichen Spaziergang über den Burgberg zu machen, um meinen übernächtigten Kopf ein wenig auszulüften. Wenn es mir zuviel werden sollte, konnte ich immer noch einen Bus oder ein Taxi nehmen.
An der Zahnradbahn stauten sich bereits zahlreiche Menschen, die zum Volkspark hinauf oder wer weiß wohin wollten. Es war allerhand Betrieb, ein buntes Treiben.
Ich überquerte die Szilágyi Erzsébet fasor, um in den Varosmajor-Park zu gelangen, einem hübschen kleinen grünen Flecken nahe beim Hotel, den ich in Richtung Attila út durchschlenderte.
Von der Ecke an der Vermezö-Straße konnte ich gemütlich den Burgberg zur Fischerbastei emporsteigen, um dort irgendwo in aller Ruhe noch einen Kaffee zu trinken.
Auf dem Plateau angekommen, wandte ich mich der Fischerbastei zu, wo ich in der oberen Etage des Türmchens direkt hinter der Matthiaskirche ein kleines Café wusste.
Kaffeetrinken in Budapest macht Spass!
Erstens braut man hier die unterschiedlichsten Sorten dieses Türkentrankes und zweitens lassen sie dich mit einer Tasse Mokka und einem Glas Wasser, wenn du willst, stundenlang in ungestörter Ruhe, um dann aber auf Augenaufschlag umgehend zu erscheinen und deine Wünsche zu erfüllen. Alles, trotz der für uns DDR-Deutsche ungewohnten Zuvorkommenheit und Promptheit der Bedienung, ruhig und gelassen.
Drittens gibt es noch tausenderlei Gebäck, Törtchen, Küchelchen, Häppchen, Sticks, Eisbömbchen, Halbgefrorenes, Sahnequäntchen, Geschnetzeltes, so dass einem vor Trauer darüber, dass man trotz verantwortungslosester Sündhaftigkeit beim besten Willen niemals alles ausprobieren kann, schier das Herz brechen möchte.
Ich hatte mich so günstig wie möglich hingesetzt, so dass ich in der einen Richtung über die Donau hinweg Richtung Pest schauen, in der anderen, halbrechten, aber auch das unruhige Treiben der Touristen beobachten konnte, die Bus für Bus auf dem Burgberg eintrafen, um sich durch die Matthiaskirche mit ihren unzähligen Sehenswürdigkeiten und anschließend meist noch zu einem begrenzten Streifzug durch das weitläufige Burggelände treiben zu lassen.
Schräg gegenüber, am anderen, dem Pester Ufer der Donau, lag das altehrwürdige Parlamentsgebäude, etwas weiter flussabwärts das älteste