Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

Читать онлайн книгу.

Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


Скачать книгу
...!«

      »Lassen Sie den Wagen weiterfahren, sage ich Ihnen«, wiederholte Fürst Andrei noch einmal und preßte die Lippen zusammen.

      »Was bist du denn für einer?« fuhr ihn plötzlich der Offizier mit der Wut, in welche Betrunkene oft geraten, an. »Was bist du für einer? Du« (er legte einen besonderen Nachdruck auf das Du) »bist wohl ein hoher Vorgesetzter, wie? Hier bin ich der Vorgesetzte, und nicht du. Zurück, du da!« rief er von neuem. »Ich schlage dich zu Brei!«

      Dieser Ausdruck mußte dem Offizier wohl besonders gut gefallen.

      »Der ist dem feinen Adjutanten gehörig über das Maul gefahren«, rief jemand von hinten.

      Fürst Andrei sah, daß sich der Offizier in jenem bekannten Zustand der Trunkenheit befand, in welchem die Leute ohne Anlaß Wutanfälle bekommen und nicht mehr wissen, was sie sagen. Er sah, daß sein eigenes Eintreten für die Doktorenfrau mit einer gewissen Lächerlichkeit behaftet war (und gerade das war es, was er am meisten in der Welt fürchtete); aber sein natürliches Gefühl warf hier solche Erwägungen über den Haufen. Der Offizier hatte das letzte Wort noch nicht zu Ende gesprochen, als Fürst Andrei mit wutverzerrtem Gesicht dicht an ihn heranritt und die Kosakenpeitsche erhob.

      »Lassen Sie den Wagen weiterfahren!«

      Der Offizier machte eine Handbewegung im Sinne von: »Meinetwegen; so viel liegt mir nicht daran!« und ritt schleunigst davon.

      »Diese Kerle, diese hohen Offiziere, stören doch immer nur die Ordnung«, brummte er. »Na, tut, was ihr wollt.«

      Fürst Andrei ritt eilig, ohne aufzublicken, von der Doktorenfrau weg, die ihn ihren Retter nannte, und indem er voll Widerwillen noch einmal die Einzelheiten dieser unwürdigen Szene sich vergegenwärtigte, ritt er so schnell als möglich nach dem Dorf hin, wo, wie man ihm sagte, sich der Oberkommandierende befand.

      Als er zu dem Dorf gekommen war, stieg er ab und ging auf das erste Haus los, in der Absicht, sich wenigstens einen Augenblick zu erholen, etwas zu essen und alle diese widerwärtigen, peinigenden Gedanken zur Klarheit zu bringen. »Das ist ein Haufe Gesindel, aber kein Heer«, dachte er, während er auf die Tür des ersten Hauses zuging. Da rief eine ihm bekannte Stimme seinen Namen.

      Er blickte um sich. Aus einem der kleinen Fenster steckte Neswizki sein hübsches Gesicht heraus. Mit vollem Mund lebhaft kauend und mit den Händen winkend, rief er den Fürsten Andrei heran.

      »Bolkonski, Bolkonski, hörst du nicht? Komm schnell!« rief er.

      Als Fürst Andrei in das Haus trat, sah er Neswizki und noch einen andern Adjutanten mit einem kalten Imbiß beschäftigt. Eilig wandten sie sich zu Bolkonski mit der Frage, ob er etwas Neues wisse. Auf ihren ihm so wohlbekannten Gesichtern las Fürst Andrei den Ausdruck der Besorgnis und Unruhe. Dieser Ausdruck war besonders auffällig auf Neswizkis sonst immer lachendem Gesicht.

      »Wo ist der Oberkommandierende?« fragte Bolkonski.

      »Hier, in dem Haus, dort«, antwortete der andere Adjutant.

      »Nun, ist es denn wahr, daß eine Kapitulation stattfindet und Friede geschlossen wird?« fragte Neswizki.

      »Danach möchte ich euch fragen. Ich weiß nichts, als daß ich mich mit größter Mühe zu euch durchgearbeitet habe.«

      »Aber bei uns, Bruder, das ist ein Zustand! Schauderhaft! Ich muß mich schuldig bekennen, Bruder: über Mack haben wir gelacht; aber uns selbst geht es jetzt noch schlimmer«, sagte Neswizki. »Aber setz dich doch und iß einen Bissen.«

      »Ihren Reisewagen werden Sie jetzt nicht finden, Fürst«, sagte der andere Adjutant. »Zu finden ist überhaupt nichts. Ihr Pjotr ist Gott weiß wo.«

      »Wohin wird denn das Hauptquartier gelegt?«

      »In Znaim werden wir übernachten.«

      »Ich habe mir alles, was ich brauche, auf zwei Pferde packen lassen«, sagte Neswizki, »und die Leute haben die Packlasten ganz vorzüglich eingerichtet. Damit könnten wir sogar durch die böhmischen Berge Reißaus nehmen. Es ist eine schlimme Geschichte, Bruder. Aber was hast du denn? Du bist wohl krank, daß du so zuckst?« fragte er, da er bemerkte, daß Fürst Andrei zusammenfuhr, wie bei der Berührung einer Leidener Flasche.

      »Mir fehlt weiter nichts«, erwiderte Fürst Andrei.

      Er hatte gerade an die Szene denken müssen, die er kurz vorher mit der Doktorenfrau und dem Trainoffizier gehabt hatte.

      »Was tut denn der Oberkommandierende hier?« fragte er.

      »Ich weiß es nicht«, antwortete Neswizki.

      »Das eine weiß ich, daß die ganze Sache greulich ist, greulich, greulich!« sagte Fürst Andrei und ging nach dem Haus, wo sich der Oberkommandierende aufhielt.

      Nachdem Fürst Andrei an Kutusows Equipage, an den abgetriebenen Reitpferden der Suite und an einigen in lauter Unterhaltung begriffenen Kosaken vorbeigekommen war, trat er in den Hausflur. Kutusow selbst befand sich, wie dem Fürsten Andrei gesagt wurde, in der Stube mit dem Fürsten Bagration und Weyrother zusammen. Weyrother war der österreichische General, der an die Stelle des gefallenen Schmidt getreten war. Im Hausflur hockte der kleine Koslowski in kauernder Stellung vor einem Schreiber. Der Schreiber hatte die Ärmel seines Uniformrocks zurückgeschlagen und schrieb eilig auf einer umgestürzten Bütte. Koslowskis Gesicht sah matt und welk aus; er hatte augenscheinlich gleichfalls in der Nacht nicht geschlafen. Er sah den Fürsten Andrei an, nickte ihm aber nicht einmal mit dem Kopf zu.

      »Zweite Linie ... Hast du das geschrieben?« fuhr er, dem Schreiber diktierend, fort: »Das Kiewer Grenadierregiment, das Podolsker ...«

      »Ich kann nicht mitkommen, Euer Hochwohlgeboren«, sagte der Schreiber in respektlosem, ärgerlichem Ton, indem er zu Koslowski aufblickte.

      In diesem Augenblick war durch die Tür zu hören, wie Kutusow mit erregter, unzufriedener Stimme etwas sagte und eine andere, unbekannte Stimme ihn unterbrach. An dem Ton dieser Stimmen, an der Achtlosigkeit, mit der ihn Koslowski angesehen hatte, an der Unehrerbietigkeit des ermüdeten Schreibers, sowie daran, daß der Schreiber und Koslowski in so geringer Entfernung von dem Oberkommandierenden auf dem Fußboden neben einer Bütte saßen, und daran, daß die Kosaken, welche die Pferde hielten, dicht vor dem Fenster des Hauses so laut lachten: an alledem merkte Fürst Andrei, daß etwas Schlimmes von großer Bedeutung bevorstand.

      Fürst Andrei wandte sich mit Fragen an Koslowski, obwohl er sah, daß diesem die Störung unwillkommen war.

      »Sofort, Fürst«, antwortete Koslowski. »Disposition für Bagration.«

      »Und die Kapitulation?«

      »Es findet keine Kapitulation statt; es sind Anordnungen zum Kampf getroffen.«

      Fürst Andrei ging auf die Tür zu, durch die die Stimmen zu hören waren. Aber in dem Augenblick, als er die Tür öffnen wollte, schwiegen die Stimmen im Zimmer, die Tür öffnete sich ohne sein Zutun, und Kutusow mit seiner Adlernase in dem aufgedunsenen Gesicht erschien auf der Schwelle. Fürst Andrei stand unmittelbar vor ihm; aber an dem Ausdruck des einzigen sehenden Auges des Oberkommandierenden war zu merken, daß seine Gedanken und Sorgen ihn so stark beschäftigten, daß sie ihm geradezu die Sehkraft beeinträchtigten. Er blickte seinem Adjutanten gerade ins Gesicht, ohne ihn zu erkennen.

      »Nun, wie ist's? Bist du fertig?« wandte er sich an Koslowski.

      »Im Augenblick, Euer hohe Exzellenz.«

      Bagration, dessen festes, unbewegliches Gesicht einen orientalischen Typus aufwies, ein Mann von kleinem Wuchs, hager, noch nicht bejahrt, trat hinter dem Oberkommandierenden aus dem Zimmer.

      »Ich habe die Ehre, mich zurückzumelden«, sagte Fürst Andrei ziemlich laut zu Kutusow und überreichte ihm einen Brief.

      »Ah, aus Wien? Schön. Nachher, nachher!«

      Kutusow trat mit Bagration auf die Stufen vor der Haustür hinaus.

      »Nun, Fürst, lebe wohl«,


Скачать книгу