Nur Fleisch. Jack London

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Nur Fleisch - Jack London


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neben Johnny entging seinem scharfen Blick nicht, aber er sagte nichts. Johnny zog sich seine Aufmerksamkeit auch zu, und er blieb plötzlich stehen. Er faßte Johnny am Arm, um ihn ein wenig von der Maschine zurückzuziehen, ließ ihn aber mit einem erstaunten Ausdruck wieder los.

      »Da sitzt nicht viel Fleisch«, sagte der Verwalter mit verlegenem Lachen.

      »Die reinen Pfeifenrohre«, lautete die Antwort. »Sehen Sie die Beine! Der Junge hat die Englische Krankheit – nicht gerade sehr schlimm, aber er hat sie. Wenn er nicht eines schönen Tages Epileptiker wird, dann kommt es daher, weil die Tuberkulose ihn schon vorher geholt hat.«

      Johnny lauschte, verstand aber nicht, was der Mann sagte. Dazu kam, daß er sich nicht für die Übel der Zukunft interessierte. Ein gegenwärtigeres und ernsteres Übel drohte in der Gestalt des Inspektors.

      »Hör, mein Junge, jetzt mußt du die Wahrheit sprechen«, sagte oder vielmehr rief der Inspektor, indem er sich zu dem Ohr des Jungen beugte, damit er ihn hören konnte. »Wie alt bist du?« »Vierzehn Jahre«, log Johnny, und er log aus voller Kraft seiner Lungen. So laut log er, daß er husten mußte – einen trockenen, quälenden Husten, der die Flocken, die den ganzen Morgen seine Lungen gereizt hatten, löste.

      »Er sieht aus, als wäre er wenigstens sechzehn«, sagte der Verwalter.

      »Oder sechzig«, erwiderte der Inspektor zornig.

      »Er hat immer so ausgesehen.«

      »Seit wann?« fragte der Inspektor hastig.

      »Seit Jahren. Er wird nie älter.«

      »Nein, und jünger auch nicht. Er hat wohl die ganzen Jahre hier gearbeitet.«

      »Hin und wieder – aber das war, ehe das neue Gesetz kam«, fügte der Verwalter schnell hinzu.

      »Steht die Maschine leer?« fragte der Inspektor und zeigte auf die verlassene Maschine neben der Johnnys, auf der die halbvollen Spulen mit rasender Schnelligkeit herumschnurrten.

      »Es sieht so aus.« Der Verwalter machte dem Vorarbeiter ein Zeichen, daß er herkommen sollte, und rief ihm ins Ohr, während er auf die Maschine zeigte. »Die Maschine steht leer«, meldete er dem Inspektor.

      Sie gingen weiter, und Johnny kehrte zu seiner Arbeit zurück, erleichtert, weil das große Übel abgewendet war. Aber der einbeinige Knabe war nicht so glücklich. Der Inspektor, der alles sah, zog ihn aus dem Spulkasten hervor und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm von sich ab. Die Lippen des Knaben zitterten, und er hatte einen Ausdruck, als wäre er von einem furchtbaren und nicht wieder gut zu machenden Unglück betroffen worden. Der Vorarbeiter sah äußerst verblüfft aus, als hätte er zum ersten Mal den Knaben vor Augen gesehen, während das Gesicht des Inspektors sowohl Erstaunen wie Wut ausdrückte.

      »Ich kenne ihn«, sagte er. »Er ist zwölf Jahre alt. Ich habe ihn im letzten Jahre aus drei Fabriken hinausgeworfen. Dies ist die vierte.«

      Dann wandte er sich zu dem einbeinigen Knaben. »Du hast mir doch versprochen, zur Schule zu gehen.«

      Der einbeinige Knabe brach in Tränen aus. »Bitte, Herr Inspektor, uns sind zwei Kinder gestorben, und wir sind so schrecklich arm.«

      »Warum hustest du so?« fragte der Inspektor, als klagte er ihn eines Verbrechens an.

      Und als wäre es eine Beschuldigung, von der er sich reinwaschen müßte, antwortete der einbeinige Knabe: »Es ist nichts. Ich habe mich nur vorige Woche erkältet, Herr Inspektor, das ist alles.«

      Es endete damit, daß der einbeinige Knabe den Saal mit dem Inspektor verlassen mußte, und hinterher kam der besorgte und protestierende Verwalter. Dann senkte sich die Einförmigkeit wieder über die Webstühle. Der lange Vormittag und der noch längere Nachmittag vergingen, und die Pfeife ertönte als Signal, daß es Zeit war, heimzugehen. Es war schon dunkel geworden, als Johnny das Fabriktor verließ. In der Zwischenzeit hatte die Sonne ihren goldenen Bogen am Himmel beschrieben, die Welt mit ihrer milden Wärme übergossen und war untergegangen und im Westen hinter der unebenen Reihe der Dächer verschwunden.

      Das Abendessen war die Familienmahlzeit des Tages – die einzige Mahlzeit, bei der Johnny mit seinen jüngeren Geschwistern zusammentraf. Es war immer eine halb feindselige Begegnung, denn er war sehr alt, während sie so verzweifelt jung waren. Er hatte keine Geduld mit ihrer überströmenden, verblüffenden Jugendlichkeit. Er verstand sie nicht. Seine eigene Kindheit lag allzu weit zurück. Er war wie ein alter, reizbarer Mann, der sich über ihre jugendliche Ausgelassenheit ärgerte, die ihm als vollkommene Torheit erschien. Er verzehrte sein Essen unter düsterem Schweigen und fand Trost in dem Gedanken, daß auch sie bald anfangen müßten zu arbeiten. Das würde sie abschleifen und sie gesetzt und würdig machen – wie er es geworden. Nach menschlichem Brauch machte Johnny sich zu der Elle, mit der er das ganze Universum maß.

      Während des Essens erklärte seine Mutter auf verschiedene Art und Weise und mit unendlichen Wiederholungen, daß sie wirklich versuchte, es so gut zu machen, wie sie konnte, und mit einem Gefühl der Erleichterung schob Johnny, als die karge Mahlzeit beendet war, seinen Stuhl fort und stand auf. Er schwankte einen Augenblick zwischen dem Bett und der Haustür und wählte endlich letztere. Er ging nicht sehr weit. Er setzte sich auf die Treppe, zog die mageren Knie ganz hoch, bog die schmalen Schultern nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.

      Er dachte nicht. Er ruhte sich nur aus. Seine Gedanken schliefen schon. Seine Brüder und seine Schwestern kamen heraus und begannen um ihn her ein lärmendes Spiel mit anderen Kindern. Eine elektrische Laterne an der Ecke beleuchtete die muntere Versammlung. Er war reizbar und verdrießlich, das wußten sie gut; aber ihre Abenteuerlust verleitete sie, ihn zu necken. Sie faßten sich einander an den Händen, bewegten die Körper rhythmisch und sangen ihm ein sehr wenig schmeichelhaftes Kinderlied ins Gesicht.

      Sein Bruder Will, der Zehnjährige, der ihm im Alter am nächsten kam, war der Anführer der Bande. Johnny hegte keine sehr freundlichen Gefühle für ihn. Sein Dasein war zeitig verbittert worden durch die ewige Rücksicht, die er auf Will nehmen mußte. Er hatte das ganz klare Gefühl, daß Will ihm allerhand verdankte und recht undankbar war. In der fernen, dunklen Vergangenheit, als er selbst noch spielte, war er vieler seiner Spielstunden beraubt worden, weil er auf Will aufpassen mußte. Damals war Will ganz klein, und damals wie heute hatte seine Mutter ihren Tag in der Fabrik verbracht. Johnny hatte seinem Bruder Väterchen und Mütterchen sein müssen.

      Es war, als könnte man Will ansehen, daß alles sich ihm fügen und nach ihm richten mußte. Er war ziemlich kräftig und schwer gebaut, ebenso groß wie sein älterer Bruder und wog noch mehr als er. Es sah fast aus, als wäre das Lebensblut des einen in die Adern des andern übertragen. Und dasselbe galt von ihrem Temperament. Johnny war müde und abgehetzt, ohne die Fähigkeit, sich aufzurichten, während sein jüngerer Bruder einen unbeugsamen, überströmenden Lebensmut zu besitzen schien.

      Das Necklied erklang immer lauter. Im Tanze beugte Will sich vor und streckte die Zunge aus. Johnnys linker Arm fuhr hastig vor und packte den Hals des Bruders, während seine knochige Faust gleichzeitig dessen Nase traf. Es war eine traurig knochige Faust; daß sie aber etwas ausrichten konnte, zeigte deutlich der Schmerzensschrei, den der Schlag hervorrief. Die anderen Kinder schrien laut vor Schreck, während Johnnys Schwester Jenny ins Haus lief.

      Er stieß Will von sich, gab ihm einen verbitterten Fußtritt gegen das Schienbein, packte ihn dann wieder und stieß sein Gesicht gegen die Erde. Er ließ ihn auch nicht los, ehe er ihm das Gesicht ein paarmal in den Schmutz gestoßen hatte. Dann erschien die Mutter, ein blutarmer Sturmwind von Kummer und Mutterzorn.

      »Warum kann er mich nicht in Frieden lassen«, lautete Johnnys Antwort auf ihre Vorwürfe. »Kann er denn nicht sehen, daß ich müde bin?«

      »Ich bin ebenso groß wie du«, rief Will wütend in den Armen der Mutter, und sein Gesicht war von Tränen, Schmutz und Blut beschmiert. »Ich bin schon ebenso groß wie du, – und ich werde noch größer. Und dann verkeile ich dich – darauf kannst du dich verlassen!«

      »Wenn du so ein großer Junge bist, solltest du wirklich schon arbeiten!« sagte Johnny


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