HASSO - Legende von Mallorca. Wolfgang Fabian
Читать онлайн книгу.nur selten zu finden, denn andere Menschen suchten ebenfalls danach, um es in den Aborten zu benutzen. Es ging auf den Winter zu, in der Halle aber war es warm. Es war die Zeit, in der sich die sechste Armee in der Schlacht um Stalingrad befand, die bekanntlich im Februar '43 zugunsten der Sowjets endete. ‒ Hasso und Georg versuchten, immer einen Platz weit ab von den breiten, zugigen Ein- und Ausgängen zu belegen. Sie fielen nicht auf, waren ein Teil der Menschen, die hier ebenfalls die Tage und Nächte verbrachten. Und sie hielten sich streng daran, in der Nähe anderer nicht zu sprechen. Ihr Hauptaugenmerk galt nach wie vor deutschen Soldaten, hauptsächlich Kettenhunden. Konnten sie ihnen nicht ausweichen, dann verhielten sie sich gleichgültig, vermieden den Augenkontakt. Gesichtsausdruck und der Blick der Augen könnten bei Beurteilungsfähigen irgendwelche Verdächtigungen aufkommen lassen.
Da die beiden momentan keine weiteren Fluchtmöglichkeiten erkennen konnten, war der Hauptbahnhof von Odessa gewissermaßen ihr Wohnsitz. Was ihre armselige, aber derbe Kleidung betraf, so achteten sie penibel darauf, sie nicht verdrecken zu lassen und natürlich sich selbst einigermaßen sauber zu halten. Glücklicherweise verfügte jeder von ihnen über ein klappbares Rasiermesser, das sie aber nicht täglich benutzten. Schon am zweiten Tag nach ihrer Ankunft waren sie hinunter zum Hafen marschiert, der nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt lag, dessen gewaltige Länge sie aber nicht ahnen konnten. Dringlicher war, ihre Stiefelsohlen nicht unnötig abzunutzen. Sonderbarerweise waren sie, die sogenannten Knobelbecher, nicht mit den üblichen Nägeln beschlagen. Im Hafengebiet galt ihr Augenmerk ausnahmslos den dort liegenden Frachtschiffen und deren Herkunft, doch sie boten keinen Anhaltspunkt für eine weitere Fluchtmöglichkeit. Ihren Hafenbesuch wiederholten sie noch zwei Mal. Schließlich verwarfen sie ihre Hoffnung, ein Frachter könne sie in ein Land nach ihren Vorstellungen mitnehmen. Es wäre ihnen noch nicht einmal möglich gewesen, gefahrlos an Bord eines Schiffes zu gelangen. Und so saßen sie am Ende verwirrter und niedergeschlagener als je zuvor wieder in der Bahnhofshalle. Mekka, Mozambique und selbst die Türkei könnten sie als Fluchtziel vergessen. Oder ob sie die Türkei doch als eventuelles Fluchtziel ins Auge fassen sollten... oder vielleicht auch Griechenland? Dann wohl lieber Griechenland, denn in der Türkei seien die dortigen politischen Gegebenheiten zu misstrauen. Seit jeher wären die Türken mal mehr, mal weniger mit dem Deutschen Reich befreundet. Die würden sie mit Sicherheit ausliefern. Mit den Griechen sehe das bestimmt ganz anders aus. Jedenfalls sei die Fortsetzung ihrer Flucht nur auf dem Landweg zu bewerkstelligen.
Sie dachten wiederholt an Griechenland, sprachen darüber. Doch bald dachten sie an gar kein Land mehr. Es schien alles so aussichtslos, so hoffnungslos zu sein … nun ja, bis sie Rumänien wieder näher betrachteten. Dieses Land behielten sie im Sinn, einerseits, weil die Entfernung dorthin vorstellbar war, andrerseits könnten sie Deutschland näherkommen, auch wenn sie keine Fahrgelegenheit vorfänden. Dass die Rumänen Deutschlands Verbündete waren, übersahen sie nicht, stuften das aber weniger gefährlich für sie ein ... und gerade in dieser Hinsicht sollten sie irren. Sie hatten immer nur Länder als Fluchtziel im Sinn, die nicht an Deutschlands Grenzen stießen. Rumänien war solch ein Land. Dass sie in jedem andern Land, ob mit Deutschland verbündet oder nicht, aufgegriffen werden könnten, darüber sprachen sie öfter. Also sollte es Rumänien sein, ein mit Deutschland verbündetes Land. Irgendwo von dort aus dann unentdeckt nach Österreich oder in die Heimat zu ge-langen, wäre für sie natürlich ein hoffentliches Ende ihrer Flucht. In Österreich wie in Deutschland wohnten sicherlich mehr Nazigegner, als anzunehmen sei, war ihre ihnen Mut machende Meinung, wenngleich es schwierig sei, die entsprechenden Gönner oder Hilfsbereiten ausfindig zu machen, die willens wären, sie zu schützen, sie irgendwie zu verstecken. Könnten sie unterschlüpfen, stünden dann nicht auch schon die nächsten Probleme an? Sie müssten zu einer neuen Identität kommen, ging ihnen durch den Kopf, erst recht, wenn Deutschland den Krieg für sich entscheiden würde. Am besten wäre es, sagten sie sich, Deutschland würde ganz schnell den Krieg verlieren, aber das schien ihnen undenkbar zu sein.
Die Zukunft der beiden sah alles andere als hoffnungsvoll aus. Und damit ihnen nicht das letzte Fünkchen Mut verließ, redeten sie sich standhaft ein, dass sie alle ihre künftigen Probleme gewiss in jedem Lande zu lösen hätten. Dieser Tatsache wollten sie sich auch keinesfalls verschließen. Sie versuchten nun, etwas genauer mögliche Ziele anzusprechen, auch Ziele, von denen sie sich kein Bild machen konnten. Von Rumänien nach Deutschland oder Österreich? »Es ist zum Verrücktwerden«, schimpfte Hasso. »Weißt du, wie viele Länder von Rumänien aus dann noch zu durchreisen wären?« Hasso war derjenige von den beiden, der anscheinend intensiver über Pläne und Durchführungsmöglichkeiten nachdachte. Er setzte hinzu: »Aber welche Länder und Entfernungen das auf direktem Wege sind, kann ich ohne Karte so aus dem Stegreif auch nicht sagen.«
»Das wird so sein, wie du sagst«, war auch Georg Mohrs Meinung, »ohne Karte können wir nicht planen und entscheiden.«
»Wir müssen uns aber entscheiden, Georg. Ohne genau überdachte Zwischenzielsetzungen ist unsere Überlebenschance geringerer. Fehler und Unaufmerksamkeiten können wir nie ausschließen. Erfahrungen sammelten wir ja bereits. Mir kommt da in den Sinn, falls du nicht eine andere, vielleicht eine bessere Möglichkeit siehst, dass wir uns Griechenland als Ziel setzen sollten. Griechenland grenzt an Bulgarien. Die Griechen sind Deutschland spinnefeind. Ich meine, wenn wir uns dort sofort als Nazi-Gegner und ehemalige KZ-Insassen zu erkennen geben, dann glaube ich nicht, dass die uns feindselig behandeln würden. Also, Georg, Griechenland wäre, wenn wir Rumänien und Bulgarien denn schafften, bestimmt das nächstmögliche Ziel. Wie die Situation in Bulgarien ist, wie es an den Grenzen zugeht und welche Rolle die Deutschen spielen, das wissen wir natürlich nicht, wir wissen nur, dass es uns an den Kragen geht, wenn wir geschnappt werden. Glaubhaft herausreden, das können wir uns nicht mehr.«
Das war bislang Hassos längste Einschätzung ihrer Situation. Georg hatte nur aufmerksam zuhören können. Hasso war für ihn der Wegweiser, der Hoffnungsträger. Also erst einmal Rumänien ins Auge fassen.
Dieses Mal fanden sie nicht so rasch einen Zug. Tag um Tag verging. Die Tage wurden kürzer, dunkler und kälter. Ende November wurde endlich ein Zug, je zur Hälfte mit Personen- und Güterwaggons, zusammengestellt. Das Wort Braila wurde von Bahnarbeitern mit Kreide an die Wagenwände geschrieben. Warum von hier aus, dem Sowjetland, ein Zug in ein mit Deutschland verbündetes Land eingesetzt wurde, war natürlich nicht ungewöhnlich. Welche Menschen und welches Material der Zug transportieren werde, darüber machten sich die beiden Flüchtigen keine Gedanken.
Bis zum frühen Morgen mussten Hasso und Georg noch warten, bis sie ihren Zug besetzen konnten. Es war ein Zug mit nicht mehr als sechs geschlossenen Güterwaggons. Was sie verbargen, was sie transportieren sollten, war nicht zu erkennen. Hasso und Georg hatten sich von der Bahnhofshalle aus einem Trupp von Arbeitern, die Schaufeln, Spitzhacken und eine Art Brotbeutel mit sich trugen, angeschlossen. Sie hielten einige Schritte Abstand zu den vor ihnen Gehenden, um von ihnen nicht angesprochen zu werden. Der Trupp aber verhielt sich schweigsam, kein Wort wurde untereinander gewechselt. Die Männer waren vermutlich einheimische Häftlinge. Hasso und Georg vermittelten den Eindruck, als gehörten sie zu ihnen. Angeführt wurden die Arbeiter von zwei Männern, die weiße Oberarmbinden trugen, auf die ein Buchstabe gedruckt war. Noch ein paar Schritte, und die beiden Männer entriegelten am vorletzten Waggon die Schiebetür und schoben sie zur Seite, woraufhin sich die Arbeiter ins Innere des Waggons hangelten. Als die Tür wieder zugeschoben wurde, saßen Hasso und Georg bereits im hinteren Bremserhäuschen des letzten Waggons. Die beiden Männer mit den hellen Oberarmbinden waren nach dem Verschließen des Waggons in Richtung Zuganfang gegangen. Auf dieser Seite des Bahnsteigs hielten sich, allerdings in großen Abständen, nur wenige Menschen auf. Deutsche Uniformen bekamen die beiden Fahnenflüchtigen in diesen Minuten nicht zu Gesicht. Sie hofften, dass dieser Zug tatsächlich nach Braila fuhr, Braila in Rumänien, nicht allzu weit entfernt von der Sowjetgrenze, deren Übergänge nun nicht mehr von den Sowjets bewacht und kontrolliert wurden. Sollten Hasso und Georg es schaffen, von Braila aus die rumänisch-bulgarische Grenze zu überwinden, dann war bis zur bulgarisch-griechischen Grenze nur noch ein verhältnismäßig kurzes Stück zurückzulegen. Doch was war ein kurzes Stück? … Die Lage der Länder hatten sie in ihrer Schulzeit gelernt und noch ziemlich klar im Kopf, nicht aber die für sie demnächst zu bewältigenden Entfernungen. Nun hockten sie in ihrem Versteck und dachten über diese Dinge nach, aber auch