HASSO - Legende von Mallorca. Wolfgang Fabian
Читать онлайн книгу.genommen hat das ganze wählende deutsche Volk Schuld an dieser verdammten Völkerhasserei. Ein ganzes Volk ist dem teuflischen Führer hinterhergelaufen wie die Ratten und Kinder dem Rattenfänger von Hameln. Ein ganzes Volk hat den Teufel verglichen mit dem Heiland. Jetzt muss das alles ausgebadet werden. Vielleicht glaubt unser Volk der Herrenmenschen aber immer noch daran, auch Europa beherrschen zu können. Es ist zum Kotzen, Georg! Uns zieht man eine Uniform an und schickt uns zum Sterben nach Russland Was wissen wir denn schon von der Kriegsspielerei! Wir können noch nicht einmal ein Gewehr abfeuern. Hast du schon mal mit einem Gewehr geschossen? ... Nein? Ich auch nicht.«
Der Abend dämmerte herauf, als der Zug in den Bahnhof von Dnjepropetrowsk einlief. Steif in den Gliedern, verließen sie mit ihrer Ausrüstung den Waggon und strebten ohne Hast der Bahnhofshalle zu, in der sie vom Menschengewimmel aufgesogen wurden. Wie bisher in jeder Bahnhofsanlage erwartete sie das gleiche Bild, und wie bisher waren jüngere Männer und Frauen selten zu sehen. Die sich hier aufhielten, meistens mit viel Gepäck, mit Kisten und derb gefüllten Leinensäcken, sogar mit allerhand Federvieh in engen Käfigen, manche mit kleinen Kindern, waren ältere Jahrgänge, die sich alle in ihrem Äußeren glichen. Viele wussten sicherlich noch nicht einmal, wohin sie sich überhaupt wenden sollten. Andere wiederum, für die ihr Reiseziel feststand, die auf den für sie zutreffenden Zug hofften, warteten oft vergebens. An den beiden Längsseiten der Halle lagerten Trupps deutscher Infanteristen, die auch auf etwas Bestimmtes warteten. In kurzen Abständen dröhnten Lautsprecheransagen durch die Halle, in Russisch und Deutsch. Nach oft sich wiederholenden Durchsagen erhob sich der eine und andre Trupp, nahm Waffen und Ausrüstung auf und marschierte dem Ausgang zu in Richtung Bahnsteige. Die beiden Flüchtigen, anscheinend im Augenblick nichts zu befürchten, schauten sich in der dürftig beleuchteten Halle gründlich um. Feldgendarmen, die Kettenhunde, von denen sie einige bereits an der Rollbahn zu Gesicht bekommen hatten, waren nicht zu entdecken. Feldgendarmen galt ihre besondere Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich war den Soldaten regulärer Truppenteile noch gar nicht bekannt, dass Angehörige von bestimmten Strafeinheiten keine Schulterstücke auf ihren Uniformröcken trugen; vielleicht war ihnen noch nicht einmal bekannt, dass die Wehrmacht seit einiger Zeit Einheiten ins Feld schickte, deren Angehörige gerichtlich Verurteilte waren, vom unschuldigen KZ-Häftling bis zum Schwerverbrecher. Inzwischen waren viele dieser Männer zu Kompanien und Abteilungen zusammengefasst worden, die an besonders heiklen Abschnitten ins Feuer geschickt wurden. Sie kämpften mit Infanteriewaffen wie ihre Kameraden in der regulären Truppe und konnten sich durch besonderen Mut auszeichnen und sogar rehabilitiert werden. Nur war es allen infrage kommenden Sträflingssoldaten in der Regel nicht vergönnt, als zukünftig unbescholtene Männer ihre beurkundete Wehrwürdigkeit entgegenzunehmen, weil sie ihren nächsten Einsatz nicht überlebten.
Hasso und Georg glaubten nach längerer Überlegung, ihre Flucht nur von hier aus und in ihren ukrainischen Bauernklamotten fortsetzen zu können. In ihrem deutschen Feldgrau erneut einen Zug in Anspruch nehmen zu wollen, könne nicht immer so glatt verlaufen wie bisher. Eine Weiterreise in oder auf einem Zug in Richtung Westen oder Südwesten barg auch in zivilen Kleidungsstücken vielerlei Gefahren, glückte sie aber, dann könnten sie ihren jetzt noch unbekannten Zielen gewiss einige Hundert Kilometer näherkommen.
»Ich glaube, wir werden kaum einen günstigeren Ausgangsort für eine Fluchtfortsetzung finden«, sagte Hasso nach einer Weile des Beobachtens und Schweigens. »Hier wird es sicherlich Toiletten geben. Wir könnten uns dort umziehen, falls mit den Sachen, die uns der Offizier mitgegeben hat, tatsächlich etwas anzufangen ist.«
Der Abortbereich, von einer Toilettenanlage nach bekanntem Muster konnte keine Rede sein, war ein Bau im Bau. Am äußersten Ende einer Hallenwand lehnte ein lang gestrecktes, flaches Holzgebäude mit einem Flachdach, das aus auf Lücke aufgenagelten Brettern bestand, was dem Luftaustausch dienen sollte. Mit weniger als zwei Metern Abstand führten acht Türen in die einzeln abgetrennten Abortzellen. Seine Notdurft verrichtete man stehend in skurriler Haltung.
Hasso und Georg wechselten die Kleider, jeder in einer Abortzelle. Als sie davor wieder zusammentrafen, steckten ihre Uniformteile mit ihren anderen persönlichen Sachen eng eingerollt in ihren Rucksäcken. Nun standen sie sich mit abwägenden, musternden Blicken gegenüber, und jeder fand, dass ihre grauen Joppen und erdfarbenen Hosen zu weit geschnitten waren, was ihnen aber nur recht war. Besser zu weit als zu eng, waren sie sich einig. Joppe und Hosen waren aus groben, schweren Leinen gewebt, warm gefüttert wie auch die Joppen. Durch die Schlaufen der Hosen war eine reißfeste Kordel gezogen, eine weitere Kordel umschlang in Hüfthöhe ihre Joppe. Dass ihre Wehrmachtsrucksäcke Verdachtmomente auslösen könnten, befürchteten sie nicht. Solche und ähnliche Rucksäcke trugen fast alle Sowjetbürger auf ihrem Rücken. Hasso und Georg unterschieden sich ab sofort nicht mehr von den hier anwesenden Einheimischen, die teils wesentlich schlechter gekleidet waren. Nur wenigen Menschen war anzusehen, dass sie höheren Kreisen angehörten oder angehört hatten. Ein besonderes Problem sahen Hasso und Georg darin, sich mit Ukrainern verständigen zu müssen. Doch auf diese Problematik – beide wollten sich stumm stellen –, wie auch auf die ständigen Verpflegungs- und Hygieneprobleme, soll im weiteren Verlauf nur noch eingegangen werden, wenn sie in besonderen Situationen zur Vervollständigung des Bildes gehört. Denn es kann getrost vorweggenommen werden, dass beide bis zum Ende ihrer Flucht nicht verhungert sind.
An manchen Orten waren Verpflegungsstellen eingerichtet worden. Solch eine von Einheimischen erstellte Einrichtung für hilfebedürftige Mitbürger, deren Zuhause dem Krieg zum Opfer gefallen war, befand sich auch im Bahnhof von Dnjepropetrowsk. Noch war das alles möglich, da die Vergeltungsaktionen großen Umfangs nachrückender deutscher Säuberungstrupps sich noch nicht flächendeckend auswirkten. Hasso und Georg reihten sich bei den Verpflegungsempfängern ein. Als sie an die Reihe kamen, erhielten sie einen Blechnapf mit einer Steckrübensuppe. Das Geschirr gaben sie später nicht zurück, da sie sich zukünftig dort, wo es ihnen zu brenzlich werden könnte, mit ihrem Landser-Kochgeschirr nicht verdächtig machen wollten. Vom Hauptbahnsteig aus war nicht zu erkennen, wie viele Züge auf den parallel verlaufenden Gleisanlagen standen. Viele Verbindungen zwischen den Städten waren unterbrochen, Gleis- und Bahnhofsanlagen zerstört. Die Arbeiten deutscher Pioniere wurden oft unterbrochen durch Anschläge von Partisanen, was natürlich Opfer forderte. Auch das war ein Grund, Strafeinheiten aufzustellen, die an wichtigen Verkehrsstrecken Handlangerdienste für die Pioniere verrichteten.
Hasso und Georg stiegen von Bahnsteig zu Bahnsteig, um herauszufinden, wohin Personen- und Güterzüge fahren sollten. Die beiden Neu-Ukrainer glaubten bald gefunden zu haben, was sie suchten. Es war ein Zug mit etlichen geschlossenen Güterwaggons, deren Anzahl sie nicht interessierte. Nur die vier letzten fanden ihre Aufmerksamkeit. Es handelte sich um Personenwagen, auf deren Dächer sich teilweise erkennbar Einheimische niedergelassen hatten. Der Zug sollte, wenn das Hinweisschild an dem Laternenpfahl vor einem der Waggons, versehen mit einheimischen und deutschen Buchstaben, nicht trog, nach Odessa fahren. Die beiden Flüchtlinge zögerten nicht, kletterten über die an jeder Wagenrückseite angebrachten Eisenleiter auf das Dach des letzten Waggons, wo sie sich unter den bereits dort Hockenden einen Platz suchten. Sie hatten gar nicht erst einen Blick in das Innere der Personenwagen gewagt, denn die nicht zu überhörenden Geräusche aus dem Innern verrieten eindeutig die Belegung mit deutschen Soldaten. Zunächst zufrieden, auf einem flachen Wagendach die Nacht überstehen zu können, hofften sie, auch von eventuellen Regenschauern verschont zu bleiben. In ihrer körperlichen Verfassung hätten sie sich durchnässt schnell eine fiebrige Erkältung zuziehen können. Überhaupt galt neben ihrer ständigen Angst, erwischt zu werden, die Sorge um ihre Gesundheit. Und drittens drehten sich ihre Gedanken darum, wie an Nahrung heranzukommen sei. Während der Fahrt sprachen sie nur wenig, unauffällig für jene, die hinter ihnen hockten oder lagen. Auch wenn ihr Sprechen in der nicht sehr dunklen Nacht das Rattern und das sich Schütteln des verhältnismäßig langsam fahrenden Zuges nicht durchdrang, wollten sie nichts riskieren. Sollten sie angesprochen werden, wann und wo auch immer, Männer, die nicht als Angehörige der Roten Armee mithalfen, das Vaterland zu verteidigen? Es war ihnen inzwischen äußerst klargeworden, im Verlauf ihrer Flucht vieles beachten und abwägen zu müssen, um durchführbare Entscheidungen zu treffen. Und sie kamen gedanklich immer mehr auf die Frage zurück, ob sie, die in jeder Hinsicht Unerfahrenen in Sachen Desertion und bisher nur vom Glück Begünstigten, ihr Vorhaben tatsächlich erfolgreich zu