Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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blieb stehen. Er hatte Boris als vierzehnjährigen Knaben zum letztenmal gesehen und besaß schlechterdings keine Erinnerung mehr an ihn; aber trotzdem drückte er ihm in der raschen, treuherzigen Art, die in seinem Wesen lag, die Hand und lächelte ihn freundlich an.

      »Erinnern Sie sich meiner?« fragte Boris ruhig mit einem angenehmen Lächeln. »Ich bin mit meiner Mutter hergekommen, um dem Grafen einen Besuch zu machen; aber er scheint ja recht krank zu sein.«

      »Ja, das ist er, wie es scheint. Man macht ihm gar zu viel Unruhe«, erwiderte Pierre und strengte sein Gedächtnis an, um herauszubringen, wer dieser junge Mann wohl sei.

      Boris merkte, daß Pierre ihn nicht erkannte, hielt es aber nicht für nötig, seinen Namen zu nennen, und blickte ihm, ohne die geringste Verlegenheit zu empfinden, gerade ins Gesicht.

      »Graf Rostow läßt Sie bitten, heute zum Diner zu ihm zu kommen«, sagte er nach einem ziemlich langen und für Pierre unbehaglichen Stillschweigen.

      »Ah, Graf Rostow!« rief Pierre freudig. »Also Sie sind sein Sohn Ilja. Denken Sie nur, ich hatte Sie im ersten Augenblick nicht erkannt. Erinnern Sie sich noch, wie wir mit Madame Jacquot eine Partie nach den Sperlingsbergen machten? Es ist freilich schon lange her.«

      »Sie irren sich«, antwortete Boris ohne besondere Eile mit einem frischen, ein wenig spöttischen Lächeln. »Ich bin Boris, der Sohn der Fürstin Anna Michailowna Drubezkaja. Graf Rostow, der Vater, heißt Ilja, sein Sohn aber Nikolai. Und eine Madame Jacquot habe ich nie gekannt.«

      Pierre schlug mit dem Kopf und den Armen hin und her, als ob ein Schwarm Mücken oder Bienen über ihn hergefallen wäre.

      »Ach, was habe ich da gemacht! Lauter Konfusion! Ich habe aber auch so viele Verwandte hier in Moskau! Sie sind Boris ... ja. Nun, jetzt sind wir also miteinander einig. Also wie denken Sie über die Boulogner Expedition? Meinen Sie nicht auch, daß es den Engländern schlimm ergehen wird, wenn Napoleon über den Kanal setzt? Ich glaube, daß die Expedition sehr wohl durchführbar ist. Wenn nur Villeneuve nicht den rechten Augenblick verpaßt!«

      Boris wußte nichts von der Boulogner Expedition. Er las keine Zeitungen und hatte von Villeneuve bisher noch nie etwas gehört.

      »Wir hier in Moskau interessieren uns mehr für Diners und Klatschgeschichten als für Politik«, sagte er in seinem ruhigen, spöttischen Ton. »Ich weiß von diesen Dingen nichts und habe darüber kein Urteil. Moskaus Interesse geht so gut wie ganz in Stadtklatsch auf. Jetzt spricht man von Ihnen und von dem Grafen.«

      Pierre lächelte in seiner gutherzigen Weise, wie wenn er um des andern willen besorgt sei, dieser könne etwas sagen, was gesagt zu haben ihm nachher leid tun würde; aber Boris sprach mit vollem Bedacht, klar und bestimmt weiter, indem er Pierre gerade in die Augen blickte:

      »Die Moskauer haben nichts weiter zu tun als zu klatschen. Alle Leute hier erörtern eifrig die Frage, wem der Graf sein Vermögen hinterlassen wird. Und dabei wird er vielleicht uns alle überleben, und ich wünsche ihm das von Herzen ...«

      »Ja, das ist alles sehr schmerzlich«, fiel Pierre schnell ein, »sehr schmerzlich!« Er fürchtete noch immer, dieser junge Offizier könne unversehens auf ein Thema zu sprechen kommen, das dann ihm, dem Redenden, selbst peinlich sein würde.

      »Sie müssen wohl zu der Vorstellung kommen«, sagte Boris mit leisem Erröten, aber ohne Stimme und Haltung zu ändern, »Sie müssen wohl zu der Vorstellung kommen, daß das Trachten aller nur darauf gerichtet sei, etwas von dem reichen Mann zu erhalten.«

      »Ganz richtig!« dachte Pierre.

      »Aber gerade das wollte ich Ihnen zur Vermeidung von Mißverständnissen sagen, daß Sie sich sehr irren, wenn Sie mich und meine Mutter mit zu diesen Leuten zählen. Wir sind sehr arm; aber (wenigstens kann ich das von mir sagen) der Umstand, daß Ihr Vater reich ist, bildet für mich keinen Grund, mich für seinen Verwandten zu halten, und weder ich noch meine Mutter werden ihn jemals um etwas bitten oder etwas von ihm annehmen.«

      Pierre konnte lange nicht begreifen, was der andere eigentlich wollte; aber als er es begriffen hatte, sprang er vom Sofa in die Höhe, ergriff Boris mit der ihm eigenen Raschheit und Unbeholfenheit von untenher bei der Hand und begann, noch weit stärker als Boris errötend, in einem aus Scham und Ärger gemischten Gefühl zu reden:

      »Das ist ja sonderbar. Habe ich etwa ... Und wie dürfte überhaupt jemand denken ... Ich weiß sehr wohl ...«

      Aber Boris unterbrach ihn.

      »Ich freue mich, daß ich mir alles vom Herzen geredet habe. Wenn es Ihnen vielleicht unangenehm gewesen ist, so verzeihen Sie mir«, sagte er, seinerseits bemüht, Pierre zu beruhigen, statt sich von diesem beruhigen zu lassen. »Aber ich hoffe, daß ich Sie nicht gekränkt habe. Es ist mein Grundsatz, alles frei herauszusprechen. Was soll ich denn nun also bestellen? Werden Sie zu Rostows zum Diner kommen?«

      Dem jungen Offizier wurde ganz leicht zumute, als habe er eine schwere Pflicht erledigt, und in dem Gefühl, daß er selbst aus einer unbehaglichen Lage herausgekommen sei und einen andern in eine solche versetzt habe, wurde er wieder ganz munter und unbefangen.

      »Nein, hören Sie«, sagte Pierre, sich allmählich einigermaßen beruhigend. »Sie sind ein merkwürdiger Mensch. Was Sie da soeben gesagt haben, ist sehr schön, wirklich sehr schön! Es ist ja ganz natürlich, daß Sie mich nicht kennen; wir haben so lange keine Beziehungen zueinander gehabt ... wir waren damals noch Kinder ... Sehr erklärlich, daß Sie von mir die Vorstellung hatten ... Ich verstehe Sie, verstehe Sie vollkommen. Ich für meine Person hätte das nicht fertiggebracht; ich hätte nicht den Mut dazu gefunden; aber es war von Ihnen ganz ausgezeichnet. Ich freue mich sehr, Sie kennengelernt zu haben. Sonderbar«, fügte er nach einem kurzen Stillschweigen lächelnd hinzu, »was Sie von mir für eine Vorstellung gehabt haben!« Er lachte auf. »Nun aber, was tut's? Wir werden einander besser kennenlernen. Ich bitte Sie darum.« Er drückte Boris die Hand. »Wissen Sie, ich bin noch gar nicht bei dem Grafen gewesen. Er hat mich nicht rufen lassen ... Er tut mir schon vom rein menschlichen Standpunkt aus herzlich leid ... Aber was ist zu tun?«

      »Und Sie glauben, daß es Napoleon gelingen wird, mit seiner Armee überzusetzen?« fragte Boris lächelnd.

      Pierre verstand, daß Boris das Gespräch auf ein anderes Thema bringen wollte. Er war damit ganz einverstanden und begann die günstigen und ungünstigen Momente, die bei dem Boulogner Unternehmen in Betracht kamen, darzulegen.

      Ein Diener kam, um Boris zur Fürstin zu rufen. Die Fürstin wollte wegfahren. Pierre versprach, zu dem Diner zu kommen, um mit Boris noch näher bekanntzuwerden, drückte ihm kräftig die Hand und blickte ihm durch seine Brille freundlich in die Augen. Nachdem Boris gegangen war, schritt Pierre noch lange in seinem Zimmer hin und her; aber er durchbohrte keinen unsichtbaren Feind mehr mit dem Degen, sondern lächelte bei der Erinnerung an diesen liebenswürdigen, verständigen, charakterfesten jungen Mann.

      Wie es oft bei Menschen der Fall ist, die sich noch in den Zeiten der ersten Jugend befinden, und namentlich bei solchen, die allein dastehen, empfand er für diesen jungen Mann eine Zärtlichkeit, von der er sich nicht ganz Rechenschaft geben konnte, und faßte den Vorsatz, unbedingt Freundschaft mit ihm zu schließen.

      Fürst Wasili begleitete die Fürstin hinaus. Die Fürstin hielt das Taschentuch an die Augen, und ihr Gesicht war von Tränen überströmt.

      »Es ist schrecklich, schrecklich!« sagte sie. »Aber so schwer es mir auch werden mag, ich werde meine Pflicht erfüllen. Ich werde herkommen und die Nacht hier zubringen. So darf es nicht mit ihm bleiben. Jeder Augenblick ist kostbar. Ich begreife nicht, warum die Prinzessinnen noch länger zaudern. Vielleicht hilft mir Gott ein Mittel finden, um ihn vorzubereiten ...! Leben Sie wohl, Fürst, Gott verleihe Ihnen Kraft ...«

      »Adieu, meine Liebe«, antwortete Fürst Wasili und wandte sich von ihr weg.

      »Ach, er ist in einem schrecklichen Zustand!« sagte die Mutter zu dem Sohn, als sie wieder im Wagen saßen. »Er erkennt fast niemand mehr.«

      »Ich bin mir darüber nicht klar, Mamachen: wie steht er eigentlich mit


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