Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 20. Frank Hille
Читать онлайн книгу.und die Verteidigungsstellungen insgesamt 35 Minuten. Die Rohrdichte bei den Russen lag bei rund 180 Geschützen pro Kilometer, aller knapp 6 Meter stand eine Artilleriewaffe. Günther Weber war mit seinen Männern in den Erdbunkern verschwunden und hoffte auf keinen Treffer auf den Unterschlupf. Mit ihm saßen fünf Soldaten in dem nur durch eine flackernde Kerze erleuchteten modrig riechendem Raum. Weber ließ unter seinem Stahlhelm hervor heimlich Blicke schweifen, er beobachtete die Männer. Es waren vier Grenadiere, die ihre Karabiner zwischen die Beine gestellt hatten, der fünfte war ein Unterscharführer, der seine MPi 40 über die Beine gelegt hatte. Drei der Männer waren erfahrene Soldaten, die weiß Gott nicht das erste Mal unter Beschuss lagen. Zwei waren gerade 17Jahre alt und seit drei Wochen in der Einheit.
„Na ja“ sagte einer jetzt „der Iwan muss wohl überzählige Bestände abbauen, dass er so heftig und lange trommelt.“
„Die haben wenigstens Munition im Überfluss, das ist bei uns ja immer mehr Mangelware“ erwiderte ein anderer „habt ihr schon gemerkt, dass die Gewehrpatronen aus lackiertem Blech bestehen? Das erklärt auch so manchen Hülsenklemmer.“
„Meine MPi begleitet mich seit 1942“ sagte der Unterscharführer „das ist eine ganz solide Waffe, die eigentlich so gut wie nie versagt. Natürlich hat sie eine recht geringe Durchschlagskraft, das ist schon von Nachteil. Und der Iwan hat mit der Schpagin was Besseres. Und die ist auch nicht so empfindlich wie meine Spritze.“
Alle rauchten, keiner zeigte Anzeichen von Angst, die Hände, die die Zigaretten hielten, zitterten nicht.
Das sind genau die Menschen die wir haben wollten dachte Weber, und er vernachlässigte vollkommen, dass er selbst Produkt so einer Erziehung war. Furchtlose, nüchterne Kämpfer, denen klar war, dass ein winziger Granatsplitter ihnen das Leben nehmen konnte, sie waren darauf eingestellt. Sie gingen mit der Überzeugung in ein Gefecht, dass sie im Auftrag ihres Landes und seiner Bevölkerung für deren Wohl handeln würden, und das gab Ihnen eine große Erdung und auch Zuversicht an das Gelingen ihrer Sache. Die russische Artillerie schoss ununterbrochen weiter. Wenn große Brocken in der Nähe einschlugen bebte der Boden. So wie diese sechs Männer hockten viele Soldaten in ihren Deckungen, wie Mäuse, die nicht nach oben kommen konnten, weil draußen ein wütender Bauer auf sie wartete, um sie zu töten. Was bei den SS-Männern aber im Vergleich zu den Mäusen ganz anders war, war natürlich die Größe, aber auch die Farbe des Fells, also der Uniform.
Die SS war schon immer ein Vorreiter im Einsatz von Tarnkleidung gewesen. Die verschiedenen Muster wiesen unterschiedliche Formen und Farben auf, und waren auch für unterschiedliche Gebiete vorgesehen. Zwei der Männer trugen Tarnjacken mit einem Erbsenmuster, und dieses war gut für das Erscheinungsbild des Grabensystems geeignet. Besonders bei Gefechten in bewaldeten Gebieten waren überaus günstige Erfahrungen mit einen braun-grünen Flecktarnmuster gemacht worden. Für Weber war das schon interessant, denn er ging davon aus, dass sie die Linien nicht lange halten würden. In seinem Gepäck hatte er eine Tarnjacke mit einen für den Wald geeigneten Muster. Das hinter ihnen liegende Gebiet war in der Art eines riesigen Schachbretts angelegt. Größere nach Westen führende Verbindungen wurden in ungleichen Abständen durch von Norden nach Süden angelegte Wege in Quadrate aufgeteilt, und das wiederholte sich viele Male, so dass man sich tatsächlich entweder auf den breiteren Verbindungen schneller, oder tiefer im Waldgebiet, entsprechend langsamer vorwärts bewegen konnte, da auch die Qualität der Wege recht unterschiedlich war. In diesem Labyrinth waren die inneren Verbindungen simple unbefestigte Waldwege, die größeren nach Westen führenden konnte man als Rollbahnen bezeichnen, da sie recht breit und zum Teil ordentlich befestigt waren.
Günther Weber machte sich Gedanken über den Verlauf der russischen Offensive, zumindest, was an zu erwartenden Auswirkungen seinen Verband anging. Zweifellos würde der Gegner keine Mühe haben die schwachen deutschen Stellungen zu durchbrechen und die feindlichen Kräfte nach Westen zu drücken, also zum Teil in das Waldgebiet hinein. Webers Bataillon wäre vermutlich davon betroffen.
Er musste sich also schon jetzt Gedanken machen müssen, wie er sein Bataillon unter diesen Geländebedingungen führen sollte.
Martin Haberkorn, 28. Juni 1944, auf dem Weg nach Hamburg
Der schlanke Oberleutnant zur See in der makellosen Uniform und mit dem Ritterkreuz um den Hals zog die Blicke der Reisenden in dem Zug auf sich, aber er steuerte kein separates Coupé an, sondern ein ganz normales Abteil. Dort hatte er noch einen Fensterplatz belegen können. Seinen Holzkoffer hatte er in der Ablage über den Sitzen verstaut. Der Waggon war wie die anderen auch bald bis auf den letzten Platz belegt gewesen, und später gekommene Reisende mussten sich auf den Waggonplattformen oder in den Gängen aufhalten. Martin Haberkorn war klar gewesen, dass diese Reise nicht angenehm werden würde, denn von Brest bis Hamburg waren es rund 1.430 Kilometer. Die Strecke führte in einer leicht nach Norden ansteigenden Linie erst nach Belgien, und ab Aachen wurde die Streckenlinie steiler nach Norden gebogen, um dann Hamburg zu erreichen. Leider war das alles Theorie, denn am 6. Juni waren die Alliierten in der Normandie gelandet. Die Bahnstrecke in Frankreich verlief in unmittelbarer Nähe des Kampfgebietes, und damit war es ausgeschlossen, diese Route zu nutzen. So war der Fahrplan den Gegebenheiten angepasst worden, und der Zug würde erst von Brest aus nach Süden schwenken, und dann im französischen Kernland befindliche Strecken nutzen. Die Alliierten hatten schnell und mühelos die absolute Luftherrschaft errungen und einer ihrer Zeitvertreibe bestand schon jetzt darin, im Hinterland Jagd auf Züge zu machen.
Martin Haberkorn war am 30. Mai 1944 Vater eines gesunden Sohnes geworden, und Marie und er hatten den Jungen Michel genannt, so war der Name im Deutschen und im Französischen gleich auszusprechen. Zufällig war Marie zusammen mit ihrer Mutter am Tag der Invasion zu ihrer Cousine aufgebrochen. Das war für Haberkorn eine riesige Erleichterung gewesen. Die Kämpfe würden sich in der Normandie abspielen und die Alliierten dann in den gewonnenen Gebieten den Stoß nach Osten planen. Eine Südwärts-Bewegung der Truppen würde also nicht gleich erforderlich werden, denn die schwachen deutschen Kräfte standen fast ausnahmslos in Küstennähe, und Gefechte würden sich dort abspielen. Marie, ihre Mutter und Michel würden in Sicherheit die Vertreibung der Deutschen aus Frankreich abwarten können. Für Haberkorn war das Abschiednehmen eine schwere Sache gewesen aber er hatte verstanden, dass er mit seiner Abkommandierung den Himmelfahrtkommandos an Bord der alten Boote entkommen war. Jetzt musste er noch nach Hamburg kommen, dann würde er weitersehen.
Haberkorn Abteil war mit 8 Personen jetzt voll besetzt, und er hatte wegen der Wärme das Fenster ein Stück heruntergezogen.
„Herr Offizier“ sprach ihn eine deutsche Frau von vielleicht 60 Jahren an „entschuldigen Sie bitte, ich kenne mich mit den Dienstgraden nicht so aus, aber möchte Sie richtig ansprechen können. Was bedeuten Ihre Schulterstücke?"
„Ich bin Oberleutnant zur See.“
„Und diese Auszeichnung am Halsband?“
„Das ist das Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz.“
„Bevor Sie noch weiterfragen, gute Frau“ schaltete sich ein geschniegelter Mann von vielleicht 40 Jahren ein „diese Auszeichnung wird nur für höchste Tapferkeitstaten verliehen. Wir haben die große Ehre, das Abteil mit einem deutschen Seehelden zu teilen. Übrigens, mein Name ist Krause, Verwaltungsdirektor der Zell AG. Wir produzieren hier Verbandsstoffe. Leider sind ja nun die Amis und die Tommies über den Kanal gekommen, und wir werden die Produktion verlegen müssen. Ich bin auf der Reise ins Ruhrgebiet.“
„Diese Panik der Zivilisten regt mich auf“ erwiderte ein Leutnant des Heeres „es wird sich alles klären, und dann werden diese Herrschaften wie bei Dünnkirchen wieder über den Kanal nach Hause flüchten müssen. Der Führer hat schon Verstärkungen zugesagt.“
„Wo sind Sie denn im Einsatz, Herr Oberleutnant“ fragte eine junge, sehr gut aussehende und dezent geschminkte Frau.
„Ich bin U-Boot-Kommandant.“
„Die Ritter der Tiefe, die Helden des Überraschungsangriffs“ sagte ein Mann von gut fünfzig Jahren der neben Haberkorn saß „ich