Nur Fleisch. Jack London

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Nur Fleisch - Jack London


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er ist doch noch zu jung«, wandte sie ein. »Er ist doch noch ein kleiner Junge.«

      »Ich war jünger als er, als ich zu arbeiten anfing.« Johnny wollte noch mehr sagen, um seinen Gefühlen Luft zu machen, dann aber biß er hastig die Zähne zusammen, machte kehrt, schlürfte ins Haus und ging zu Bett. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, damit er ein bißchen Wärme aus der Küche bekam. Als er sich im Halbdunkel entkleidete, konnte er seine Mutter mit einer Nachbarin sprechen hören, die zu Besuch gekommen war. Seine Mutter weinte, und ihre Worte wurden hin und wieder von einem verzagten Schnaufen unterbrochen.

      »Ich kann nicht begreifen, was mit Johnny los ist«, konnte er sie sagen hören. »So ist er noch nie gewesen. Er war immer ein geduldiger kleiner Engel. – Und er ist auch ein guter Junge«, fügte sie schnell zu seiner Verteidigung hinzu. »Er hat brav gearbeitet, und er hat auch zu früh damit angefangen. Aber es war nicht meine Schuld. Ich versuche es so gut zu machen, wie ich kann – das weiß Gott!«

      Ein langandauerndes Schnaufen ertönte aus der Küche, und Johnny murmelte bei sich, wahrend seine Augen sich schlossen: »Ja, du kannst dich drauf verlassen, ich habe brav gearbeitet!« Am nächsten Morgen riß seine Mutter ihn buchstäblich aus den Armen des Schlafes. Dann kamen das sparsame Frühstück, die schwere Wanderung durch die Dunkelheit und der bleiche Schimmer des Tages über den Dächern, dem er, durch das Fabriktor schreitend, den Rücken kehrte. Es war ein neuer Tag, ein Tag wie viele andere, denn seine Tage waren alle gleich.

      Und doch hatte es Abwechslung in seinem Dasein gegeben – wenn er von einer Arbeit zur anderen übergegangen, oder wenn er krank gewesen war. Mit sechs Jahren war er Väterchen und Mütterchen für Will und die andern, noch kleineren Kinder gewesen. Mit sieben Jahren hatte er angefangen, in den Fabriken zu arbeiten – Garn aufzuspulen. Mit acht Jahren hatte er in einer anderen Fabrik Arbeit bekommen. Seine neue Arbeit war wunderbar leicht. Alles, was er zu tun hatte, war, daß er mit einem kleinen Stock in der Hand einen Strom von Tuch lenken mußte, der an ihm vorbeifloß. Dieser Tuchstrom kam aus einer mächtigen Maschine, ging über eine warme Trommel und dann weiter in andere Gegenden. Johnny saß immer an derselben Stelle, wo das Tageslicht nie hingelangte, und wie er unter einer Gasflamme dasaß, war es, als bildete er selbst einen Teil der Maschinerie.

      Trotz der feuchten Wärme war er sehr glücklich bei der Arbeit, denn er war noch jung und hatte seine Träume und Illusionen. Und er träumte wundersame Träume, während er auf das dampfende Tuch sah, das immer weiter an ihm vorbeiströmte, als sollte es kein Ende nehmen. Aber seine Arbeit erforderte keine Bewegung, nichts, was seine Gedanken erregte, und er träumte immer weniger, während seine Seele träge und schläfrig wurde. Dennoch verdiente er zwei Dollar wöchentlich, und die zwei Dollar trennten ihn von akutem Hunger und chronischer Unterernährung. Mit neun Jahren aber verlor er diese Stellung. Die Masern waren schuld daran. Als er wieder gesund war, erhielt er Arbeit in einer Glasfabrik. Der Lohn war höher, und die Arbeit erforderte eine gewisse Tüchtigkeit. Es war Akkordarbeit, und je tüchtiger er war, um so höher war sein Lohn. Hier hatte er einen Ansporn zur Arbeit, und unter diesem Ansporn entwickelte er sich zu einem ausgezeichneten Arbeiter. Es war eine einfache Arbeit – die Befestigung von Glaspfropfen auf kleinen Flaschen. Am Gürtel trug er eine Rolle Bindfaden. Die Flaschen hielt er zwischen den Knien, so daß er mit beiden Händen arbeiten konnte, und in dieser Stellung saß er zehn Stunden täglich, die mageren Schultern hochgeschoben und die Brust eingeengt. Es war nicht gesund für die Lunge, aber er schaffte dreihundert Dutzend Flaschen täglich.

      Der Fabrikleiter war sehr stolz auf ihn und benutzte ihn als Schauobjekt für Besucher. Im Laufe von zehn Stunden gingen dreihundert Dutzend Flaschen durch seine Hände. Das heißt, daß er tatsächlich die Vollkommenheit einer Maschine erlangt hatte. Alle Bewegungen, die eine Vergeudung von Kräften bedeuteten, waren beseitigt. Jede Bewegung der mageren Arme, jede Bewegung in den Muskeln der dünnen Finger war schnell und genau. Er arbeitete unter beständigem Hochdruck, und das Ergebnis war, daß er nervös wurde. Nachts arbeiteten seine Muskeln weiter, und am Tage konnte er sich nie von der inneren Erregung befreien und sich ausruhen. Er blieb dauernd bis zum äußersten angespannt, und seine Muskeln arbeiteten weiter. Er wurde gelb und blaß, sein Husten verschlimmerte sich. Da packte Lungenentzündung die schwache Lunge in der eingeengten Brust, und er verlor seine Arbeit in der Glasfabrik.

      Hierauf war er zur Jutefabrik zurückgekehrt, wo er zuerst gespult hatte. Aber er sollte bald befördert werden. Der nächste Schritt war die Stärkerei, und dann kam die Webstube. Dann gab es nichts weiter, außer erhöhter Fertigkeit.

      Die Maschine lief schneller als zu der Zeit, da er mit der Arbeit begonnen hatte, und sein Gehirn ging langsamer. Jetzt träumte er überhaupt nicht mehr, obwohl er früher viele Träume geträumt hatte. Einmal war er verliebt. Das war in der ersten Zeit, als er begonnen hatte, das Tuch über die warmen Trommeln zu führen, und es war die Tochter des Betriebsleiters, in die er verliebt war. Sie war sehr viel älter als er, ein erwachsenes junges Weib, und er hatte sie nur fünf- oder sechsmal aus der Ferne gesehen. Aber das machte nichts. In dem Tuchstrom, der an ihm vorbeiglitt, sah er beständig strahlende Bilder einer Zukunft, in der er eine phänomenale Arbeit leistete, wunderbare Maschinen erfand, Besitzer der Fabrik wurde und zuletzt die Geliebte in seine Arme schloß und ehrbar auf die Stirn küßte.

      Aber das gehörte alles jener fernen Vergangenheit an, ehe er zu alt und müde geworden war, um zu lieben. Im übrigen hatte sie sich auch verheiratet und war weggezogen, und sein Gehirn hatte zu schlafen begonnen. Und doch war es ein wundersames Gefühl gewesen, und er dachte daran zurück, wie Männer und Frauen an die Zeit zurückdenken, da sie an Elfen glaubten. Er hatte nie an Elfen oder den Weihnachtsmann, felsenfest aber an die lächelnde Zukunft geglaubt, die seine Phantasie in den dampfenden Tuchstrom verwebt hatte.

      Er war sehr jung ein erwachsener Mensch geworden – ja, tatsächlich war er es von dem Tage an, als er seinen ersten Wochenlohn erhielt. Da hatte er begonnen, sich unabhängig zu fühlen, und das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter hatte sich verändert. Jetzt, da er selbst Geld verdiente und durch seine eigene Arbeit in der Welt zum Unterhalt der Familie beitrug, war er mehr ihresgleichen. Ein Mann, ein vollentwickelter Mann, war er im Alter von elf Jahren geworden, als er ein halbes Jahr in der Nachtschicht gearbeitet hatte. Kein Kind arbeitet in der Nachtschicht und bleibt dabei Kind.

      Es hatte mehrere große Ereignisse in seinem Leben gegeben. Eines davon war gewesen, wie seine Mutter einige kalifornische Pflaumen kaufte. Die beiden anderen Male hatte sie Creme für die Kinder bereitet. Das waren wirklich Ereignisse gewesen. Er erinnerte sich ihrer mit Freundlichkeit. Und einmal hatte seine Mutter ihm von einem ganz wunderbaren Gericht erzählt, das sie ihnen einmal machen wollte – »Götterspeise« hatte sie es genannt – etwas, das »viel besser als Creme« war. Mehrere Jahre lang hatte er sich auf den Tag gefreut, da er sich an den Tisch setzen und Götterspeise essen sollte – bis er schließlich den Gedanken als eines der unerreichbaren Ideale beiseite schob.

      Einmal fand er fünfundzwanzig Cent auf dem Bürgersteig. Das war auch ein großes Ereignis in seinem Leben – aber ein tragisches. Im selben Augenblick, als er die Silbermünze erblickte, noch ehe er sie aufgehoben hatte, wußte er, was seine Pflicht war. Zu Hause hatten sie wie gewöhnlich nichts zu essen, und er hätte das Geld heimbringen sollen, wie er es an jedem Sonnabend mit seinem Wochenlohn tat. Was in diesem Fall das richtige war, stand fest, aber er hatte sein Geld nie selbst verbrauchen dürfen, und ihn quälte ein wütender Drang, sich Bonbons zu kaufen. Er konnte seine Sehnsucht nach Süßigkeiten, die er bisher nur bei sehr feierlichen Gelegenheiten geschmeckt hatte, kaum beherrschen.

      Er versuchte nicht, sich etwas vorzumachen. Er wußte, daß es Sünde war, und er sündigte mit voller Überlegung, als er ganze fünfzehn Cent für Bonbons gebrauchte. Zehn Cent bewahrte er für eine spätere Ausschweifung auf, da er aber nicht gewohnt war, Geld bei sich zu haben, verlor er es. Das geschah zu dem Zeitpunkt, da er alle Qualen eines schlechten Gewissens litt, und war für ihn der Ausdruck göttlicher Vergeltung. Er hatte das ängstliche Gefühl von der Nähe eines furchtbaren, erbitterten Gottes. Gott hatte es gesehen, und Gott hatte ihn schnell gestraft, indem er ihm einen Teil des Sündenlohnes vorenthielt.

      In der Erinnerung erschien ihm dieses Ereignis immer noch als die einzige große verbrecherische Tat seines Lebens, und wenn er daran dachte, erwachte


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