Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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von neuem. »Ich bin nicht zu dir gekommen, um mich mit dir herumzustreiten, sondern um mit dir als meiner Verwandten, einer guten, trefflichen, echten Verwandten, über deine eigenen Interessen zu sprechen. Ich sage dir zum zehntenmal: wenn die Eingabe an den Kaiser und das zu Pierres Gunsten abgefaßte Testament in den Papieren des Grafen vorhanden sind, so erbst du, meine Beste, mit deinen Schwestern gar nichts. Wenn du mir nicht glaubst, so glaube sachverständigen Männern: ich habe soeben mit Dmitri Onufriitsch« (dies war der Advokat des Hauses) »gesprochen; er hat genau dasselbe gesagt.«

      Offenbar ging jetzt plötzlich irgendeine Veränderung in dem Denkapparat der Prinzessin vor. Ihre schmalen Lippen wurden blaß (die Augen dagegen blieben wie sie gewesen waren), und als sie zum Sprechen ansetzte, klang ihre Stimme so rauh und zornig, wie sie es anscheinend selbst nicht erwartet hatte.

      »Das wäre ja noch schöner!« rief sie. »Ich habe nichts für mich gewollt und will nichts für mich.« Sie warf das Hündchen vom Schoß herunter und strich sich den Rock ihres Kleides glatt. »Das ist also sein Dank und seine Erkenntlichkeit Leuten gegenüber, die für ihn alles geopfert haben! Vortrefflich! Sehr schön! Ich verlange für mich nichts, Fürst!«

      »Gewiß, aber du bist nicht allein, du hast Schwestern«, antwortete Fürst Wasili. Aber die Prinzessin hörte nicht auf ihn.

      »Ich habe es schon längst gewußt, aber ich hatte es wieder vergessen, daß ich in diesem Haus nichts anderes als Gemeinheit, Betrug, Neid, Intrigen und Undank, schwärzesten Undank zu erwarten hatte ...«

      »Weißt du oder weißt du nicht, wo sich dieses Testament befindet?« fragte Fürst Wasili mit noch stärkerem Zucken der Wangen als vorher.

      »Ja, ich bin dumm gewesen; ich glaubte noch an Menschen und liebte sie und opferte mich für sie auf. Aber Erfolg haben in der Welt nur diejenigen, die schändlich und nichtswürdig sind. Ich weiß, wessen Intrigen dahinterstecken.«

      Die Prinzessin wollte aufstehen, aber der Fürst hielt sie an der Hand zurück. Die Prinzessin hatte das Aussehen eines Menschen, der sieht, daß er sich im ganzen Menschengeschlecht getäuscht hat; voll Ingrimm blickte sie den Fürsten an.

      »Es ist noch nichts verloren, meine Beste. Bedenke doch, Catiche, daß er dies alles in der Übereilung getan hat, in einem Augenblick des Zornes, in einem Augenblick körperlicher Zerrüttung; und nachher hat er es vergessen. Unsere Pflicht ist es, meine Liebe, den von ihm begangenen Fehler wiedergutzumachen und ihm seine letzten Augenblicke dadurch zu erleichtern, daß wir ihn nicht bei dieser Ungerechtigkeit verbleiben lassen, daß wir ihn nicht sterben lassen mit dem schrecklichen Bewußtsein, diejenigen unglücklich gemacht zu haben, die ...«

      »Die alles für ihn zum Opfer gebracht haben«, fiel die Prinzessin ein und wollte wieder aufspringen; jedoch der Fürst hinderte sie daran. »Aber er hat dieses Opfer nie zu schätzen gewußt. Nein, Kusin«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu, »nun weiß ich, daß man auf dieser Welt keinen Lohn für gute Taten zu erwarten hat, und daß es auf dieser Welt keine Ehrenhaftigkeit und keine Gerechtigkeit gibt. Auf dieser Welt muß man listig und schlecht sein.«

      »Nun, nun, so beruhige dich doch nur; ich weiß ja, was du für ein gutes, edles Herz hast.«

      »Nein, ich habe ein böses Herz.«

      »Ich kenne dein Herz«, widersprach der Fürst, »und lege hohen Wert auf deine Freundschaft und wünsche lebhaft, daß du gegen mich die gleiche Gesinnung hegen mögest. Beruhige dich und laß uns vernünftig miteinander reden, solange es noch Zeit ist – vielleicht haben wir noch einen Tag lang Zeit, vielleicht auch nur eine Stunde. Teile mir alles mit, was du von dem Testament weißt, und namentlich, wo es sich befindet; du mußt das doch wissen. Wir wollen es dann nehmen und dem Grafen zeigen. Er hat es sicher schon ganz vergessen und wird den Wunsch haben, es zu vernichten. Du wirst mich ja verstehen: mein einziger Wunsch ist, seinen Willen gewissenhaft zu erfüllen; nur deshalb bin ich ja auch hergekommen. Der einzige Zweck meines Hierseins ist ihm und euch zu helfen.«

      »Jetzt habe ich alles durchschaut. Ich weiß, wessen Intrigen dahinterstecken; jetzt weiß ich es«, sagte die Prinzessin.

      »Darum handelt es sich doch aber nicht, meine Teure!«

      »Es ist Ihr Protegé, Ihre liebe Fürstin Anna Michailowna Drubezkaja, ein Frauenzimmer, das ich nicht als Stubenmädchen haben möchte, diese garstige, widerwärtige Person!«

      »Wir wollen doch keine Zeit verlieren.«

      »Ach, es ist gar nicht zu sagen! Im vorigen Winter hat sie sich hier eingedrängt und dem Grafen so schändliche, abscheuliche Dinge über uns alle gesagt, besonders über Sofja – wiederholen kann ich es gar nicht –, daß der Graf ganz krank wurde und uns zwei Wochen lang nicht sehen wollte. Ich weiß, daß er in dieser Zeit jenes schändliche, unwürdige Schriftstück abgefaßt hat; aber ich habe gedacht, dieses Schriftstück hätte weiter keine Bedeutung.«

      »Das ist gerade der Kernpunkt; warum hast du mir denn nicht schon früher davon gesagt?«

      »In dem Mosaikportefeuille ist es, das er unter seinem Kopfkissen liegen hat; jetzt weiß ich es«, sagte die Prinzessin, ohne auf die Frage zu antworten. Dann fuhr sie mit ganz verändertem Wesen beinahe schreiend fort: »Ja, wenn eine Sünde, eine große Sünde an mir ist, so ist es der Haß gegen dieses abscheuliche Weib! Warum drängt sie sich hier ein? Aber ich werde ihr schon noch einmal die Wahrheit sagen; das werde ich tun. Es wird schon der richtige Zeitpunkt dafür kommen!«

      XXII

      Während solche Gespräche im Wartezimmer und in dem Zimmer der Prinzessin geführt wurden, fuhr der Wagen mit Pierre, nach welchem geschickt worden war, und mit Anna Michailowna, die für nötig erachtete, mit ihm zu fahren, in den Hof des Besuchowschen Hauses ein. Als die Räder der Equipage weich in dem Stroh raschelten, das unter den Fenstern ausgebreitet war, wandte sich Anna Michailowna mit tröstenden Worten an ihren Begleiter, mußte sich aber überzeugen, daß er in seiner Wagenecke eingeschlafen war, und weckte ihn auf. Wieder zu sich gekommen, stieg Pierre hinter Anna Michailowna aus dem Wagen, und jetzt erst fiel ihm das Wiedersehen mit dem sterbenden Vater wieder ein, das ihn erwartete. Er bemerkte, daß sie nicht bei dem Hauptportal, sondern bei dem hinteren Eingang vorgefahren waren. In dem Augenblick, wo er vom Wagentritt stieg, liefen zwei Männer in Handwerkerkleidung eilig von der Haustür weg und stellten sich in den Schatten der Mauer. Pierre blieb stehen und unterschied rechts und links im Schatten des Hauses noch mehrere Männer von ähnlichem Aussehen. Aber weder Anna Michailowna noch der Diener noch der Kutscher, die diese Männer doch auch gesehen haben mußten, schenkten ihnen irgendwelche Beachtung. Es wird also wohl so in der Ordnung sein, dachte Pierre und ging hinter Anna Michailowna her. Anna Michailowna stieg mit schnellen Schritten die schwach beleuchtete, schmale Steintreppe hinan und forderte auch den etwas zurückbleibenden Pierre zur Eile auf. Pierre begriff zwar nicht, wozu es überhaupt nötig sei, daß er zum Grafen gehe, und noch weniger, warum er die Hintertreppe hinaufgehen mußte; aber angesichts der Energie und Raschheit der Fürstin Anna Michailowna sagte er sich, das werde wohl unumgänglich nötig sein. Auf der Mitte der Treppe wurden sie beinahe von ein paar Dienern mit Eimern umgerannt, die, mit den schweren Stiefeln polternd, ihnen entgegen heruntergelaufen kamen. Die Leute drückten sich an die Wand, um Pierre und Anna Michailowna vorbeizulassen, und zeigten sich bei ihrem Anblick nicht im mindesten verwundert.

      »Kommen wir hier zu den Zimmern der Prinzessinnen?« fragte Anna Michailowna einen von ihnen.

      »Jawohl«, antwortete der Diener mit dreister, lauter Stimme, als ob er sich jetzt schon alles mögliche erlauben dürfte. »Die Tür links, Mütterchen!«

      »Vielleicht hat der Graf mich gar nicht rufen lassen«, sagte Pierre, als er auf den Vorplatz gelangte. »Ich möchte lieber nach meinem eigenen Zimmer gehen.«

      Anna Michailowna blieb stehen, um ihn ganz herankommen zu lassen.

      »Ach, mein Freund«, sagte sie mit derselben Gebärde wie am Morgen zu ihrem Sohn. »Glauben Sie mir, mein Schmerz ist nicht geringer als der Ihrige; aber seien Sie ein Mann.«

      »Soll ich wirklich zu ihm hingehen?« fragte Pierre und blickte Anna Michailowna freundlich


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