Lord Jim. Joseph Conrad

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Lord Jim - Joseph Conrad


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daß sie an dem und jenem Platz gewesen waren, genau wie ihr Gepäck. Sie würden stolz sein auf diese Auszeichnung ihrer Persönlichkeit und dauernd die Zettel auf ihren Handkoffern als dokumentarischen Ausweis kleben lassen, als einzig bleibende Spur ihres bildenden Unternehmens. Die schwarzen Diener trippelten geräuschlos über den glatten Fußboden; ab und zu erscholl das Lachen eines Mädchens, leer und harmlos wie ein Geist, oder man hörte während einer kurzen Pause im Tellerklappern ein paar Witzworte über das letzte Skandälchen an Bord, die eine näselnde Stimme der grinsenden Tafelrunde zum besten gab. Zwei reisende alte Jungfern, entsetzlich aufgedonnert, arbeiteten sich gehässig durch die Speisekarte und zischelten miteinander, mit welken Lippen in den hölzernen Gesichtern, verschroben wie herausgeputzte Vogelscheuchen. Ein wenig Wein öffnete Jims Herz und löste seine Zunge. Wie ich bemerkte, war auch sein Appetit gut. Es schien, als hätte er die unsere Bekanntschaft einleitende Episode irgendwo versenkt. Sie sollte ein für allemal aus der Welt geschafft sein. Und die ganze Zeit hatte ich diese blauen, knabenhaften Augen vor mir, die unbeirrt in die meinen blickten, das junge Gesicht, die kraftvollen Schultern, die offene, bronzene Stirn mit einem weißen Strich unter den Wurzeln seines lockigen blonden Haares, dieses Äußere, das mir auf den ersten Blick so zu Herzen sprach: das freie Wesen, das arglose Lächeln, den jugendlichen Ernst. Er war vom rechten Schlag; er war einer von uns. Er sprach gemäßigt, mit einer Art gelassener Offenheit und mit einer ruhigen Haltung, die das Ergebnis männlicher Selbstzucht oder eines völligen Mangels an Scham oder Einsicht sein konnte, bloßer Dickfelligkeit oder eines ungeheuren Selbstbetrugs. Wer will es sagen? Nach unserm Ton zu schließen, hätten wir von einer dritten Person, einer Fußballpartie oder dem vorjährigen Wetter reden können. In meinem Hirn wogte es von Vermutungen, bis eine Wendung in unserm Gespräch mir die Möglichkeit gab, ganz beiläufig zu bemerken, daß diese Gerichtsverhandlung doch furchtbar quälend für ihn gewesen sein müßte. Er streckte seinen Arm über den Tisch und umklammerte wortlos meine Hand, die neben dem Teller lag. Es durchfuhr mich. »Es muß furchtbar schwer für Sie sein«, stammelte ich, ganz verwirrt von diesem stummen Gefühlsausbruch. »Es ist – die Hölle«, brach er mit erstickter Stimme los.

      Am Nachbartisch blickten bei dieser Bewegung und diesen Worten zwei Weltbummler, mit Lakaien hinter ihren Stühlen, erschrocken von ihrem Eispudding auf. Ich erhob mich, und wir begaben uns auf die vordere Galerie, um unsern Kaffee einzunehmen und zu rauchen.

      Auf kleinen achteckigen Tischen brannten Kerzen in Glasglocken. Büsche steifer Blattpflanzen trennten die einzelnen Gruppen bequemer Korbstühle, und zwischen den Säulen, deren rötliche Schäfte den Schein aus den großen Fenstern auffingen, hing die Nacht dunkel und glänzend, wie eine reiche Gewandung. Die gleitenden Lichter von Schiffen grüßten aus der Ferne wie untergehende Sterne, und die Hügel jenseits der Reede glichen den runden, schwarzen Massen lastender Gewitterwolken.

      »Ich konnte nicht fliehen«, begann Jim. »Der Kapitän konnte es tun – nun ja, für ihn mag es angehen. Ich konnte nicht, und ich wollte nicht. Sie haben sich alle irgendwie aus der Klemme gezogen, doch bei mir war das etwas andres.«

      Ich hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu und wagte nicht, mich in meinem Stuhl zu rühren; ich wollte wissen – und bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, kann nur erraten. Er war mitteilsam und zurückhaltend im selben Atemzug, als hätte das Bewußtsein eingeborener Reinheit die Wahrheit, die ans Licht wollte, bei jeder Wendung zurückgehalten. Er sagte in einem Ton, in dem jemand seine Unfähigkeit bekennen würde, von einer zwanzig Fuß hohen Mauer hinunterzuspringen, daß er nun nie mehr nach Hause gehen könne; und diese Erklärung erinnerte mich an den Ausspruch Brierlys, »daß der alte Pfarrherr auf seinen Seemannssohn große Stücke hielte«.

      Ich kann nicht sagen, ob Jim etwas von dieser besonderen Vorliebe wußte; aber die Art, wie er von seinem »alten Herrn« sprach, zielte wohl darauf ab, mir den Begriff beizubringen, daß der gute, alte ländliche Dekan der herrlichste Mensch sei, den je seit Anbeginn der Welt die Sorge um eine große Familie gedrückt habe. Er sprach es nicht klar in Worten aus, aber er setzte die Annahme als selbstverständlich voraus, was sehr innig und reizend war, aber um so schmerzlicher berührte, wenn man zu den bisherigen Elementen der Geschichte nun auch das Los der fernen lieben Menschen in Anschlag brachte. »Er hat es nun schon alles aus den Zeitungen erfahren«, sagte Jim. »Ich kann dem armen Mann nun nie wieder vor die Augen treten.« Ich wagte nicht aufzublicken, bis er hinzufügte: »Ich könnte es ihm nie erklären. Er würde nicht begreifen.« Dann blickte er auf. Er rauchte in Gedanken versunken und fing nach einer Weile, sich aufraffend, von neuem an. Er gab sofort den Wunsch zu erkennen, daß ich ihn nicht mit seinen Mitschuldigen im – sagen wir, im Verbrechen – verwechseln sollte. Er war keiner von ihnen. Er war völlig anderer Art. Ich gab kein Zeichen abweichender Meinung. Ich hatte nicht die Absicht, ihn um der unfruchtbaren Wahrheit willen auch nur des kleinsten Lichtstrahls erlösender Gnade zu berauben, der auf seinen Weg fiel. Ich weiß nicht, wieviel davon er selbst glaubte, ich weiß nicht, was er damit bezweckte – wenn er überhaupt einen Zweck verfolgte –, und ich vermute, daß er es selbst nicht wußte; denn es ist mein Glaube, daß kein Mensch je ganz hinter die eigenen listigen Kniffe kommt, durch die er sich dem grimmen Schatten der Selbsterkenntnis zu entziehen sucht. Ich gab keinen Laut von mir in der ganzen Zeit, während er erwog, was er beginnen sollte, »wenn diese dumme Untersuchung zu Ende wäre«.

      Offenbar teilte er Brierlys verächtliche Ansicht über diese vom Gesetz angeordneten Untersuchungen. Er gestand, mehr laut denkend als zu mir sprechend, daß er nicht wisse, wohin er sich wenden solle. Das Patent dahin, die Karriere in die Brüche, kein Geld, um fortzukommen, keine Arbeit irgendwo in Sicht. Zu Hause könnte er vielleicht etwas finden, aber das hieße, seine Familie um Hilfe angehen, und das wollte er nicht. Er sehe keine andere Wahl, als gemeiner Matrose zu werden – vielleicht könne er einen Posten als Steuermannsmaat auf einem Dampfer bekommen. Dazu sei er wohl gut genug... »Ja, glauben Sie?« fragte ich unbarmherzig. Er sprang in die Höhe und ging zu der steinernen Balustrade, über die er sich in die Nacht hinauslehnte. Dann kam er und stellte sich hinter meinen Stuhl, noch verdüstert von einer niedergekämpften Erregung. Er hatte sehr wohl verstanden, daß ich nicht seine Fähigkeit, ein Schiff zu steuern, bezweifelte. Mit etwas schwankender Stimme fragte er mich, warum ich das gesagt hätte? Ich sei »unendlich gut« zu ihm gewesen. Ich hätte nicht einmal gelacht, als – hier stockte er – »Sie wissen doch, – das Mißverständnis – machte mich so zum Tölpel.« Ich versicherte ihm mit Wärme, daß für mich ein solches Mißverständnis kein Grund zum Lachen sein könnte. Er setzte sich und leerte bedächtig die kleine Tasse Kaffee bis auf den letzten Tropfen. »Damit gebe ich aber keineswegs zu, daß die Bemerkung zutreffend war«, erklärte er bestimmt. – »Nein?« sagte ich. – »Nein«, war seine entschiedene Antwort. »Wissen Sie denn, was Sie getan hätten? Wissen Sie es? Und Sie halten sich doch nicht für« ... er würgte ein wenig... »Sie halten sich nicht für einen... einen... Hund?«

      Und bei diesen Worten – auf Ehre – sah er mir forschend ins Gesicht. Es war offenbar eine Frage, in gutem Glauben, eine Frage! Doch er wartete die Antwort nicht ab. Ehe ich mich sammeln konnte, fuhr er fort, die Augen starr vor sich hin gerichtet, als läse er etwas Geschriebenes von der Nacht ab. »Es hängt alles davon ab, daß man bereit ist. Ich war's nicht. Nicht – nicht damals. Ich will mich nicht entschuldigen; ich möchte nur erklären – ich möchte, daß jemand versteht – jemand – ein Mensch wenigstens! Sie! Warum nicht Sie?«

      Es war feierlich und zugleich auch ein wenig spaßhaft, wie es ja unvermeidlich ist, wenn ein Mensch versucht, das, was er nach eigener Meinung sein sollte, vor dem Feuer zu retten – diesen auf festgeprägtem Herkommen beruhenden Begriff, der vielleicht nur eine Spielregel ist, nicht mehr, aber doch so schauerlich wirksam, durch die Gewalt, die er sich über natürliche Regungen anmaßt, wie durch die unbarmherzigen Strafen, die er für Übertretungen bereithält. Er begann seine Erzählung sehr ruhig. Auf dem Dale Line Dampfer, der die vier, in einem Boot treibend, zur verschwiegenen Sonnenuntergangsstunde aufgenommen hatte, waren sie gleich nach dem ersten Tag scheel angesehen worden. Der fette Kapitän erzählte eine Geschichte, die andern schwiegen dazu, und zuerst wurde sie geglaubt. Man rückt ja armen Schiffbrüchigen, die man glücklich, wenn nicht von grausamem Tod, so doch von grausamen Qualen errettet hat, nicht mit Fragen auf den Leib. Später, nachdem sie Zeit gehabt hatten, über die Sache nachzudenken, mag den Offizieren des Avondale aufgestoßen sein,


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