Lord Jim. Joseph Conrad

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Lord Jim - Joseph Conrad


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mit seinem mächtigen Arm eine Gebärde, die mich meiner Persönlichkeit zu berauben, mich in die Menge der Namenlosen zu stoßen schien. »Das Schlimme ist«, sagte er, »daß ihr Kerle alle zusammen keine Würde habt; ihr denkt nicht hoch genug von dem, was ihr vorstellen solltet.«

      Wir waren langsam weitergegangen und standen nun vor dem Hafenamt, nicht weit von der Stelle, von der aus der riesenhafte Kapitän der Patna wie eine Feder, die der Sturmwind davonträgt, sich verflüchtigt hatte. Ich lächelte. Brierly fuhr fort: »Es ist eine Schande. Wir haben allerlei Volk unter uns – sicher auch ausgefeimte Spitzbuben; aber, zum Henker, wir müssen die Berufsehre aufrechterhalten, oder wir sind nicht besser als die Kesselflicker, die in der Welt herumvagabundieren. Man setzt Vertrauen in uns. Verstehen Sie? – Vertrauen! Weiß Gott, ich kümmere mich keinen Pfifferling um all die Pilger, die je aus Asien kamen, – aber ein anständiger Mensch hätte sich nicht einmal gegen eine Ladung von Lumpenballen so benommen. Wir sind keine organisierte Körperschaft, und das einzige, was uns zusammenhält, ist eben gerade der Name für diese Art Anstand. Ein solcher Vorfall zerstört das Vertrauen. Es mag ja sein, daß einer während seiner ganzen Laufbahn zur See nicht in die Lage kommt, dem Tod fest ins Auge zu sehen. Kommt es aber dazu... Ah!... wenn ich...«

      Er brach ab und sagte in verändertem Ton: »Ich will Ihnen nun zweihundert Rupien geben, Marlow, und Sie machen die Sache mit dem Burschen ab. Hol ihn der Teufel! Ich wollte, er wäre nicht hierher gekommen. Die Sache ist die, ich glaube, unsere Familien kennen einander. Sein alter Herr ist Geistlicher, und ich besinne mich jetzt, ich traf ihn einmal, als ich vergangenes Jahr bei meinen Verwandten in Essex war. Wenn ich nicht irre, war der Alte sehr stolz auf seinen Seemannssohn. Schrecklich. Ich kann es nicht selber tun, aber Sie...«

      So bekam ich durch Jim einen Einblick in den wirklichen Brierly, wenige Tage bevor er seinen Schein und seine Wirklichkeit dem Meere in Gewahrsam gab. Selbstverständlich lehnte ich es ab, mich einzumischen. Der Ton dieses letzten »aber Sie« (der arme Brierly konnte nicht anders), das zu bedeuten schien, ich wäre ja kaum bemerkenswerter als irgendein Insekt – dies weckte meinen Unwillen über den Vorschlag; und angesichts dieser Herausforderung oder aus sonst einem Grunde kam ich zu dem Schluß, daß die Verhandlung eine schwere Strafe für diesen Jim und daß die Art, wie er sie freiwillig ertrug, ein mildernder Umstand in seinem abscheulichen Fall war. Vordem war ich dessen nicht so sicher gewesen. Brierly ging wütend weg. Damals war mir sein Gemütszustand ein größeres Geheimnis als jetzt.

      Am folgenden Tag kam ich spät in die Gerichtssitzung und saß für mich allein. Natürlich konnte ich die Unterhaltung nicht vergessen, die ich mit Brierly gehabt hatte, und nun hatte ich sie beide vor Augen. Die Miene des einen ließ auf trotzige Schamlosigkeit, die des andern auf verachtungsvolle Langweile schließen; und doch mochte die eine Haltung nicht echter sein als die andre, und ich merkte wohl, daß die eine nicht echt war. Brierly war nicht gelangweilt – er war verzweifelt; und war dem so, dann brauchte Jim nicht schamlos zu sein. Nach meiner Theorie war er es nicht. Ich dachte mir, er sei aller Hoffnung bar. Damals geschah es, daß sich unsere Blicke trafen. Sie trafen sich, und der Blick, den er auf mich richtete, nahm mir allen Mut zu der Absicht (wenn ich sie je gehabt hatte), eine Unterredung mit ihm herbeizuführen. Welche Annahme auch zutraf – ob Schamlosigkeit oder Verzweiflung –, ich fühlte, daß ich ihm nicht helfen konnte. Es war der zweite Verhandlungstag. Sehr bald nach diesem Austausch von Blicken wurde die Verhandlung wiederum auf den folgenden Morgen vertagt. Die Weißen drängten sofort hinaus. Man hatte Jim schon vorher angewiesen, abzutreten, and so war er unter den ersten, die den Saal verließen. Ich sah seine breiten Schultern und seinen Kopf scharf umrissen in der Helligkeit der Türe, und während ich im Gespräch mit jemand – einem Fremden, der mich zufällig angeredet hatte – langsam dem Ausgang zuschritt, bemerkte ich ihn, wie er mit aufgestützten Ellbogen auf der Veranda stand und dem schmalen Menschenstrom, der sich über die paar Stufen ergoß, den Rücken zukehrte. Man hörte ein Gewirr von Stimmen und das Schlurren von Schuhen.

      Der nächste Fall lautete auf tätliche Mißhandlung und Körperverletzung, begangen an einem Geldverleiher, glaube ich; und der Beklagte, ein ehrwürdiger Dorfbewohner mit gepflegtem weißem Bart, saß mit seinen Söhnen, Töchtern, Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern draußen vor der Tür auf einer Matte, und die halbe Bevölkerung des Dorfes stand schwatzend um ihn herum. Ein schlankes, dunkles Weib, den halben Rücken und die eine schwarze Schulter entblößt und mit einem dünnen goldenen Ring in der Nase, fing plötzlich in lautem, keifendem Ton zu reden an. Der Mann in meiner Begleitung blickte unwillkürlich nach ihr hin. Wir waren eben durch die Türe durch und gingen an Jims breitem Rücken vorbei.

      Ob die Dörfler den gelben Hund mitgebracht hatten, weiß ich nicht. Doch so oder so, ein Hund war da, wand sich in der stummen, beharrlichen Weise, wie sie die Eingeborenenhunde an sich haben, zwischen den Beinen der Leute hindurch, und mein Begleiter stolperte über ihn. Der Hund sprang ohne Laut davon; der Mann erhob seine Stimme ein bißchen und sagte lachend: »Da seh' einer den verdammten Hund!« und gleich darauf wurden wir durch eine Schar hereinströmender Leute getrennt. Ich drückte mich einen Augenblick gegen die Wand, während der Fremde die Stufen hinuntergelangte und verschwand. Ich sah, wie Jim sich rasch umdrehte. Er tat einen Schritt vorwärts und versperrte mir den Weg. Wir waren allein. Er starrte mich an, mit einer Miene störrischer Entschlossenheit. Ich wurde gleichsam angefallen, wie im Wald. Die Veranda war leer. Der Lärm und das Aus- und Eingehen im Gerichtszimmer hatten aufgehört. Eine große Stille lag über dem Gebäude; nur irgendwo tief im Innern winselte ein klägliche orientalische Stimme. Der Hund, auf dem Sprung, sich durch die Türe einzuschleichen, setzte sich erst noch hin und flöhte sich.

      »Sagten Sie etwas zu mir?« fragte Jim sehr leise und beugte sich vor, so daß er mich förmlich streifte. Ich sagte sofort: »Nein.« Etwas in dem ruhigen Klang seiner Worte riet mir, auf meiner Hut zu sein. Ich beobachtete ihn. Es war einem Überfall im Walde sehr ähnlich, nur ungewisser im Ausgang, da er es ja offenbar weder auf mein Geld noch auf mein Leben abgesehen haben konnte, auf nichts, was ich einfach hergeben oder mit gutem Gewissen verteidigen konnte. »Sie sagen nein«, sagte er sehr finster. »Doch ich hörte es.« – »Ein Irrtum«, beteuerte ich völlig unsicher und ohne den Blick von ihm zu lassen. Sein Gesicht war anzusehen wie der Himmel vor einem Gewitter; Schatten auf Schatten überziehen ihn unmerklich, die Dunkelheit wächst geheimnisvoll an in der Stille des nahenden Ausbruchs.

      »Soviel ich weiß, habe ich in Ihrer Hörweite nicht den Mund aufgetan«, sagte ich ganz wahrheitsgemäß. Ich begann auch, über das Unsinnige dieser Begegnung etwas ärgerlich zu werden. Heute sehe ich ein, daß ich nie in meinem Leben so nah daran war, geschlagen zu werden – ich meine es wörtlich, mit Fäusten bearbeitet. Ich muß eine dunkle Ahnung davon gehabt haben, daß solche Möglichkeit in der Luft lag. Nicht, daß er mich bedroht hätte. Im Gegenteil, er schien seltsam passiv – versteht ihr? Aber er duckte sich, und obwohl nicht außergewöhnlich groß, sah er doch aus, als könnte er eine Wand einrennen. Was mich am ehesten beruhigen konnte, war sein bedächtiges, grüblerisches Zaudern, in dem ich die Wirkung der unverkennbaren Aufrichtigkeit meines Tons und Benehmens zu sehen meinte. Wir sahen einander an. Im Gerichtssaal wurde die Sache wegen der Körperverletzung verhandelt. Ich hörte die Worte: »Nun, Büffel, – Stock – in der Größe meiner Angst...«

      »Was meinten Sie damit, daß Sie mich den ganzen Morgen anstarrten?« fragte Jim schließlich. Er sah auf und sah wieder zu Boden. – »Dachten Sie denn, wir würden aus Rücksicht auf Ihre Empfindlichkeit alle mit niedergeschlagenen Augen dasitzen?« entgegnete ich scharf. Ich war nicht gesonnen, mich von seinem absonderlichen Wesen einschüchtern zu lassen. Er erhob die Augen wieder und fuhr nun fort, mir gerade ins Gesicht zu sehen. »Nein. Das ist schon richtig«, sagte er mit einer Miene, als erwäge er bei sich selbst die Wahrheit dieser Erklärung – »das ist schon richtig. Ich komme schon drüber weg. Nur« – und nun sprach er ein wenig rascher –, »ich lasse mich von niemand außerhalb des Gerichtssaales beschimpfen. Sie waren da in Begleitung eines Mannes. Sie sprachen zu ihm – o ja –, ich weiß, es ist schon so. Sie sprachen zu ihm, aber Sie wollten, daß ich es hören sollte...«

      Ich versicherte ihm, daß er in einer argen Täuschung befangen sei. Ich hatte keine Ahnung, wie das gekommen war. »Sie dachten wohl, ich würde das auf mir sitzen lassen, weil ich mich fürchte«, sagte er mit einem schwachen Anfing von Bitterkeit. Ich


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