Bunte Zeiten - 1980 etc.. Stefan Koenig

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Bunte Zeiten - 1980 etc. - Stefan Koenig


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einmal zufrieden ein. Am Abend auf dem Nachhauseweg dämmerte es ihr und sie dachte: „Oh Gott, du bist fünfzehn und schon auf Heroin. Ist doch echt Scheiße.“ Doch dieser Gedanke verflog schneller, als er gekommen war; ihr Glücksgefühl verdrängte alle Bedenken, jeglichen selbstkritischen und ängstlichen Ansatz.

      Wenn man mit H anfängt, das wusste sie aus den Erzählungen ihrer Freunde aus dem Sound, gibt es noch keine Entzugserscheinungen. Das coole Glücksfeeling hielt bei ihr die ganze Woche über an. Es setzte sich die nächsten Wochen fort. Der Alltag war plötzlich keine Last mehr, alles lief wie von selbst. Mit ihrer Mutter blieb es friedlich, der Zoff schien Jahrhunderte her zu sein. Nina nahm die Schule völlig relaxed, meldete sich manchmal zur Mitarbeit und erhielt gute Noten. Mit der Zeit verbesserte sie sich sogar in einigen Fächern um zwei Zensuren.

      Zu Doro sagte Nina: „Plötzlich schwebte ich auf Wolke Sieben. Mit allen Leuten schien ich jetzt wundersamer Weise klar zu kommen. Nur mit Helle gab es am Wochenende, nach meinem ersten H-Snief, Krach.“

      „Wie das?“, fragte Doro. „Helle war doch selbst eifriger Fixer.“

      „Am Wochenende nach meinem ersten Heroin-Snief traf ich Helle vor dem Sound. Sofort bellte er mich an. Ich hätte wahnsinnige Scheiße gebaut und sei total verrückt geworden. Er hatte von Chrissi alles erfahren.“

      „Wie hast du darauf reagiert?“, hatte Doro gefragt.

      „Ich habe ihn angebrüllt, dass er ruhig sein soll, und wer damit angefangen hat! Das war nämlich er. Und dass ich nicht so ein Fixer wie er werden würde, habe ich gebrüllt. Denn dass es bei mir soweit kommt, das habe ich nicht geglaubt.“

      Helle hatte darauf nichts erwidern können. Er war überhaupt nicht in guter Stimmung, weil er auf einen Schuss aus war. Er hatte noch keinen Affen, denn er war noch nicht wie Kalle körperlich abhängig. Schließlich gestand er Nina, dass er keine Kohle habe, sich aber unbedingt H besorgen müsse. Nina hatte ihren kleinen Triumph und sagte: „Da siehst du mal, wer hier von uns beiden abhängig ist.“

      Dann schlug sie ihm vor, gemeinsam das Geld für H zu schlauchen. Die attraktive Nina mit ihrer unschul­dig-teeniehaften Erscheinung sah sich vor dem Sound um und fing einzelne ältere Disco-Besucher ab, um ihnen irgendein kurzes Märchen zu erzählen. Innerhalb einer Viertelstunde hatte sie vierundzwanzig Mark beisammen, während Helle nur sechs Mark und fünfzig Pfennige ergattert hatte. Es reichte jedoch für beide, denn noch wurden sie von einer recht kleinen Dosis schon gut angetörnt. Ohne jegliches weitere Wort war klar, dass Nina und Helle sich das Dope teilten.

      Als Helle seinen Druck setzte und seine Freundin sich einen Snief nahm, wurde ihr mit einem Mal klar, dass nichts aus ihrem Vorsatz geworden war, erst in einigen Wochen wieder H zu probieren, wie sie es Kalle angekündigt hatte.

      Nina bildete sich ein, sie würde eine Wochenend-Fixerin bleiben. Das war klar, denn jeder, der mit Dope begann, war überzeugt davon, dass er Gelegenheits-Fixer blieb und nur mal am Wochenende zu H greifen würde. Aber jeder wusste, dass es niemanden gab, der Wochenend-Fixer geblieben ist.

      Ich konnte, wenn ich an Svea dachte, davon ein Lied singen. Ich stand aus meinem Wipp-Sessel auf und ging ans Fenster, um hinauszusehen. Ich dachte an Lutz, war gespannt, was er zu berichten hatte und ob es Neuigkeiten von Nina gab, die erfreulicher waren, als die Erinnerungen an sie.

      Frisco-Freaks & das Hippie-Berkeley

      Seit meiner Ankunft in Frisco waren fünf Wochen vergangen. Ich hatte mich inzwischen in den Sound der Amis „eingegroovt“, hatte mich an allerlei Neuigkeiten, an angenehme oder auch weniger angenehme Kuriositäten gewöhnt. Da besaßen Vicky und Mary eigenartige Reisekoffer, in denen sie ihre Kunst-Utensilien verstauten. Auf ihnen waren großformatig die beiden Punk-Mädels abgebildet. Koffer mit eigenem Porträt waren mir bis dahin nicht bekannt.

      An das »coffee-refill« hatte ich mich gewöhnt, nachdem ich anfangs bei der Bestellung einer zweiten Tasse immer völlig umsonst das Portemonnaie gezückt hatte. Das Straßen-Schlachtschiff meiner Nachbar-WG, natürlich mit Automatikschaltung, war knallgelb und hatte nicht nur hinten eine Sitzbank, sondern auch vorne. Der Beifahrer saß neben dem Driver zusammen auf einer wohlig-weichen Couch. Ich konnte, wenn ich gelegentlich mitfuhr, meine Beine unendlich ausstrecken und mich sogar querlegen.

      „Isn’t it comfortable?“, fragte dann Mary, weil ich ihr von den engen, platzsparenden Autos auf dem europäischen Kontinent berichtet hatte. Auch mein Ford Station Wagon war von einer unglaublichen Geräumigkeit und komfortablen elektronischen Ausstattung, die es bei uns lange noch nicht gab. Die dezent-vornehme, schwach-grüne Beleuchtung des Armaturenbretts; die schick eingebetteten Details wie Zigarettenanzünder, Drehzahlmesser, Tacho und Uhr ließen mich am Anfang staunen. Doch irgendwann staunte ich über mich, wie schnell ich dies alles als selbstverständlich verinnerlichte und bald schon als Normalität ansah. Am Armaturenbrett, in den Türen und auf der Rückseite der Vordersitzreihe gab es Tabletts und ausklappbare Haltevorrichtungen, um Flaschen oder Becher abzustellen. Wahnsinn!

      Bei Nacht war in Frisco alles hell, die Tankstellen, die Drive-ins, die Motels. Jedes Fast-Food-Restaurant glänzte im Licht, und alle für Autofahrer relevanten Anlaufpunkte waren illuminiert wie Landesbahnen auf einem Flughafen.

      Alles war hier anders, die Größe und Farbe der Straßenschilder, der ruhig fließende Verkehr, die Meilenangaben, die ich in den ersten Wochen immer im Kopf umrechnen musste, um ein Gefühl für die Entfernungen zu bekommen. Dann die groß auf die Straßen gemalten Pfeile und Zahlen der „Routes“; die wuchtigen, knallig-bunten, allgegenwärtigen großen Reklameschilder. Amerika flashte.

      Dazu das einzigartige Wetter in Frisco. Wind und Kälte wechselten sich mehrmals am Tag mit Hitze und strahlenden Sonnenschein ab, wie ich schon bei meiner Ankunft erleben konnte. Dabei entsteht jede Menge Nebel. Bei einem Spaziergang war es daher nicht selten, innerhalb weniger Minuten Temperaturunterschiede von bis zu zehn Grad zu spüren. Die Luftfeuchtigkeit verstärkte noch die gefühlte Temperatur.

      Als ich Ende Juli in Frisco angekommen war, hatte ich dieses Phänomen besonders gut beobachten können, es hielt sich bis in den Oktober hinein, denn die kalten Winde des Pazifiks trafen hier auf die warme Luft Kaliforniens. Das Ergebnis des Aufpralls kalter und warmer Luftströme war dann die dichte Nebeldecke, die sich über die Stadt legt, wie mir Sam und Vicky erklärten. So blieb mir oft der unverstellte Blick auf die Golden Gate Bridge verwehrt. Aber gegen Mittag verzog sich der Nebel zumeist und die Sicht war wieder frei. Auch war der Nebel nicht immer so dicht, wie ich ihn aus den heimatlichen Herbsttagen kannte, sondern er waberte mehr oder weniger sonnendurchlässig lässig durch die Stadt.

      Wenn ich mich nicht von dem unberechenbaren Klima ärgern lassen wollte, so galt es, die Launen des typischen Frisco-Wetters zu verstehen und ein paar Tipps meiner Nachbarn zu befolgen. Wenn mir die Nebelbänke zu dicht waren, fuhr ich mit der »Cable Car« nach Downtown oder zur Bucht, wo es meist sonnig und viel wärmer war. Denn der Nebel setzte sich oft nur im Westen der Stadt, an der Pazifischen Küste, ab. Die vielen Hügel, die sich quer durch San Francisco ziehen und der Stadt ihren typischen Charakter geben, halten den Nebel und die kühleren Pazifikwinde davon ab, weiter nach Osten zu ziehen.

      Doch bald schon trat all dies in den Hintergrund, wurde Bestandteil des Alltags und „last not least“: Ich musste meine Arbeits-Kontakte aufnehmen. Eine Woche vor meinem neunundzwanzigsten Geburtstag besuchte ich Professor Elliot Cahn am »Center for the Study of Law and Society« an der University of California in Berkeley. Er war ein großgewachsener schlanker Mann, vielleicht Mitte bis Ende Dreißig, lässig gekleidet, mit einer extravaganten eckigen Brille. Das Interview mit ihm war derart locker, freundschaftlich und tiefgreifend, dass ich danach zutiefst davon überzeugt war, meine Arbeit zügig vorantreiben zu können. Er sprach höflicher Weise mit mir noch etwas langsamer als üblich, und ich hatte nur bei einigen juristischen Fachbegriffen Nachfragebedarf.

      Mr. Cahn zeigte mir als erstes das gesamte Uni-Areal in und um Berkeley. Dann konnte ich ihn zwei volle Stunden lang umfassend zum FIA, dem „Freedom of Information Act“, interviewen und mir Aufzeichnungen machen. Schließlich lud er mich zu seiner aktuellen


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