Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
Читать онлайн книгу.in dem Wunsche, ihm etwas Schmeichelhaftes zu sagen, ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, die ihm über die Vorgänge in der Kommission zu Ohren gekommen seien.
Über den Besprechungen mit dem Subdirektor hatte Alexei Alexandrowitsch vollständig vergessen, daß heute Dienstag war, der Tag, den er für Anna Arkadjewnas Übersiedlung angesetzt hatte, und er war erstaunt und unangenehm überrascht, als der Diener kam und ihm ihre Ankunft meldete.
Anna war früh am Vormittag in Petersburg angekommen; auf ein Telegramm von ihr war der Wagen hinausgeschickt worden, um sie zu holen, und sie hatte daher angenommen, daß Alexei Alexandrowitsch ihre Ankunft erwarte. Aber als sie ankam, empfing er sie nicht. Es wurde ihr gesagt, er sei noch nicht aus seinem Zimmer herausgekommen und arbeite mit dem Subdirektor. Sie befahl, ihrem Manne zu melden, daß sie angekommen sei, ging in ihr Zimmer und beschäftigte sich mit dem Einräumen ihrer Sachen, in der Erwartung, daß er zu ihr kommen werde. Aber es verging eine Stunde, und er war noch nicht zu ihr gekommen. Sie ging in das Eßzimmer, unter dem Vorwande, dort etwas anordnen zu müssen, und sprach absichtlich laut, in der Erwartung, er werde dorthin kommen. Aber er kam nicht, obwohl sie hörte, daß er bis zur Tür seines Arbeitszimmers dem Subdirektor das Geleit gab. Sie wußte, daß er seiner Gewohnheit gemäß nun bald zum Dienste wegfahren werde, und hätte gern noch vorher mit ihm gesprochen, um ihre künftigen Beziehungen zu regeln.
Sie ging ein paarmal im Salon auf und ab und begab sich dann entschlossen zu ihm. Als sie in sein Arbeitszimmer trat, saß er in seiner Dienstuniform, augenscheinlich zur Abfahrt bereit, an einem kleinen Tische, auf den er die Ellbogen stützte, und blickte trübe vor sich hin. Sie sah ihn früher als er sie, und sie sagte sich, daß er an sie dachte.
Als er sie erblickte, wollte er zunächst aufstehen, besann sich aber dann eines anderen. Hierauf wurde er dunkelrot, was Anna früher nie an ihm gesehen hatte, stand nun schnell auf und ging ihr entgegen, wobei er ihr nicht in die Augen blickte, sondern höher hinauf, auf die Stirn und das Haar. Er trat zu ihr, ergriff ihre Hand und bat sie, sich zu setzen.
»Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind«, sagte er, indem er neben ihr Platz nahm; er wollte offenbar noch weiden, aber er stockte. Mehrmals wollte er zu sprechen anfangen, hielt aber immer wieder inne. Sie hatte zwar, als sie sich auf diese Zusammenkunft vorbereitete, sich absichtlich in der Anschauung befestigt, daß er ein verächtlicher Mensch sei und allein die Schuld trage; aber jetzt wußte sie doch nicht, was sie zu ihm sagen sollte, und er tat ihr leid. So dauerte das Schweigen ziemlich lange. »Ist Sergei gesund?« fragte er und fügte, ohne die Antwort abzuwarten, hinzu: »Ich werde heute nicht zum Mittagessen hier sein und muß gleich wegfahren.«
»Ich wollte nach Moskau fahren«, bemerkte sie.
»Nein, Sie haben sehr, sehr gut daran getan, daß Sie hierhergekommen sind«, sagte er und verstummte wieder.
Da sie sah, daß er nicht imstande war, die Auseinandersetzung zu beginnen, so fing sie selbst an.
»Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie, indem sie ihn anblickte und die Augen nicht vor seinem auf ihre Frisur gerichteten Blicke niederschlug, »ich habe mich vergangen, ich bin ein schlechtes Weib; aber ich bin noch dieselbe, die ich war, dieselbe, als die ich mich damals Ihnen zu erkennen gegeben habe, und ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich daran nichts ändern kann.«
»Ich habe Sie nicht danach gefragt«, versetzte er und schaute ihr plötzlich mit festem, haßerfülltem Blicke gerade in die Augen. »Ich habe das auch vorausgesetzt.« Der Zorn verhalf ihm offenbar wieder zum Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten. »Aber was ich Ihnen damals gesagt und nachher geschrieben habe«, fuhr er mit seiner scharfen, hohen Stimme fort, »das wiederhole ich Ihnen jetzt: ich bin nicht verpflichtet, dies zu wissen. Ich ignoriere es. Nicht alle Gattinnen haben wie Sie die Güte, so eilig ihren Ehemännern eine so angenehme Mitteilung zu machen.« Er legte einen besonderen Nachdruck auf das Wort angenehm. »Ich werde es so lange ignorieren, wie die Welt nichts davon weiß, so lange, wie mein Name nicht befleckt ist. Und darum beschränke ich mich darauf, Ihnen mitzuteilen, daß unsere Beziehungen dieselben bleiben müssen, die sie immer gewesen sind, und daß ich nur in dem Falle, wenn Sie sich bloßstellen sollten, genötigt sein werde, die erforderlichen Maßregeln zu ergreifen, um meine Ehre zu schützen.«
»Aber unsere Beziehungen können nicht von derselben Art sein wie bisher«, begann Anna zaghaft und blickte ihn erschrocken an.
Als sie wieder diese ruhigen Handbewegungen sah und diese durchdringende, kindlich hohe, spöttische Stimme hörte, da verschwand ihr früheres Mitleid vor dem Widerwillen gegen ihn; jetzt fürchtete sie sich nur vor ihm; aber sie wollte um jeden Preis eine Klärung ihrer Lage herbeiführen.
»Ich kann nicht Ihre Gattin sein, wenn ich ...«, begann sie. Er brach in ein grimmiges, kaltes Lachen aus.
»Die Lebensweise, die Sie sich erwählt haben, muß wohl auf Ihr ganzes Denken zurückgewirkt haben. Ich achte so sehr das, was Sie früher waren, und ich verachte so sehr das, was Sie jetzt sind, daß mir die Deutung, die Sie meinen Worten beilegen, ganz fern lag.«
Anna seufzte und ließ den Kopf sinken.
»Übrigens«, fuhr er, hitziger werdend, fort, »das ist mir nicht verständlich: wenn Sie einen so großen Unabhängigkeitssinn besitzen und Ihrem Gatten geradezu von Ihrer Untreue Mitteilung machen und in Ihrem Verhalten anscheinend gar nichts Unpassendes finden, wie können Sie dann die Erfüllung der Pflichten, die die Gattin dem Manne gegenüber hat, für unpassend halten?«
»Alexei Alexandrowitsch, was verlangen Sie von mir?«
»Ich verlange, daß dieser Mensch sich hier nicht blicken läßt; ich verlange, daß Sie sich so benehmen, daß weder die Welt noch die Dienerschaft Ihnen Übles nachsagen kann; ich verlange, daß Sie ihn nicht wiedersehen. Ich möchte meinen, das ist nicht zuviel verlangt. Und dafür werden Sie die Rechte einer ehrbaren Frau genießen, ohne ihre Pflichten zu erfüllen. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Jetzt muß ich wegfahren. Ich bin zum Mittagessen nicht hier.« Er stand auf und ging zur Tür hin.
Anna erhob sich ebenfalls. Mit einer schweigenden Verbeugung ließ er sie an sich vorbei.
24
Die Nacht, die Ljewin auf dem Heuhaufen zugebracht hatte, war für ihn nicht ohne wichtige Nachwirkungen geblieben: seine bisherige Art der Wirtschaftsführung war ihm zuwider geworden und hatte für ihn alles Interesse verloren. Trotz der vorzüglichen Ernte waren noch nie so viele Mißerfolge und so viele Mißhelligkeiten zwischen ihm und den Bauern vorgekommen wie in diesem Jahre, oder wenigstens schien es ihm so; und die Ursache dieser Mißerfolge und dieser Mißhelligkeiten war ihm jetzt völlig verständlich. Das Vergnügen, das er an der persönlichen Arbeit gefunden hatte; die daraus hervorgehende Annäherung an die Bauern; der Neid, den sie und ihre ganze Lebensweise ihm einflößten; der Wunsch, zu dieser Lebensweise überzugehen, ein Wunsch, der in jener Nacht für ihn nicht mehr eine bloße Phantasterei gewesen war, sondern die Form eines bestimmten Planes angenommen hatte, dessen Ausführung er schon im einzelnen überdachte: alles dies hatte seine Ansichten über den Wert des bei ihm eingeführten Wirtschaftsbetriebes derart geändert, daß er jetzt an dieser Art des Betriebes schlechterdings nicht mehr das frühere Interesse nehmen und für sein unerfreuliches Verhältnis zu den Arbeitern, das der Grund zu alle dem war, nicht blind sein konnte. Verbesserte Kuhherden von der Art wie Pawa; ein in seiner ganzen Ausdehnung verbessertes, mit modernen Pflügen bearbeitetes Ackerland; neun gleiche, mit Weidengebüsch eingefaßte Felder; neunzig Deßjatinen mit tief untergepflügtem Dünger; Reihensämaschinen und so weiter: alles das wäre wunderschön gewesen, wenn er es hätte entweder allein ausführen können oder in Kameradschaft mit gleichgesinnten Männern. Aber er sah jetzt klar (und seine Arbeit an dem Buche über die Landwirtschaft, in dem er als die wichtigste Grundlage der Landwirtschaft den Arbeiter ansehen wollte, hatte ihm wesentlich mit zu dieser Einsicht verholfen), er sah jetzt klar, daß sein jetziger Wirtschaftsbetrieb weiter nichts als ein grimmiger, hartnäckiger Kampf zwischen ihm und den Arbeitern war, bei dem auf der einen Seite, das heißt auf seiner Seite, das stete, angestrengte Streben stand, alles nach dem für das Beste erkannten Muster umzugestalten,