Uppers End. Birgit Henriette Lutherer

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Uppers End - Birgit Henriette Lutherer


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Leider fehlte mir ein Gegenpol dazu. Meine Schattenaspekte waren ja noch gut behütet bei Kanep. Mithin fehlte mir der Knauser, der mein Essverhalten in ein vernünftiges Maß gebracht hätte. Also futterte ich munter drauf los. Zunächst war es Milch, bald darauf Brei und dann endlich, ich muss etwa zehn Monate alt gewesen sein, durfte ich die erste feste Nahrung zu mir nehmen. Wie war das herrlich! Dieses angenehm raue Gefühl groben Weißbrots auf der Zunge zu spüren war ein Erlebnis. Das war schon was anderes, als dieser Breiglibber, der entweder im Mund pappte oder viel zu schnell in meinen Schlund rutschte. Dieses Stückchen Brot war herrlich! Erst trocken, dann nasser, bald breiig, aber angenehmer als Brei es je für mich gewesen war – und dieser Geschmack – einfach fantastisch! Doch das allerbeste sollte noch kommen: Als Hannah bemerkte, wie sehr ich dieses kleine Stückchen Brot genoss, reichte sie mir ein weiteres. Dieses Mal hatte sie es auf einer Seite mit Butter und Leberwurst bestrichen. Nachdem sie es mir vorsichtig in meinen Mund geschoben hatte, erlebte ich geradezu eine Geschmacksexplosion. Dieses Stückchen Brot übertraf das erste um Längen. Es war köstlich! Dieser Geschmack von Brot und Butter und Leberwurst, und das Gefühl, wie sich das gröbere Brot mit dem Belag in meinem Mund vermengte und zu einer cremigen Masse wurde, das war toll. Seit diesem Zeitpunkt wollte ich keine süße Breipampe mehr essen.“

      „Daran erinnere ich mich noch genau“, schmunzelte Hannah. „Du warst damals kaum satt zu kriegen. Du wolltest alles essen, was wir auch aßen. Nach und nach habe ich dich jeweils probieren lassen. Ich glaube, wenige Wochen später, als du etwa ein Jahr alt warst, habe ich dir gar keine Babynahrung mehr gegeben. Es machte keinen Sinn, denn du hast den Brei einfach wieder ausgespuckt. Da konnte ich schimpfen und machen, was ich wollte.“

      „Ja, das Zeug war auch abscheulich. Süße Pampe, igittigitt! Wurst und Brot und Käse und Schinken und natürlich Butter – hmm, das waren die wirklich leckeren Sachen.“ Linda schwärmte immer noch bei dem Gedanken an diese

      Leckereien.

      Hannah erinnerte sich weiter: „Es machte mir Spaß, zuzusehen, wie es dir schmeckte. Ich hielt dir ein Stück frischen Gouda hin, und du hast mit Wonne hineingebissen. Wenn ich dich nicht gebremst hätte, hättest du den ganzen großen Block Käse aufgegessen. Es gab wenig, was du nicht mochtest. Wenn ich es so recht bedenke, war das nur Milchsuppe mit Haferflocken, Makkaroni in Milch gekocht mit Dörrobst und Rübenkraut. Da konntest du richtig wütend werden, wenn das auf den Tisch kam. Aber das waren glücklicherweise die einzigen Dinge, die du damals verschmäht hast. Jedenfalls musste ich mir endlich keine Sorgen mehr machen um dein Gedeihen. Deine Entwicklung ging prächtig voran.“

      „Zu prächtig“, erinnerte sich Linda. „Bald war ich so dick, dass meine Speckrollen mich daran hinderten, mich so zu bewegen, wie ich wollte. Ich weiß noch, wie Ute und Hans mich gehänselt haben. Dicke, fette Fumm haben sie mich genannt und gelacht, wenn ich versucht habe mich am Tisch hochzuziehen, weil ich stehen wollte, es mir aber nicht gelang. Ich wurde fuchsteufelswild, wenn sie das machten. Meine Wut steigerte sich dann ins Unermessliche. Das hatte zur Folge, dass ich noch wütender wurde. Vor lauter Wut lief mein Gesicht rot an. Das nahmen die beiden natürlich zum Anlass, mich noch mehr zu ärgern. Ich hätte platzen können vor Wut. Rote, dicke, fette Pute nannten sie mich und lachten mich aus. Wenn unsere Mutter hinzukam, um nach dem Rechten zu sehen, rettete mich das auch nicht. Sie lachte einfach mit. Ich war stocksauer.“

      „Das sah aber auch zu drollig aus, was du da so gemacht hast.“

      „Drollig?! Ich glaub es hackt! Weißt du, wie das ist, wenn man sich nach Kräften bemüht, trotzdem scheitert und zum guten Schluss auch noch ausgelacht wird? Deine Hilfe hätte ich gebraucht. Ein paar aufbauende Worte hätte ich gebraucht. Deine fürsorgliche Begleitung hätte ich gebraucht – aber ganz bestimmt nicht das! Und genau das habt ihr immer und immer wieder mit mir gemacht. Egal, was ich auch vollbrachte, es war immer nur drollig. Keiner von euch hat jemals meine Leistungen gewürdigt – ganz im Gegenteil! Und wenn ich dann besser war als meine lieben Geschwister, dann war es erst recht nicht gut, denn das durfte auf gar keinen Fall sein. Weißt du noch Hannah, als du versucht hast, Hans den einfachen Dreisatz zu erklären? Ich weiß es noch genau. Hans ging schon fünf Jahre lang zur Schule, ich noch nicht. Ich sollte in einigen Monaten endlich eingeschult werden. Ich freute mich so sehr darauf. Nun ja, Hans brütete über seinen Hausaufgaben. Es wollte ihm nicht gelingen, seine Rechenaufgaben zu lösen. Du kamst ihm zu Hilfe und ich gesellte mich dazu, denn mir war langweilig. Also hörte ich zu: ´Peter hat zwölf Bonbons. Er möchte sie mit seinen beiden Freunden teilen. Wie viel Bonbons bekommt jeder von ihnen? ´. Ich weiß, ich weiß es, rief ich. Du schautest mich an, seufztest und schicktest mich weg. Ich war so stolz, die Lösung zu wissen, aber ich wurde von dir einfach nur missbilligend weggeschickt. Im Weggehen rief ich: vier! Ich ging enttäuscht ins Kinderzimmer und malte ein Bild. Mit Buntstiften malte ich Bäume, Gras, Pilze und mittendrin einen Hirsch. Ich fand das Bild wunderschön. Besonders schön fand ich meinen Hirsch mit dem großen Geweih auf dem Kopf. Als ich fertig war ging ich wieder ins Wohnzimmer. Hans hatte endlich seine Schularbeiten erledigt. Mittlerweile war auch Ute vom Spielen mit ihrer Freundin wieder zurück. Stolz präsentierte ich mein Gemälde. Ich wollte es Mama schenken. Doch statt Lob erntete ich Hohn. Ute und Hans prusteten sofort los, als sie meinen Hirsch sahen. `Wie sieht der denn aus? Hahaha, was hat der denn auf dem Kopf? Sind das Antennen? Nein, wie süß! Kann der die Kinderstunde im Fernsehen empfangen? Hahaha`. Auch du hast mitgelacht, Hannah.“

      „Linda, jetzt stellst du dich aber was sehr an! So schlimm, wie du das machst war das nun auch wieder nicht! Wenn du das erlebt hättest, was man mit mir gemacht hat, dann hättest du Grund dich zu beklagen.“

      „Das ist mal wieder typisch für dich. Immer musst du mich übertrumpfen wollen. Bei dir war immer alles viel schlimmer. Meins war nie schlimm genug, um überhaupt ernst genommen zu werden. Hannah, du hast da was gehörig verwechselt: Du warst meine Mutter und ich das Kind. Es war nicht meine Aufgabe, dich zu bemitleiden, sondern umgekehrt! Deine Aufgabe war

      es für mich zu sorgen und mich zu beschützen – verdammt noch mal!“

      „Was du wieder hast, Linda. Weißt du was, wenn du erst mal …“. Weiter kam Hannah nicht.

      „Fängst du schon wieder so an? Lass es doch einfach sein!“

      Hannah verschränkte beleidigt ihre Arme vor dem Körper.

      „Ich bin hier das Opfer, sieht das denn keiner?“, murmelte sie leise.

      Linda hatte das gehört. „Sicher sehe ich das. Ich sehe das Kind Hannah, das von seiner Familie nicht gut behandelt wurde. Das ist die eine Sache, aber das hat doch nichts mit mir zu tun. Ich brauchte Hannah, die Mutter, die sich um mich kümmert und es besser macht als ihre Familie damals. Manchmal denke ich, du wolltest aus mir eine Verbündete machen, die dich in deinem Leid bedauert. Habe ich Recht?“

      Hannah schwieg.

      „Also kann ich dein Schweigen als Zustimmung deuten?“

      Hannah schwieg beharrlich weiter.

      „Okay, lassen wir das! Wo war ich noch stehengeblieben? Ach ja, ich hab´s wieder: Ich wollte so laufen wie Ute und Hans. Also, ich ließ mich nicht frustrieren. Natürlich ärgerten mich die blöden Kommentare meiner Geschwister, und das andauernde Verniedlichen und Auslachen auch. Aber eines Tages gelang es mir dann: Ich konnte mich ganz alleine hinstellen und laufen. Zunächst war ich natürlich noch sehr wackelig auf den Beinen, doch ich übte fleißig und bald lief ich wie ein Döppken. Da lachte keiner mehr, denn ich zeigte es ihnen und lief allen davon. So zogen die Wochen ins Land. Bald war ich drei Jahre alt und konnte ziemlich viel von dem, was Ute und Hans konnten. Alles in allem war ich ganz zufrieden. Das sollte sich bald ändern, denn es geschah etwas Seltsames: Ich erkannte plötzlich die Menschen. Ich denke, das kam daher, weil ich mich nicht mehr so sehr auf mich selber konzentrieren musste. Ich beobachtete jetzt vermehrt meine Mitmenschen. Meine Bewegungsfähigkeit hatte ich ja mittlerweile gut erlernt. Die brauchte meine Aufmerksamkeit nicht mehr. Jetzt war was anderes dran. Ich vermute, meine Fähigkeit Menschen in ihrem Innersten zu erkennen, hatte ich aus meinem ursprünglichen Zuhause mitgebracht. Wahrscheinlich konnte ich das immer schon. Es war nur vollkommen aus meinem Fokus verschwunden, weil ich zu sehr damit beschäftigt war zu überleben und meine Bewegungsfähigkeiten


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