Am anderen Ende der Sehnsucht. Stefan G Rohr

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Am anderen Ende der Sehnsucht - Stefan G Rohr


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überschaubar dieses Städtchen sich darstellt. Geheimnisse haben hier nur eine sehr kurze Halbwertszeit. Und jeder, der einen kleinen Stadtbummel nach einem guten Mittagsmahl von Frau Theissen zur Förderung seiner Verdauung unternimmt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen Blick in die weniger belebten Gassen wagen. Und als ich dieses heute tat, sah ich einen jungen Herrn, beim Genuss eines sicher vorzüglichen Rieslings, in freundschaftlicher Geste mit einer jungen Dame, die ihm ganz unübersehbar die Röte ins Gesicht steigen ließ. Und Chapeau, junger Freund! Guten Geschmack kann man nicht lernen, er liegt einem im Blut.“

      Leon hatte erneut einen roten Kopf bekommen, diesmal jedoch war es allein die Scham, denn er fühlte sich ertappt und das vollkommen zu Unrecht. So überlegte er fast schon ein wenig krampfhaft, wie er nun zu antworten hätte, um den völlig falschen Eindruck zu korrigieren. Doch sollte er gar nicht mehr dazu kommen, denn mit einem Mal waren weitere Menschen getreten, die restlichen Gäste, für die die Tafel schließlich ja auch gedeckt war. Und so war es jetzt viel eher angebracht, dass sie sich gegenseitig alle vorstellten, soweit es zumindest Leon anging, denn er war der Einzige, der neu in der Runde zugegen war.

      Da war zunächst Johann Richter, ein reisender Vertreter eines großen Weinhandels, dessen hervorstechendsten Merkmale zunächst sein ungeheuer dicker Bauch, sodann seine glänzende Glatze waren. Untersetzt, die Hosen ein wenig zu kurz, hing sein Bauch ein gutes Stück über den Hosengürtel und folgte damit ganz unübersehbar den Kräften der Gravitation. Er war um die sechzig Jahre alt, sein Blick listig und seine Nasenspitze zeigte eine Rötung, die mit großer Sicherheit nicht auf die junge Maisonne zurück zu führen war. Einher ging mit der gegenseitigen Vorstellung für ihn als Verkaufsgetriebener das obligatorische Überreichen seiner Visitenkarte. Man konnte schließlich nie wissen, ob das Gegenüber nicht irgendwann einmal ein lukrativer Kunde werden könnte. ´Weinhaus und Großhandel Eduard Knittlich´ war auf dem Kärtchen mit goldener Prägung zu lesen, darunter der Hinweis `150 Jahre Tradition und Expertise´. Johann Richter war nach eigenem Bekunden nun für einige Tage vor Ort, um Geschäften nachzugehen.

      Der zweite Herr, dessen hagere Statue, gepaart mit einer ungewöhnlichen Größe, so ausgeprägt war, dass zu vermuten stand, seine Anzüge wären nur durch Maßarbeit zu erstehen, jeder der üblichen Herrenausstatter an ihm ein berufliches Waterloo erfahren müsste, hieß Hermann Göhring. Diesem Umstand war es denn wohl auch geschuldet, dass er bei seiner Vorstellung unmittelbar folgen ließ: „… mit `H´, Göhring mit `H´, bitte sehr.“ Und Leon schoss es sofort durch den Kopf, ihn sogleich fragen zu wollen, ob er es denn schon einmal überlegt haben würde, sich amtlich umtaufen zu lassen, denn es müsste schon eine Last bedeuten, mit diesem Namen durchs Leben zu laufen. Er verkniff es sich jedoch, und so vernahm er von Herrn Göhring, dass dieser für einige Tage in der Gegend sei, um Fledermäuse zu beobachten. In den schroffen Schieferfelsen der Region würden verschiedene und zudem auch seltene Populationen dieser Spezies leben, die er als Hobbyforscher und Privatgelehrter gerne beobachten wollte.

      Der dritte Gast war eine Dame, zudem von adligem Geschlecht. Sie bestand ganz offensichtlich auf die Anrede `Fräulein´, was angesichts ihres fortgeschrittenen Alters von etwa fünfundsechzig Jahren ein wenig grotesk anheimelte. Mächthild Freifrau von Remberg war ihr Name, wie gesagt, mit einem vorangestellt und deutlich betontem ´Fräulein´. Der Grund für ihr Zugegensein war ein Kindheitswunsch, wie sie es nannte. Sie buchte nun täglich verschiedentliche Schiffstouren mit der weißen Flotte, flussauf- und flussabwärts, mehrfach hin und her, mit immer neuen Ausstiegsstationen in den vielen kleinen Weinorten entlang des großen Flusses. Was in ihrer Kindheit schief gelaufen war, damit ein solches Unterfangen in die Traumwelt eines Kindes geraten konnte, behielt sie jedoch für sich, und niemand wird es wohl jemals ergründen. Die Frage nach einer Begleitung erübrigte sich bei ihr, und ohnehin erschien sie eher wortkarg und wenig kommunikativ. Sie saß vielmehr mit gefalteten Händen am Tisch und es wäre wohl niemand verwundert gewesen, wenn sie ein Gebet gesprochen hätte.

      Der noch freie Platz war natürlich für Frau Theissen selbst. Denn es war für sie eine Selbstverständlichkeit, die Produkte ihrer Kochkunst nicht nur selbst zu verzehren, sondern vor allem mit ihren Gästen gemeinsam zu dinieren. In der Rolle des servierenden Personals sah sie sich mitnichten. Als Dame des Hauses dagegen ganz sicher. Und dass es zu dieser Zeit, sowie schon längerer Zeit davor, keine Köchin und auch keinen Hausdiener mehr gab, hatte ihr Selbstverständnis in keiner Weise beeinträchtigt. Die Zeiten haben sich geändert. Das war aber auch alles.

      Das also waren nun die aktuellen Gäste und Mitbewohner von Leon. Neben der Dame des Hauses ein Professor, dessen fakultative Zuordnung Leon derzeit noch im Verborgenen lag, einem schnapsnasigen Reisenden in Sachen Wein, einem Fledermausforscher und einer alten Adelsjungfer mit wohlmöglich traumatisierter Kindheit. Erwartungen an ein lebendiges Abendprogramm konnte er somit wohl begraben, und selbst, als Frau Theissen einen ungemein süffigen Riesling offerierte, vermochte Leon nicht umhin zu kommen, sich insgeheim ein wenig zu ärgern, dass er Isabella nicht einfach gefragt haben würde, ob sie an diesem Abend doch mit ihm zum Essen gehen würde.

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