Asiatische Nächte. Hans J. Unsoeld
Читать онлайн книгу.das?“
Jetzt begann er, in ihr sehr mütterliche Züge zu sehen,- wie eine Mutter, die die Kinder ihres Landes verteidigte. Er hatte immer das Mütterliche der italienischen Frauen so gerne gemocht. Er mochte es auch gern, wenn sie ihm etwas beibrachte. Früher war das die italienische Sprache gewesen. Jetzt aber ging es um solche eher unangenehme Dinge. Doch er achtete sie deswegen, fast wie eine alte weise Frau. Er schloss die Augen, als ihm in den Sinn kam, dass in seinen Vorstellungen bei dieser scheinbar perfekten Traumfrau trotz ihrer unglaublichen Schönheit und ihrem zusätzlich vorhandenen scharfen Verstand hier etwas fehlte, was sie gehabt hatte, als er sie vor Jahren an einem Badesee im Umland seines deutschen Wohnortes kennen gelernt hatte. Ja, sie hatte sich dort als leichtlebiges kleines Luder gezeigt und keinen Hehl daraus gemacht, zwar nicht wie eine Prostituierte, aber doch auch nicht weit davon entfernt, Männer aufs Kreuz zu legen. Gleichzeitig hatte sie sich lebhaft für den Existentialismus interessiert. Wie ihm das gefallen hatte! Ja, eine richtige Traumfrau sollte schön, schlau und sehr sexuell sein,- eine Katze auf dem Catwalk, eine erleuchtete Lehrerin und eine Hetäre! Als er an dieses Wort dachte, erschrak er fast und fühlte den bösen Blick vieler ihm nahestehender Leute auf sich gerichtet, die darunter wohl vor allem einfach eine Nutte verstanden.
Das Ende dieser Episode lässt sich schnell erzählen. Er fühlte sich ganz gewiss nicht als ein Casanova. Am nächsten Tag kehrte er nach Deutschland zurück.
Nicht Barenboim
Als der Zug über den Brennerpass rollte, überlegte Igor schließlich, wo er denn eigentlich hinfahren wollte. Er hatte eine Fahrkarte nach München gelöst. Das war die Endstation dieses Kurswagens. Doch mehr und mehr machte sich in ihm das Gefühl breit, dass diese Stadt nicht mehr zu seinen Traumzielen gehörte. Zu viel Konsum, besonders von Bier. Für ihn hatte die Welt zur Zeit drei Himmelsrichtungen,- Süden, Osten und Westen. Der Norden, im dem er geboren und aufgewachsen war, fehlte auffällig. Er neigte dazu, diese Himmelsrichtung zu scheuen, hatte aber nur fragwürdige Argumente dafür. Zu kalt, zu windig und zu feucht. Als er auf die Bahngleise blickte, kam ihm noch in den Sinn: ein kulturelles Abstellgleis. Nein,- das durfte er nicht sagen! Er genierte sich bei diesem Gedanken.
Dann lachte er in sich hinein. Ja, in jeder “seiner” Himmelsrichtungen hatte er zwei Traumziele,- insgesamt sechs Städte. Und schon wieder musste er loslachen. Hatten diese etwas mit Sex zu tun? Im Süden waren das Aventurina und Spelunca. Aber dort schienen die Träume schon zu Ende zu sein. Im Osten, so wie er die Welt jetzt sah, waren es Berlin und Odessa. Den Westen vergaß er im Moment.
Warum nicht nach Berlin fahren? In die neu installierte Hauptstadt war etwa die Hälfte seiner Künstlerfreunde umgezogen. Politik und Kunst sind alte Feinde, aber sie brauchen sich auch gegenseitig, schrieben sie. Auch die neu erwachende Kunstszene in Odessa schien etwas mit der veränderten Politik zu tun haben. Warum also nicht seine jüdische Freundin Annabelle aus Odessa, die in Berlin lebte, besuchen?
Seine frühere Unterkunft in einem Hinterhof eines zunehmend von Türken bewohnten Stadtteiles erwies sich als leerstehend, so dass er dort für ein paar Wochen wohnen konnte,- kein Problem. Doch das erneute Zusammensein mit Annabelle erschien ihm problematischer denn je. Er mochte jüdische Frauen sehr gern. Schon vor vielen Jahren hatte er eine bildschöne und erzschlaue junge kleine jüdische Freundin gehabt und abgöttisch geliebt. Diese hatte mit ihm offensichtlich zwar nicht religiöse, aber dennoch erhebliche innere Schwierigkeiten. Ihre Mutter hatte das Konzentrationslager überlebt, was einen prägenden Einfluss auf ihre Kindheit gehabt haben muss. Nur wenige Jahre nach dem glanzvoll bestandenen Abitur siedelte sie eines Tages mehr oder weniger überraschend nach Israel über. Daran zurück zu denken machte ihn auch jetzt noch traurig, auch wenn er verstand, dass das ihrerseits eine wichtige Identitätssuche war.
Annabelle liebte ebenso wie jene frühere Freundin gutes Essen und ganz besonders Sahnekuchen und war ebenso wenig saftiger Liebe im Bett abgeneigt. So trafen sie sich gern nachmittags in einem kleinen Schlemmercafé. Wie Giulia hatte sie eine etwas fülligere Figur, sah jedoch auch blendend aus. Sie kannte Israel trotz ihres höheren Alters nicht. Aber in Gesprächen verteidigte sie dieses Land bei jeder sich ihr bietenden Gelegenheit derart vehement, dass es für ihn wie eine Belastung wurde. Ganz gewiss wollte er einer Auseinandersetzung über dieses Thema nicht ausweichen. Doch jedes Mal verfuhren sich die wechselseitigen Argumente in festen Positionen und nichts bewegte sich. Sie kannte die Geschichte des Staates Israel bis ins letzte Detail, hatte viel darüber gelesen und wünschte sich, dass er dies auch tue. Nur so könne er die aktuelle Situation der Kämpfe zwischen den Israelis und Palästinensern wirklich verstehen. Die historischen Verhältnisse seien viel wichtiger als der Status Quo.
Igor hatte eine Abneigung gegen zu dicke Bücher und ging diesem Studium aus dem Weg, was sie als mangelnde Achtung interpretierte. Heftiger Protest seinerseits! Aber vor allem gab er eben dem Status Quo einen höheren Stellenwert. Anfangs fühlte sich Igor mit seinen Vorstellungen als Deutscher, von dem in der Nachkriegszeit eine demutvolle unterstützende Rolle für Israel wegen des schrecklichen Holocausts als selbstverständlich erwartet wurde, völlig allein mit seinen von der damaligen öffentlichen Meinung abweichenden Gedanken. Dann fand er im Internet zumindest zwei jüdische Freunde, die er zwar persönlich nie kennen lernte. Doch bei ihnen fand er Unterstützung. Das waren die kanadische Schriftstellerin Naomi Klein und der in Argentinien aufgewachsene Dirigent Daniel Barenboim. Beide wurden von vielen Juden wegen ihrer Positionen heftig beschimpft.
Naomi Klein hatte das Scheitern der Friedensverhandlungen in Oslo zwischen Israel und Palästina ziemlich ungewöhnlich kommentiert mit einigen provokanten Bemerkungen. Wegen der für Russland wie eine fast tödliche Schocktherapie wirkenden Einführung des Neoliberalismus seien viele Juden aus der früheren Sowjetunion nach Israel gekommen. Nicht zuletzt deswegen, weil diese nie wirklich erlebt hatten, was legale Verhältnisse sind, zogen sie ohne große Bedenken in die neuen Siedlungen im Jordanland. Unter diesen Leuten gab es viele brillante Fachleute. Auf die Palästinenser als billige Arbeitskräfte konnte Israel nun häufig verzichten, was den wirtschaftlichen Ruin dieser Gegend beschleunigte.
Umgekehrt war Naomi Klein durchaus klar, dass Arafat kein Engel war und heftig dazu neigte, Geld in die eigene Tasche zu stecken. Doch die Kompensationen, die ihm damals in Oslo auf dem politischen Parkett für das verlorene Land angeboten wurden, waren so gering, dass er damit nicht nach Hause zurückkommen konnte. Israel hatte so, wie es die USA in Afghanistan und bereits 200 Jahre zuvor im eigenen Land getan hatten, eine fragile Nomadenkultur ausgelöscht und brüstete sich nun damit, dort habe es ja überhaupt keinen Staat gegeben. Ihre eigene Schuld überspielten die beiden Länder im Duett mit der scheinbar neuen Idee, man müsse gegen den Terror kämpfen.
Igor hatte die Terror-Bombardierugen der deutschen Zivilbevölkerung im letzten Weltkrieg als Kind knapp überlebt. Inzwischen hatte er auch erfahren, dass Nomadenleben zwar nicht mehr sehr zeitgemäß, aber in manchen Aspekten dennoch durchaus vorzuziehen ist. Mit dem letzten Wort „ist“ am Ende des letzten Satzes nahm er trotz seiner humanistischen Schulbildung hin, dass dieses einen Verstoß bedeutete gegen die „consecutio temporum“, gegen die in seiner Jugend gelernten logischen zeitlichen und zunächst einmal in der Sprache grammatisch niedergelegten Zusammenhänge.
Auch folgende weitere Äußerungen von Naomi Klein akzeptierte Igor. In Israel leben die Reichen wie in einer mittelalterlichen Feudalgesellschaft in einer Festung. Doch jetzt ist das ganze Land die Festung. Noch schlimmer als damals werden die Armen, die Palästinenser, sogar an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert. Die Folge ist, dass denen nichts anderes übrig bleibt, als entweder die üble Situation zu schlucken oder aber wirklich zu Terroristen zu werden. Ein kleiner Teil der Bevölkerung tut letzteres tatsächlich, was de facto einen Krieg bedeutet, bei dem die Genfer Konventionen genauso wenig wie bei jedem anderen Angriff auf eine Zivilbevölkerung eingehalten werden.
Der fehlenden Trennung zwischen ziviler und militärischer Bevölkerung versuchen die USA und Israel nun mit zielgenauen hochtechnischen Waffeneinsätzen zu begegnen. Dokumentationen, wie wenig das in der Praxis möglich ist, gefallen ihnen gar nicht. Wie schrecklich selbst überlebende und nicht verstümmelte Kinder nach solchen Angriffen lebenslänglich traumatisiert sind, wird aus dem Bewusstsein verbannt.