Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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      »Mit den ältesten Kindern stellt man immer allerlei Experimente an«, sagte die Besucherin. »Man will immer aus ihnen etwas Besonderes machen.«

      »Ich muß allerdings gestehen, meine Teuerste: meine liebe Frau hat mit Wjera herumexperimentiert«, sagte der Graf. »Na, aber trotzdem: sie ist doch ein prächtiges Mädchen geworden«, fügte er hinzu, indem er der Tochter beifällig mit den Augen zuzwinkerte.

      Die beiden Besucherinnen standen auf und entfernten sich, nachdem sie versprochen hatten, zum Diner wiederzukommen.

      »Was das für eine Manier ist! Sie haben ja eine Ewigkeit dagesessen!« sagte die Gräfin, nachdem sie den Besuch ins Vorzimmer begleitet hatte.

      XIII

      Als Natascha den Salon so eilig verlassen hatte, war sie nur bis in das Blumenzimmer gelaufen. Hier blieb sie stehen, horchte auf das Gespräch im Salon und wartete darauf, daß Boris herauskommen werde. Sie begann schon ungeduldig zu werden, stampfte mit dem Füßchen und war schon nahe daran, in Tränen darüber auszubrechen, daß er nicht sofort kam, als sie die wohlanständigen, weder zu langsamen noch zu schnellen Schritte des jungen Mannes hörte. Schnell sprang Natascha zwischen die Blumenkübel und versteckte sich.

      Boris blieb mitten im Zimmer stehen, sah sich um, entfernte mit der Hand einige Stäubchen vom Ärmel seiner Uniform, trat dann an den Spiegel und betrachtete sein hübsches Gesicht. Natascha, die sich mäuschenstill verhielt, lugte aus ihrem Versteck hervor, in Erwartung, was er nun wohl tun werde. Er stand ein Weilchen vor dem Spiegel, lächelte und schritt dann zur Ausgangstür hin. Natascha wollte ihn zuerst anrufen, besann sich aber dann eines anderen.

      »Mag er mich suchen«, sagte sie sich. Kaum war Boris fort, als durch die andere Tür Sonja hereintrat; ihr Gesicht war dunkelrot, die Tränen standen ihr in den Augen, und sie flüsterte zornig etwas vor sich hin. Nataschas erste Bewegung war, hervorzustürzen und zu ihr hinzueilen; aber sie beherrschte sich noch, blieb in ihrem Versteck und sah nun wie unter einer Tarnkappe zu, was da im Zimmer vorging. Sie empfand dabei ein ganz neues, eigenartiges Vergnügen. Sonja murmelte etwas Unverständliches und sah dabei nach der Tür, die zum Salon führte. Durch diese Tür kam jetzt Nikolai in das Blumenzimmer.

      »Sonja, was hast du? Wie kannst du nur so sein?« rief Nikolai und eilte zu ihr hin.

      »Nichts, nichts, lassen Sie mich!« schluchzte Sonja.

      »Nein, ich weiß, was du hast.«

      »Nun, wenn Sie das wissen, dann ist es ja schön! Dann gehen Sie nur zu ihr!«

      »So-o-onja! Hör nur ein Wort! Wie kannst du nur mich und dich um eines solchen Hirngespinstes willen quälen?« sagte Nikolai und ergriff sie bei der Hand. Sonja entriß ihm ihre Hand nicht und hörte auf zu weinen.

      Ohne sich zu rühren, mit angehaltenem Atem und leuchtenden Augen verfolgte Natascha aus ihrem Versteck diesen Vorgang. »Was wird nun weiter geschehen?« dachte sie.

      »Sonja, ich frage nichts nach der ganzen Welt! Du bist mein ein und alles!« sagte Nikolai. »Ich will es dir beweisen.«

      »Ich kann es nicht ertragen, wenn du mit einer andern so redest wie vorhin.«

      »Nun, ich werde es nicht wieder tun; aber nun verzeih mir auch, Sonja!« Er zog sie an sich und küßte sie.

      »Ach, wie schön!« dachte Natascha, und als Sonja und Nikolai aus dem Zimmer hinausgegangen waren, ging sie ihnen nach und rief Boris zu sich.

      »Boris, kommen Sie doch mal hierher!« sagte sie mit wichtiger schlauer Miene. »Ich muß Ihnen etwas sagen. Hierher, hierher!« Damit führte sie ihn das Blumenzimmer zu der Stelle zwischen den Blumenkübeln, wo sie sich versteckt gehalten hatte. Boris folgte ihr lächelnd.

      »Nun, was wird denn das für eine wichtige Mitteilung sein?« fragte er. Sie wurde verlegen, sah sich rings um und erblickte ihre Puppe, die sie auf einen Blumenkübel geworfen hatte; sie nahm sie in beide Hände.

      »Küssen Sie doch mal meine Puppe!« sagte sie.

      Boris betrachtete ihr erregtes Gesicht mit prüfendem, freundlichem Blick und antwortete nichts.

      »Wollen Sie das nicht? Nun, dann kommen Sie hierher«, fuhr sie fort, ging tiefer in das Dickicht der Gewächse hinein und warf die Puppe hin. »Näher, noch näher!« flüsterte sie. Sie faßte den jungen Offizier mit beiden Händen an dem einen Ärmelaufschlag, und auf ihrem erröteten Gesicht prägten sich ein feierlicher Ernst und eine gewisse Bangigkeit aus.

      »Aber mich, wollen Sie mich küssen?« flüsterte sie kaum hörbar und blickte ihn mit gesenkter Stirn von unten herauf an, lächelnd und gleichzeitig vor Aufregung beinahe weinend.

      Boris errötete.

      »Aber wie komisch Sie sind!« murmelte er, beugte sich zu ihr herab und errötete noch stärker, aber ohne etwas zu unternehmen; er wartete, was etwa noch weiter kommen würde.

      Plötzlich sprang sie auf einen Blumenkübel hinauf, so daß sie höher mit dem Kopf war als Boris, umarmte ihn, so daß ihre beiden dünnen, bloßen Ärmchen ihn oberhalb des Halses umschlangen, warf mit einer ruckartigen Kopfbewegung ihr Haar nach hinten zurück und küßte ihn gerade auf den Mund.

      Dann schlüpfte sie zwischen den Blumentöpfen hindurch nach der andern Seite der Blumengruppe und blieb dort mit gesenktem Kopf stehen.

      »Natascha«, sagte er, »Sie wissen, daß ich Sie liebhabe, aber ...«

      »Lieben Sie mich?« unterbrach ihn Natascha.

      »Ja, ich liebe Sie; aber ich bitte Sie, wir wollen das nicht wieder tun, was Sie jetzt eben ... Noch vier Jahre ... Dann werde ich Sie um Ihre Hand bitten.« Natascha dachte nach.

      »Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn ...«, zählte sie an ihren feinen Fingerchen. »Nun schön! Also abgemacht?« Und ein Lächeln der Freude und Beruhigung erhellte ihr erregtes Gesichtchen.

      »Abgemacht!« erwiderte Boris.

      »Für immer«, fragte das kleine Mädchen. »Bis zum Tod?«

      Sie faßte ihn unter den Arm und ging mit glückstrahlendem Gesicht langsam an seiner Seite nach dem Sofazimmer.

      XIV

      Die Gräfin war von den vielen Besuchen, die sie empfangen hatte, dermaßen ermüdet, daß sie Befehl gab, niemand weiter anzunehmen; der Portier wurde angewiesen, alle, die noch zum Gratulieren kommen würden, ausnahmslos einfach zum Diner einzuladen. Die Gräfin hatte den innigen Wunsch, sich mit der Fürstin Anna Michailowna, ihrer Freundin von den Tagen der Kindheit her, mit der sie seit deren Rückkehr aus Petersburg noch nicht ordentlich zusammen gewesen war, unter vier Augen auszusprechen. Anna Michailowna mit ihrem vergrämten, aber angenehmen Gesicht rückte näher an den Sessel der Gräfin heran.

      »Dir gegenüber werde ich völlig aufrichtig sein«, sagte Anna Michailowna. »Wie wenige von uns alten Freundinnen sind jetzt noch übrig! Daher lege ich auch so hohen Wert auf deine Freundschaft.«

      Anna Michailowna blickte wiederholt nach Wjera hin und schwieg dann. Die Gräfin drückte ihrer Freundin die Hand.

      »Wjera«, sagte die Gräfin zu ihrer ältesten Tochter, der sie offenbar weniger Liebe zuwendete als der jüngeren, »daß ihr Kinder manchmal so schwer begreift! Merkst du denn nicht, daß deine Anwesenheit hier unerwünscht ist? Geh zu den andern oder ...«

      Die schöne Wjera lächelte geringschätzig, fühlte sich aber anscheinend nicht im geringsten gekränkt.

      »Wenn Sie mir das vorhin gesagt hätten, liebe Mama, so wäre ich sofort gegangen«, erwiderte sie und verließ den Salon, um nach ihrem Zimmer zu gehen.

      Aber als sie durch das Sofazimmer kam, sah sie, daß dort an den beiden Fenstern symmetrisch zwei Paare saßen. Wieder geringschätzig lächelnd blieb sie stehen. Sonja saß dicht neben Nikolai, der ihr von einigen Versen, den ersten, die er jemals verfertigt hatte, eine Abschrift machte. Boris und Natascha


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