Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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nacht, nicht später!« sagte er leise mit einem wohlanständigen Lächeln der Selbstzufriedenheit darüber, daß er den Zustand des Kranken so klar erkenne und sich mit solcher Bestimmtheit darüber äußern könne. Darauf verließ er das Zimmer.

      Inzwischen öffnete Fürst Wasili die Tür, welche in das Zimmer der ältesten Prinzessin führte.

      In dem Zimmer war es halbdunkel; es brannten nur zwei Lämpchen vor den Heiligenbildern, und es roch schön nach Räucherpapier und Blumen. Das ganze Zimmer war mit kleinen Möbelstücken vollgestellt: Chiffonnieren, Schränkchen und Tischchen. Hinter einem Bettschirm waren die weißen Decken eines hohen Federbettes sichtbar. Ein Hündchen fing an zu bellen.

      »Ah, Sie sind es, Kusin!«

      Sie stand auf und strich sich über das Haar, das bei ihr immer, auch jetzt, so außerordentlich glatt anlag, als wäre es mit dem Kopf aus einem Stück gemacht und dann überlackiert.

      »Nun, ist etwas vorgefallen?« fragte sie. »Ich habe einen solchen Schreck bekommen.«

      »Nein, es ist nichts geschehen; der Zustand bleibt unverändert. Ich bin nur hergekommen, Catiche, um mit dir über die vorliegende wichtige Angelegenheit zu sprechen«, sagte der Fürst und ließ sich müde auf den Lehnstuhl nieder, von dem sie aufgestanden war. »Wie warm du ihn gesessen hast«, fuhr er fort. »Nun, setze dich hin und laß uns miteinander reden.«

      »Ich glaubte schon, es wäre etwas vorgefallen«, sagte die Prinzessin, setzte sich mit ihrer unveränderlichen Miene steinernen Ernstes dem Fürsten gegenüber und schickte sich an zu hören. »Ich hatte schlafen wollen, Kusin, aber ich bin nicht dazu imstande.«

      »Nun, wie steht's, meine Liebe?« sagte Fürst Wasili, ergriff die Hand der Prinzessin und zog sie, wie er sich das nun einmal angewöhnt hatte, nach unten.

      Es war klar, daß sich dieses »Wie steht es?« auf mancherlei Dinge bezog, von denen sie beide auch ohne nähere Bezeichnung wußten, daß sie gemeint waren.

      Die Prinzessin mit ihrer im Verhältnis zu den Beinen unförmlich langen, hageren, geraden Taille blickte mit ihren vorstehenden grauen Augen den Fürsten offen und ohne Aufregung an. Sie wiegte den Kopf hin und her und schaute mit einem Seufzer nach den Heiligenbildern hin. Man konnte ihre Gebärde sowohl als Ausdruck des Leidens und der Ergebung als auch als Ausdruck der Müdigkeit und der Sehnsucht nach baldiger Erholung auffassen. Fürst Wasili nahm diese Gebärde nur als Ausdruck der Müdigkeit.

      »Meinst du etwa, daß ich es leichter habe?« sagte er. »Ich bin abgehetzt wie ein Postpferd; aber ich muß doch mit dir sprechen, Catiche, und zwar sehr ernsthaft.«

      Fürst Wasili schwieg; seine Wangen fingen nervös zu zucken an, bald auf der einen, bald auf der andern Seite, und verliehen seinem Gesicht einen unangenehmen Ausdruck, den es sonst niemals trug, wenn er in einem Salon war. Auch seine Augen sahen anders aus als gewöhnlich: bald blickten sie dreist und spöttisch, bald scheu und ängstlich umher.

      Die Prinzessin, die mit ihren dürren, mageren Händen das Hündchen auf dem Schoß festhielt, blickte dem Fürsten Wasili aufmerksam in die Augen; aber es war klar, daß sie das Schweigen nicht durch eine Frage unterbrechen würde, und wenn sie bis zum Morgen schweigen müßte.

      »Also siehst du, meine liebe Prinzessin und Kusine Katerina Semjonowna«, fuhr Fürst Wasili fort, der sich offenbar nicht ohne einen inneren Kampf dazu entschloß, seine angefangene Rede wiederaufzunehmen, »in solchen Momenten, wie die jetzigen, muß man alles erwägen. Wir müssen an die Zukunft denken, an euch denken. Ich liebe euch alle wie meine eigenen Kinder, das weißt du.«

      Die Prinzessin blickte ihn ebenso trübe und starr an wie vorher.

      »Schließlich muß ich doch auch an meine Familie denken«, redete Fürst Wasili, ohne die Prinzessin anzusehen, weiter und stieß ingrimmig ein neben ihm stehendes Tischchen von sich weg. »Du weißt, Catiche, daß ihr drei Schwestern Mamontow und dazu noch meine Frau, daß ihr vier die einzigen rechtmäßigen Erben des Grafen seid. Ich weiß, ich weiß, wie schwer es dir wird, von derartigen Dingen zu reden oder auch nur daran zu denken. Und mir wird das wahrlich nicht leichter. Aber, meine Beste, ich bin ein hoher Fünfziger; da muß man auf alles gefaßt sein. Weißt du wohl, daß ich Pierre habe rufen lassen müssen, weil der Graf geradezu auf sein Bild gezeigt und verlangt hat, er solle zu ihm kommen?«

      Fürst Wasili blickte die Prinzessin fragend an, konnte aber nicht ins klare darüber kommen, ob sie über das, was er ihr gesagt hatte, nachdachte oder ihn, ohne etwas zu denken, ansah.

      »Ich bitte Gott unablässig nur um das eine, Kusin«, antwortete sie, »daß er sich seiner erbarmen und seine herrliche Seele ruhig aus dieser Zeitlichkeit hinscheiden lassen wolle ...«

      »Jawohl, ganz gewiß«, fuhr Fürst Wasili ungeduldig fort, indem er sich die Glatze rieb und ärgerlich das vorhin weggestoßene Tischchen wieder zu sich heranzog. »Aber schließlich ... es handelt sich schließlich darum ... du weißt ja selbst, daß der Graf im vorigen Winter ein Testament abgefaßt hat, in dem er mit Übergehung der rechtmäßigen Erben, die wir doch sind, sein ganzes Vermögen diesem Pierre vermacht.«

      »Er hat ja eine ganze Menge Testamente gemacht!« antwortete die Prinzessin mit aller Seelenruhe. »Aber Pierre konnte er nichts vermachen; Pierre stammt nicht aus einer richtigen Ehe.«

      »Meine Liebe«, sagte Fürst Wasili und drückte das Tischchen fest an sich; er wurde lebhafter und begann schneller zu sprechen, »wie aber, wenn der Graf eine Eingabe an den Kaiser abgefaßt hat und ihn bittet, Pierre zu legitimieren? Du kannst dir wohl denken, daß mit Rücksicht auf die Verdienste des Grafen diese Bitte Beachtung finden würde ...«

      Die Prinzessin lächelte wie jemand, der überzeugt ist, eine Sache besser zu verstehen als der, mit dem er redet.

      »Ich will dir noch mehr sagen«, fuhr Fürst Wasili fort und ergriff sie bei der Hand. »Geschrieben ist die Eingabe, aber nicht abgeschickt, und der Kaiser hat von ihr erfahren. Die Frage ist nur, ob diese Eingabe wieder vernichtet worden ist oder nicht. Wenn nicht, so wird, sobald alles zu Ende ist« (hier seufzte Fürst Wasili und gab dadurch zu verstehen, was er mit den Worten »sobald alles zu Ende ist« meinte) »und die Papiere des Grafen untersucht worden sind, das Testament mit der Eingabe dem Kaiser zugestellt werden, und das Gesuch des Grafen wird dann unfehlbar erfüllt. Dann erhält Pierre als legitimer Sohn das ganze Vermögen.«

      »Aber kann ihm denn unser Anteil zufallen?« fragte die Prinzessin ironisch lächelnd, als ob alles andere passieren könne, nur das nicht.

      »Aber, liebe Catiche, das ist doch alles sonnenklar. Er allein ist dann der legitime Erbe der ganzen Hinterlassenschaft, und ihr bekommt auch nicht so viel! Du wirst ja wissen, meine Liebe, ob das Testament und die Eingabe nach ihrer Abfassung wieder vernichtet sind. Und wenn sie aus irgendeinem Grund in Vergessenheit geraten sein sollten, so wirst du ja wissen, wo sie sich befinden, und mußt sie heraussuchen, da ...«

      »Das sollte mir fehlen!« unterbrach ihn die Prinzessin spöttisch lächelnd, ohne daß sich der Ausdruck ihrer Augen geändert hätte. »Ich bin eine Frau, und ihr Männer glaubt ja, daß wir Frauen alle dumm sind; aber so viel weiß ich denn doch, daß ein unnatürlicher Sohn nicht erben kann ... Un bâtard!« fügte sie hinzu, in dem Glauben, durch diese Übersetzung dem Fürsten die Unrichtigkeit seiner Anschauung zwingend zu beweisen.

      »Aber wie ist es nur möglich, Catiche, daß du das nicht verstehst! Du bist doch so klug; du mußt das doch begreifen: wenn der Graf eine Eingabe an den Kaiser geschrieben hat, in der er ihn bittet, seinen Sohn als legitim anzuerkennen, dann wird infolgedessen Pierre nicht mehr Pierre, sondern Graf Besuchow sein und erbt dann aufgrund des Testaments das ganze Vermögen. Wenn nun das Testament und die Eingabe nicht vernichtet sind, so bleibt dir außer dem tröstlichen Bewußtsein, an dem Grafen ein gutes Werk getan zu haben, und andern schönen Dingen von gleichem Wert nichts, aber auch rein gar nichts. Das ist völlig sicher.«

      »Ich weiß, daß das Testament abgefaßt ist; aber ich weiß auch, daß es ungültig ist; Sie scheinen mich ja für eine vollständige Idiotin zu halten, Kusin«, sagte die Prinzessin mit der Miene, mit welcher Frauen zu sprechen


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