Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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den Brief hin; aber er las ihn nicht, da er vor allem sie zu beruhigen wünschte. »Das war das einzige, das ich wünschte, um das ich dich bat, daß du diese Fesseln zerreißen möchtest, damit ich mein Leben ganz deinem Glücke weihen kann.«

      »Warum sagst du mir das?« erwiderte sie. »Kann ich denn daran zweifeln? Wenn ich daran zweifelte ...«

      »Wer kommt da?« sagte Wronski plötzlich und wies auf zwei Damen, die ihnen entgegenkamen. »Vielleicht kennen sie uns!« Er bog schnell, sie mit sich ziehend, in einen Seitenweg ein.

      »Ach, mir ist alles gleich!« versetzte sie. Ihre Lippen zitterten, und es kam ihm vor, als ob ihn ihre Augen durch den Schleier mit seltsamem Ingrimm anblickten. »Also ich wollte sagen: darum handelt es sich nicht; daran kann ich ja nicht zweifeln. Aber sieh nur, was er mir schreibt. Lies doch!« Sie blieb wieder stehen.

      Wieder, ganz wie im ersten Augenblicke bei der Nachricht, daß sie mit ihrem Manne gebrochen habe, gab sich Wronski beim Lesen des Briefes unwillkürlich jener natürlichen Vorstellung hin, die sein Verhältnis zu dem beleidigten Gatten bei ihm erweckte. Während er jetzt seinen Brief in der Hand hielt, sagte er sich, daß er wahrscheinlich heute oder morgen in seiner Wohnung die Forderung vorfinden werde, und stellte sich das Duell vor, bei dem er mit derselben kalten, stolzen Miene, die sein Gesicht jetzt zeigte, in die Luft schießen und sich dann dem Schusse des beleidigten Gatten darbieten werde. Und gleichzeitig blitzte in seinem Kopfe die Erinnerung an das auf, was Serpuchowskoi ihm soeben gesagt und er selbst am Morgen gedacht hatte: daß es besser sei, sich nicht zu binden; und er war sich bewußt, daß er diesen Gedanken ihr gegenüber nicht aussprechen durfte.

      Nachdem er den Brief durchgelesen hatte, hob er die Augen zu ihr in die Höhe; es lag keine Festigkeit in seinem Blicke. Sie merkte sofort, daß er bereits selbst im stillen über diesen Gegenstand früher nachgedacht hatte. Sie wußte, daß, was auch immer er ihr sagen würde, dies nicht alles sein werde, was er dachte. Und sie sah klar, daß sie sich in ihrer letzten Hoffnung getäuscht hatte. Das war nicht das Verhalten, das sie von Wronski erwartet hatte.

      »Du siehst, was das für ein Mensch ist«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er ...«

      »Verzeih mir, aber ich freue mich darüber«, unterbrach Wronski sie. »Bitte, bitte, laß mich ausreden!« fügte er hinzu, und sein flehender Blick bat sie, ihm zur Verdeutlichung seiner Worte Zeit zu lassen. »Ich freue mich deshalb, weil dieser Zustand nicht fortdauern kann, unter keinen Umständen fortdauern kann, wie er das annimmt.«

      »Warum sollte das unmöglich sein?« erwiderte Anna, ihre Tränen zurückdrängend; sie betrachtete offenbar alles, was er noch weiter sagen werde, für bedeutungslos. Sie fühlte, daß ihr Schicksal entschieden war.

      Wronski wollte eigentlich antworten, daß nach dem seines Erachtens unausbleiblichen Duelle dieser Zustand nicht fortdauern könne; aber er sagte etwas anderes.

      »Es kann nicht so bleiben. Ich hoffe, du wirst ihn jetzt verlassen. Ich hoffe«, hier wurde er verlegen und errötete, »du wirst mir erlauben, unser weiteres Leben zu erwägen und einzurichten. Morgen ...« begann er. Aber sie ließ ihn nicht ausreden.

      »Und mein Sohn?« rief sie. »Du siehst doch, was er schreibt. Ich müßte meinen Sohn verlassen, und das kann und will ich nicht.«

      »Aber ich bitte dich um Gottes willen: was ist denn besser, daß du deinen Sohn verläßt oder daß du diesen demütigenden Zustand verlängerst?«

      »Demütigend für wen?«

      »Für alle und am meisten für dich.«

      »Du sagst: demütigend; sage das nicht. Dieses Wort hat für mich keinen Sinn«, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie wollte nicht, daß er jetzt eine Unwahrheit sagte. Seine Liebe war das einzige, was ihr jetzt noch blieb, und sie wollte ihn weiterlieben. »Du sollst wissen, daß seit dem Tage, da ich dich liebgewonnen habe, alle Dinge sich für mich in ihrem Werte verändert haben. Mein ein und alles ist deine Liebe. Wenn diese mir gehört, dann fühle ich mich so hoch und fest, daß nichts für mich demütigend sein kann. Ich bin stolz auf meine Lage, weil ... Ich bin stolz darauf, daß ...« Sie sprach es nicht zu Ende aus, worauf sie stolz war. Tränen der Scham und Verzweiflung erstickten ihre Stimme. Sie blieb stehen und brach in Schluchzen aus.

      Auch er merkte, daß ihm etwas zur Kehle hinaufstieg, daß ihm etwas in der Nase juckte, und fühlte zum erstenmal in seinem Leben, daß er nahe daran war loszuweinen. Er hätte nicht sagen können, was ihn eigentlich so rührte; sie dauerte ihn, und er sagte sich, daß er ihr nicht helfen könne, und war sich zugleich bewußt, daß er an ihrem Unglück schuld war, daß er etwas Schlechtes getan hatte.

      »Ist denn nicht eine Scheidung möglich?« fragte er leise. Sie schüttelte, ohne zu antworten, den Kopf. »Kannst du denn nicht deinen Sohn mit dir nehmen und ihn trotzdem verlassen?«

      »Ja; aber das hängt alles von ihm ab. Jetzt muß ich zu ihm hinfahren«, sagte sie trocken. Ihre Ahnung, daß alles beim alten bleiben werde, hatte sie nicht getäuscht.

      »Dienstag werde ich in Petersburg sein«, sagte Wronski. »Da wird alles zur Entscheidung kommen.«

      »Ja«, erwiderte sie. »Aber wir wollen nicht mehr darüber sprechen.«

      Annas Wagen, den sie weggeschickt hatte mit der Weisung, sich nach einiger Zeit am Gittertor des Wredeschen Parks wieder einzufinden, näherte sich. Anna nahm Abschied von Wronski und fuhr nach Hause.

      23

      Am Montag fand eine ordentliche Sitzung der Kommission vom 2. Juni statt. Alexei Alexandrowitsch trat in den Sitzungssaal, begrüßte die Mitglieder und den Vorsitzenden wie gewöhnlich, setzte sich auf seinen Platz und legte die Hand auf die vor ihm bereitliegenden Papiere. Unter diesen Papieren befanden sich auch die erforderlichen Unterlagen und eine skizzenartige Gliederung der Rede, die er zu halten gedachte. Übrigens hatte er diese Unterlagen eigentlich gar nicht nötig. Er hatte alles im Kopfe und hielt es nicht für notwendig, sich das, was er sagen wollte, vorher noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Er wußte, daß, wenn der Augenblick da sein und er das Gesicht seines Gegners vor sich sehen werde, der vergeblich bemüht sein werde, eine gleichmütige Miene zu machen, daß dann seine Rede ganz von selbst besser dahinströmen werde, als wenn er sich jetzt noch so sehr vorbereitete. Er war sich bewußt, daß der Inhalt seiner Rede so gewaltig und wuchtig war, daß jedes Wort ein Keulenschlag sein werde. Indessen machte er, während er den üblichen Bericht mit anhörte, die allerunschuldigste, harmloseste Miene. Seine weißen, von hervortretenden Adern überzogenen Hände tasteten mit den langen Fingern sanft an den beiden Rändern des vor ihm liegenden weißen Papierbogens umher; den Kopf hielt er mit einem Ausdruck von Müdigkeit zur Seite geneigt; niemand, der ihn so sah, hätte gedacht, daß seinem Munde im nächsten Augenblick Worte entströmen würden, die einen furchtbaren Sturm hervorrufen, die Mitglieder zu laut herausgeschrienen, einander unterbrechenden Erwiderungen veranlassen und den Vorsitzenden zwingen würden, zur Beobachtung der ordnungsmäßigen Formen zu mahnen. Als der Bericht beendet war, erklärte Alexei Alexandrowitsch mit seiner leisen, hohen Stimme, er habe einige Erwägungen in Sachen der Verwaltungseinrichtungen der Fremdvölker vorzutragen. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden wandte sich ihm zu. Alexei Alexandrowitsch räusperte sich und begann seine Gedanken darzulegen; dabei blickte er nicht seinen Gegner an, sondern wählte sich dazu, wie er es immer beim Vortrage seiner Reden tat, die erste vor ihm sitzende Person aus, einen kleinen, friedlichen alten Mann, der niemals in der Kommission eine eigene Meinung hatte. Als er das organische Grundgesetz erwähnte, sprang sein Gegner in die Höhe und begann zu widersprechen. Stremow, der gleichfalls Mitglied der Kommission war und sich gleichfalls empfindlich gekränkt fühlte, suchte sich zu rechtfertigen, und die Sitzung nahm überhaupt einen sehr stürmischen Charakter an; aber Alexei Alexandrowitsch triumphierte als Sieger, sein Vorschlag wurde angenommen, es wurden drei neue Kommissionen ernannt, und am andern Tage war in gewissen Petersburger Kreisen von nichts anderem als von dieser Sitzung die Rede. Alexei Alexandrowitschs Erfolg war sogar größer, als er es selbst erwartet hatte.

      Am andern Morgen, am Dienstag, erinnerte sich Alexei Alexandrowitsch, sowie


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