Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
Читать онлайн книгу.es am Ende vielleicht ihr Alter, das Schuld an allem war? Hatte sie mit ihrem dreißigsten Geburtstag vielleicht eine Art magische Schwelle überschritten? Aber wenn das so war, wie kamen dann all die anderen Leute damit zurecht und wieso wusste sie nichts davon?
Ihre Gedanken gingen noch einmal zurück zu ihrem letzten Besuch bei Dr. Pfeifer. Ihr alter Hausarzt hatte sie erneut beruhigt. Es sei nichts. Allerdings hatte er auch keine Anstrengungen unternommen, um etwas zu finden. Bisher hatte Tilda ihm immer vertraut. Jetzt, wo sie an ihn dachte, stieg ihr unwillkürlich wieder der strenge Geruch nach Desinfektionsmittel in die Nase, der immer durch die Räume seiner Praxis waberte und der von allen Gegenständen dort auszugehen schien.
Sie konnte sich genau erinnern. Der alte Arzt hatte sie durchdringend durch seine Brille mit den dicken Gläsern angesehen. Er hatte ein paarmal auf ihrem Bauch herumgedrückt und dann den Kopf geschüttelt. Sonst nichts. „Es ist nichts, Frau Johannsen“, hatte er gebrummt. „Das kommt vor. Wahrscheinlich ein Reizdarm. Sie sind doch Lehrerin.“ Er machte eine Pause und schaute sie vielsagend an. Tilda nickte. „Das ist ein anstrengender Beruf, nicht wahr?“, fuhr er fort. Eine weitere Diagnose hatte er nicht gestellt. Vielleicht hatte er am Ende sogar Recht. Vielleicht aber hatte er ihre Beschwerden auch gar nicht ernst genommen, weil sie bisher nie krank gewesen war.
Tilda versuchte sich zu erinnern. Sie war am Anfang des Jahres bei ihm gewesen und vor kurzem, im April, ein weiteres Mal. Genau wegen der Probleme, die sie immer noch plagten und die immer schlimmer zu werden schienen. Dr. Pfeifer hatte auch beim letzten Mal keine weiteren Untersuchungen veranlasst. Er hatte ihr nur den Blutdruck gemessen, hatte Lunge und Herz abgehört, kurz auf ihrem Bauch herum gedrückt, die Lymphknoten am Hals befühlt - und nichts gefunden. Er hatte sie nach Fieber gefragt. Fieber hatte sie nicht. Das war alles. Aus seiner Sicht war damit alles mit ihr in bester Ordnung. Noch nicht einmal ihr Blut hatte er untersuchen lassen. Natürlich war sie nicht übermäßig traurig darüber gewesen, als sie die Praxis verlassen hatte.
Sie erinnerte sich auch noch daran, dass Dr. Pfeifer sie für zwei Wochen krankschreiben wollte. Er war der Meinung gewesen, sie solle sich einfach mal ein paar Tage lang ausspannen. „So als Lehrerin hat man es doch schwer“, hatte er vage gesagt. Das war nichts Neues. Sie kannte seine Einstellung zu ihrem Beruf. Offenbar neigte er dazu, vieles damit in Verbindung zu bringen. Aber Tilda wollte sich nicht krankschreiben lassen. Sie fühlte sich auch nicht von ihrem Beruf gestresst. Wozu also vom Unterricht ausruhen? Sie wollte ihren Kollegen nicht die Arbeit mit ihren Schülern aufzwingen, während sie sich zu Hause auf die Couch legte und deshalb ein schlechtes Gewissen hatte. Vielleicht hätten sie sich am Ende noch das Maul über sie zerrissen, weil sie ja sooo krank gar nicht ausgesehen hatte…. Nein, so krank fühlte sie sich nun auch wieder nicht.
Und doch: In der größten Verunsicherung beruhigte sie dann Dr. Pfeifers Urteil schon irgendwie. Wenn er ihre merkwürdige Krankheit so entspannt sah, warum sollte sie sich dann so große Sorgen machen? Er war schließlich Arzt und er hatte ein ganzes Berufsleben lang nichts anderes getan, als in diesem Beruf zu arbeiten. Und solange es ihr phasenweise auch immer wieder gut ging, konnte es wirklich nicht so schlimm sein. Fieber hatte sie schließlich auch keins. Fieber bekam sie ohnehin sehr selten.
Tildas Blick fiel auf die in schwarz-weiß gehaltene Uhr an der Badezimmerwand. Ludwig hatte sie im letzten Winter dort angebracht, weil er wusste, dass er morgens im Bad immer viel zu lange brauchte. Die schwarzen, klobigen Zeiger der Uhr standen bereits auf 6.15 Uhr und der rote, schlanke Sekundenzeiger rannte unaufhörlich im Kreis. Die Uhr tickte leise und ungerührt vor sich hin, als wollte sie sagen: „Zu spät! Zu spät! Zu spät!….“
Tilda hasste Unpünktlichkeit. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: heute war sie einfach zu spät dran. Sie kam einfach nicht in Schwung an diesem Morgen. Ihr fehlte auch jeder Appetit. Fünf Kilo weniger in nur drei Monaten ohne das geringste Zutun. Langsam wurde ihr das unheimlich.
Eine halbe Stunde später kam Ludwig zu ihr in die Küche. Er sah zwar auch noch ein wenig verschlafen aus, aber man konnte selbst in diesem Zustand sehen, dass er ein schöner Mann war. Er war groß, breitschultrig und athletisch. Letzteres war nicht verwunderlich, denn er ging dreimal wöchentlich in sein Fitness-Studio. Es war ein Fitness-Studio, in dem hauptsächlich Männer trainierten, die sich an diversen Kraftmaschinen austobten. Tilda fand, dass es dort nach Männerschweiß und nach Käsefüßen roch. Einmal war sie dorthin mitgegangen, hatte sich aber dann gar nicht erst umgezogen. Ludwig allerdings schien es in seiner Muckibude gut zu gefallen. Es war noch nicht lange her, da war Tilda noch richtig stolz darauf gewesen, so einen gut aussehenden Mann an ihrer Seite zu haben. Sein dunkelbraunes Haar war perfekt geschnitten, was auch für seinen kurz gestylten Bart galt. Seine blauen Augen strahlten. Sie hatten dieses helle, fast schon eisige Blau, das in dieser Klarheit selten zu finden war und in auffallendem Kontrast zu seinem dunklen Haar stand. Wenn er Tilda mit diesen Augen ansah, dann fühlte sie sich jedes Mal sofort durchschaut wie ein kleines Mädchen. Ludwig wusste das und von Zeit zu Zeit nutzte er das natürlich für sich aus. Jetzt drückte er ihr einen leichten Guten-Morgen- Kuss auf die Wange und lächelte: „Alles gut, Schatz?“
Tilda sah ihn einen kurzen Moment lang an und lächelte gequält: „Mmmm, naja. Geht so!“
Ludwig ließ sich auf einen der vier Küchenstühle mit den schreiend bunt gemusterten Stuhlkissen in pink und orange fallen, die ein Geschenk seiner Eltern waren und murmelte halblaut: „Geh halt nochmal zum Arzt, wenn das immer noch nicht besser ist bei dir. Das ist doch nicht mehr normal!“ Ohne eine Antwort abzuwarten schaltete er das Radio ein und begann seine Cornflakes zu essen, über die er sich einen halben Liter Milch gegossen hatte. Tilda schob ihm eine Banane hin. Er griff quer über den Tisch nach der Zeitung und vertiefte sich in den Artikel von der ersten Seite. Tilda schaute ihm dabei zu und schwieg. Ihr war übel. Sie quälte sich damit, ihre Banane zu essen. Außerdem musste sie sich beeilen, wenn sie nicht zu spät in die Schule kommen wollte.
Kurz vor 8.00 Uhr stieß sie mit beiden Händen und eiligen Schrittes die doppelflügelige Eingangstür der Stadtteilschule in Bergedorf auf und schlüpfte hindurch, noch bevor sie sich richtig öffnete. Unzählige Male schon hatte sie sich bei dieser Form des schnellen Zutritts bereits einen Ellenbogen gestoßen oder ein Knie. Dann hatte sie die Lippen fest aufeinander gepresst und den Schmerz lautlos ertragen. Heute war aber glücklicherweise alles gut gegangen. Sie befand sich im großen Hauptkorridor. Einige ihrer Kollegen eilten an ihr vorbei, ihren Unterrichtsräumen entgegen. Sie grüßten je nach morgendlicher Verfassung an diesem Montag mehr oder weniger deutlich. Brigitte, die Sportlehrerin, marschierte elastischen Schrittes und in einem grellroten Trainingsanzug an ihr vorbei. Die silberne Trillerpfeife hing wie eine Trophäe an ihrem Hals und schwang rhythmisch bald nach links und bald nach rechts. Brigitte nickte freundlich und militärisch knapp. „Moin moin! Na, alles fit bei dir?“, tönte sie laut durch den Flur. Tilda nickte pflichtschuldig. Sie hatte noch nie verstanden, wie Brigitte es machte, dass sie mit Ende fünfzig immer so erschreckend fit und sportlich war. Wenn Tilda ihr begegnete, dann hatte sie jedes Mal sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie sich eigentlich schon längst entschlossen hatte, sich mehr zu bewegen. Leider setzte sie diesen Vorsatz nur sehr schleppend in die Tat um. Das war umso bedauerlicher, da Ludwig ihr zu diesem Zweck eigens einen Crosstrainer zum Geburtstag geschenkt hatte. Selbstverständlich war dieser das Produkt einer bekannten Markenfirma, deren Logo unübersehbar in riesigen Lettern darauf prangte. Ludwig kaufte nie billig und das sollte auch jeder sehen. Er hatte seine Grundsätze. Nun stand das sperrige Teil im Arbeitszimmer und verstaubte vor sich hin. Leider hockte bei Tildas Rückkehr aus der Schule meist schon einer von ihren inneren Schweinehunden darauf und rief in sehr überzeugendem Ton: “Ach was, Tilda! Heute brauchst Du nicht. Hast Dich doch in der Schule genug bewegt! Mach dir keine Sorgen und entspann dich erstmal.“ Meistens widersprach sie dem Schweinehund dann nicht und tat, was er ihr empfohlen hatte.
Natürlich wäre etwas mehr Bewegung für sie von Vorteil gewesen. Umso mehr, als ihr wie zur Bestätigung ihrer Gedanken auch noch die dicke Christel aus dem Sekretariat entgegenkam. Sie schien seit letzter Woche schon wieder dicker geworden zu sein und schnaufte beim Gehen vor sich hin. Es hörte sich fast so an, als sei das nicht der Schulkorridor, sondern der Mount Everest. Nebenbei kaute sie auch schon wieder auf etwas Undefinierbarem herum, hörte aber geflissentlich damit auf, als sie sich Tilda näherte.