Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze
Читать онлайн книгу.hatte. Der andere war 1941 in Frankreich geblieben. Statt dessen lebte er, der gelernte Jurist, der nicht nationalsozialistisch genug war, um noch eine entsprechende Anstellung zu bekommen, bei einer kleinen Textilarbeiterin in Glauchau, die ihn während dieser Zeit ernährte, weil sie ihn liebte und Männer sowieso knapp waren.
Er besuchte uns regelmäßig, beschäftigte sich auch mit mir, blieb mir aber trotzdem immer etwas unheimlich wegen seiner Armprothese und weil er sehr wenig sprach.
Er kam, fragte höflich, wie es uns gehe, saß bis zum Dunkelwerden auf der Eckbank in der Küche, trank seine Tasse Muckefuck und verschwand nach kurzem Gruß am Abend mit der letzten Bahn.
So wurde ich ohne wesentliche Zwischenfälle fünf Jahre alt. Ich war ein Einzelkind und lebte in enger Harmonie mit meiner Mutter. Mittlerweile hatten wir auch amerikanische Margarine, amerikanisches Milchpulver, amerikanische Konserven und das Wort CARE kennengelernt. Eine weitere lukullische Erfahrung waren die ersten selbstgeräucherten Heringe. Brot gab es auf Marken schon etwas reichlicher, so dass mich Mutter im Verzehr meines damaligen Lieblingsgerichtes, Schwarzbrotscheiben mit aufgeträufelter Maggiwürze, nicht mehr zu bremsen brauchte.
Eines Morgens, am Samstag vor dem ersten Advent 1950, wurde ich durch einen Schrei geweckt. Es war meine Mutter unten auf der Treppe. Sie schrie so, wie ich später nur noch Frauen im Orgasmus schreien gehört habe, so bejahend, zum Empfangen bereit, dem Ursprung nahe. Das Telegramm, welches die Rückkehr meines Vaters aus der russischen Gefangenschaft ankündigte, war aus Frankfurt an der Oder eingetroffen.
Ich fand meine Mutter auf der untersten Stufe der Treppe sitzend, das Papier in den zitternden Händen, den Kopf darüber gebeugt. Ich lief zu ihr. Dieser Schrei hatte etwas in mir getroffen, so, als hätte ich ihn schon einmal gehört, als könne ich mich erinnern und begreifen. Ich weinte längere Zeit zusammen mit ihr in ihren Armen, ohne zu wissen was geschehen war. Wir weinten in der vollkommenen Solidarität, die keiner Worte bedarf, die nicht mit Argumenten und Gründen nach ihrem Standpunkt suchen muss, sondern die weiß und einfach von innen her da ist.
Am folgenden Abend des ersten Adventssonntags fuhren meine Mutter und ich, begleitet von Doktor Krause und Onkel Jo, nach Hohenstein-Ernstthal, um Vater abzuholen, der nun aus Russland zurückkehrte, wie mir Mutter erklärt hatte. Mir war beileibe nicht klar, welche Bedeutung ich in den Begriff Vater legen sollte.
Es kamen viele Heimkehrer aus unserer Gegend mit jenem Zug an. Im dichten Menschengewühl sah ich auf einmal, wie sich meine Mutter an einen unappetitlichen, dicken alten Mann mit grauen Bartstoppeln und graugrüner, abgerissener Wattejacke klammerte und ihn heftig drückte und küsste. Nachdem dies vorüber war, kamen beide auf uns zu und Mutter deutete mit einem verklärten Gesichtsausdruck auf mich. Was sie dabei sagte, konnte ich nicht hören.
Daraufhin blieb der Mann genau vor mir stehen, hob mich zu meinem Schrecken plötzlich empor, so dass mein Gesicht ganz nah vor seins kam und ich Tränen in seinen Augen erkennen konnte, die ihm dann einzeln die Wangen herunterliefen. Und dann küsste er mich, sagte „mein Junge“ und roch dabei nach Tabak und Schweiß, und die Stoppeln stachen mich, so dass in mir ein Widerwille entstand und ich das Bedürfnis bekam, den Kuss schnell von meinen Lippen zu wischen, was ich dann, als er mich nach einer Weile wieder auf den Boden zurückgestellt hatte, auch sofort tat.
Es schien nichts Gutes zu bedeuten, wenn man einen Vater bekam.
3.
Im Herbst 1951 wurde meine Schwester Beate geboren. Alle freuten sich darüber, nur ich nicht.
Vater und Mutter liebten sich in jener Zeit sehr. Aber dieser Mann, der plötzlich in mein kleines Leben getreten war, versuchte offensichtlich auch, Mutter und mich zu entzweien. Und sie schenkte ihm sogar noch ein Kind!
Karl Wauer hatte sich gebadet und rasiert. Anfangs passten ihm seine alten Anzüge nicht. Er benötigte fast ein Jahr, um das Wasser, welches wegen der langen einseitigen Ernährung in seinem Körper war, wieder loszuwerden. Dabei wurde er zusehends jünger. Er ging zurück zum Bergbau. Bald war er bei der WISMUT. Man benötigte erfahrene Leute, um das Uran des Erzgebirges für die Sieger aus der Erde zu holen. Seine in der Gefangenschaft erworbenen Russischkenntnisse kamen ihm dabei sehr zugute.
Seine Meinung über den Sowjetismus wurde allerdings trotzdem nicht besser.
Unser Lebensstandard dagegen besserte sich spürbar. Die Wismut wurde gesondert versorgt; wird sie heute noch. Auch mein Leben änderte sich. Das neue Baby war nun das Zentrum der Familie geworden. Auch dieses Kind hatte Mutter mit Hilfe von Doktor Krause und Frau Katzer zur Welt gebracht. Vater war im Bergarbeiterhaus dabei gewesen. Es war also eine ganz moderne Geburt. Nur ich wurde von diesem Ereignis ausgeschlossen. Von da an fühlte ich mich stets irgendwie ausgesperrt.
Und außerdem lagen zwischen mir und dem Mann viereinhalb Jahre Kriegsgefangenschaft. Das ist eine ganze Welt!
In den ersten Jahren nach seiner Rückkehr schrie Vater oft im Traum. Manchmal wurden wir munter davon. Vater schrie auf Russisch. Mutter hatte in solchen Fällen alle Hände voll zu tun, um uns wieder zu beruhigen und zum Einschlafen zu bringen. Vaters Stimme klang aber auch zu schrecklich, wenn er träumte.
Die Demokratie in unserer Familie, worunter ich meine Mitbestimmung verstand - oder war es meine Diktatur gewesen? - war nun dahin. Es herrschte der Mann. Vaters Wille geschah, und es stellte sich heraus, dass er jähzornig war. So lernte ich die Prügelstrafe kennen.
Die erste Dresche, die ich bekam, war auch die erste große Sensation meines Lebens für mich. Solch eine innere Aufregung hatte ich noch niemals erlebt. Bisher war alles in einem ruhigen Gleichmaß verlaufen. Fürderhin gab es Höhen und Tiefen. Bisher hatten mich alle geliebt, ich war der erklärte Liebling aller gewesen, Mutters, Onkel Jo´s und der Leute, denen ich präsentiert worden war. Dieser Mann liebte mich anscheinend nicht. Und um mir das zu zeigen, schlug er mich, wenn ich ihm seinen Willen nicht tat.
Ich erinnere mich, wie es das erste Mal geschah. Ich empfand es nicht als Strafe für irgend etwas Schlechtes, sondern ich dachte nur, dass er seine Wut an mir ausließe. Über dem Schrecken machte ich mir prompt in die Hosen. Vorn und hinten.
Dies war eine große Enttäuschung für meinen Vater. Ich war mit meinen fast sechs Jahren kein Junge, sondern ein elender Waschlappen, ein jämmerlicher, weibischer Weichling, der sich beim geringsten Schmerz in die Hose schiss. Pfui Teufel! Sowas wurde nie ein Mann!
Ich begann daran zu zweifeln, dass ein Vater eine notwendige Einrichtung sei. Ich bemühte mich, so selten wie möglich seinen Willen zu erfüllen. Meistens büßte ich dafür, obwohl sich meine Widerstandsmethoden mit der Zeit verfeinerten. Aber eines Tages würde es mir gelingen, irgendwann kam der Tag, an dem ich es ihm noch zeigen würde.
Unsere Auseinandersetzung dauerte ziemlich lange. Erst einige Jahre nach meiner Verheiratung begann ich darauf zu verzichten, ihm beweisen zu wollen, dass auch ich ein Mann sei. Vermutlich war ich da einer geworden.
4.
Aber zunächst dauerte meine Kindheit.
Es kam das Jahr 1952. Im Herbst sollte ich eingeschult werden, ein Jahr später als üblich. Für Kriegskinder war das möglich. Durch eine Anämie war es mir gelungen, meine Kindheit um ein Jahr zu verlängern. Man verabreichte mir Lebertran und rohe Leber, damit ich die notwendige Widerstandskraft für den sozialistischen Bildungsweg, der mir nun bevorstand, entwickelte. Im Hinblick auf das baldige Ereignis meines Schuleintritts und auf Grund des speziellen Verhältnisses zu meinem Vater, beschloss ich im Frühjahr jenes Jahres, durch außergewöhnliche, richtungsweisende Handlungen die Aufmerksamkeit der Menschheit auf mich zu lenken.
Es waren Taten, auf die ich heute mit einem gewissen Stolz zurückschaue, weil sie zeigen, dass ich bereits frühzeitig den richtigen Weg erkannt hatte, wenn auch mehr gefühlsmäßig. Im Gegensatz zu den letzten Jahrzehnten meines unbedeutenden Lebens versuchte ich damals aber noch, für meine Überzeugungen zu kämpfen.
Die Überland-Tram, eine alte, kreischende elektrische Straßenbahn, die von Hohenstein-Ernstthal nach