Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa
Читать онлайн книгу.Senior, inzwischen 65 und im Rentenalter, stammt aus der Gegend und wurde nach dem Ende seiner Laufbahn Immobilienmakler. Billy, mittlerweile Ende 30, arbeitet für eine Biervertriebsfirma und ist ebenfalls in Minnesota geblieben, dem eishockeyverrücktesten Bundesstaat in den Vereinigten Staaten.
Dass sie beide erschienen sind, hat einen Grund: Sie verbindet nämlich mehr als nur eine klassische Ereigniskette aus der Biologie. Der Junior wollte einst sportlich in die Fußstapfen seines Vaters treten und hatte „den Traum, für die amerikanische Olympia-Auswahl zu spielen und eine Goldmedaille zu gewinnen“.
Daraus wurde nichts, weil er irgendwann verletzungsbedingt die Karriere beenden musste. Dafür gelang ihm etwas, was nur wenige Söhne hinbekommen: Billy Schneider schlüpfte vor etwas mehr als 15 Jahren in das Trikot seines Vaters mit der Nummer 25 und spielte in einem teuren Hollywood-Film, der den Triumph noch einmal leinwandgerecht und schön melodramatisch nacherzählt, niemand anderen als ihn.
Es gab auch eine deutsche Fassung, Miracle – Das Wunder von Lake Placid, die mit einem Trailer in die Kinos kam, der vor keinem Superlativ zurückschreckte: „Wenn man Unmögliches wagt, können Wunder geschehen.“
„Das war großartig. Es war wild“, sagt Billy, der diese Rolle erst am Ende eines langwierigen Casting-Verfahrens zugesprochen bekam. „Ich hatte viel Text, war oft zu sehen. Mein Vater hat bei den Olympischen Spielen viele Tore geschossen. Also musste ich auch viele Tore schießen.“
Klassische Schauspieler kamen für die Rolle der Aktiven nicht in Frage. Um glaubwürdig rüber zu kommen, werden gute Eishockey-Spieler benötigt, wie Billy sagt, der den Regisseur überzeugen konnte. Und zwar ganz ohne Einfluss seines Vaters: „Ja, es gab sogar Hockey-Probetraining. Dreimal. Ganz so, als ob man sich für eine reguläre Mannschaft bewerben würde. Und dann haben sie die Besten ausgewählt. Am Anfang ging es also einfach nur darum, ob du spielen kannst. Wer spielen kann und gut genug ist, der wird akzeptiert.“49
Für Buzz ist an dieser Geschichte noch heute eines besonders bemerkenswert: „Dass etwas, was wir 1980 getan haben, einen Einfluss darauf hatte, dass mein Sohn in einem Film viele Jahre später mitspielt. Ich konnte gar nicht glauben, dass etwas, an dem ich beteiligt war, ihm in seinem Leben geholfen hat.“
Im Reisepass von Billy findet sich übrigens eine weitere Kuriosität. Denn Buzz Schneider wurde nach den Olympischen Spielen Profi-Eishockeyspieler, unterschrieb beim SC Bern in der Schweiz und zog zusammen mit seiner Frau Gail nach Europa. Und so erblickte Billy im Dezember 1980 auf neutralem helvetischen Boden das Licht der Welt.
Die Schneiders waren nicht die einzigen, die damals nach Europa umzogen. Auch Mark Pavelich, Nebenmann im Sturm von Lake Placid, landete in einer neuen Umgebung. Er unterschrieb beim HC Lugano, aber schaffte es nach nur einem Jahr zurück in die USA, wo er in der National Hockey League unter anderem bei den New York Rangers und den Minnesota North Stars spielt.50
Schneider, der damals vom deutschen Meistertrainer Xaver Unsinn in die Schweiz geholt wird, hat seine Zeit in Bern sehr genossen und erinnert sich noch heute gern daran. Vor allem auch an Mitspieler, die hier zu neuen wichtigen Bezugspersonen wurden. Wie zum Beispiel Roland Dellsperger, sein bester Freund im Team, mit dem er sich unterwegs die Hotelzimmer teilte. Die beiden halten bis zum frühen Tod des Eidgenossen 2013 ständig Kontakt. Auch die Freundschaft zu Renzo Holzer reißt nie ab. Nicht mal nachdem Schneider 1983 mit 28 Jahren in seine Heimat zurückkehrte und das Eishockeyspiel aufgibt. Der Mann, der mit seinen Schlagschüssen ganze Spiele entscheiden konnte, leidet an den Folgen eines irreparablen Bandscheibenvorfalls.
Auch das hervorragende Verhältnis zu den anderen Teamgefährten von Lake Placid bleibt erhalten. Die Gruppe trifft sich immer wieder zu medienwirksamen Ereignissen, mit deren Hilfe die Erinnerung an das Wunder weiter gepflegt wird. So wie im Februar 2015, als man in Lake Placid mal wieder zusammenkommt.
Immer dabei: Fernsehreporter Al Michaels: „Sie haben mich bei ihren Zusammenkünften immer wieder eingeladen und niemand sonst von außen. Die Erinnerung an dieses Ereignis hätte allerdings auch so überlebt, egal, was ich am Ende gesagt habe. Es wäre eindeutig eines der Ereignisse gewesen, an die sich Menschen für den Rest ihres Lebens erinnern. Aber die Spieler sind so dankbar, dass ich in der Lage war, das in Worte zu fassen. Und ich bin nicht nur dankbar dafür, dass ich das tun konnte, sondern auch für sie. Denn dies war ein so einzigartiges Ereignis. Etwas, was es noch nie zuvor gegeben hatte.“
Einer, der in solchen Momenten schmerzlich vermisst wird, ist der Mann, dem man vor der Eishockeyhalle in St. Paul ein Bronzedenkmal in Lebensgröße errichtet hat: Trainer Herb Brooks. Der war in den 1970er-Jahren Coach der Collegemannschaft der University of Minnesota und mit ihnen dreimal US-Meister geworden. Er hatte für die Olympischen Spiele eine Phalanx aus Repräsentanten seiner Heimatregion zusammengestellt: zwölf der 20 Spieler im Kader kamen so wie Buzz Schneider aus Minnesota. Sowie fast alle Mitglieder im Betreuerstab.
Ein Jahr nach dem Sieg von Lake Placid macht er ebenfalls einen Abstecher in die Schweiz, als er beim HC Davos einen Vertrag bekommt. Später arbeitet er in der National Hockey League und betreut die New York Rangers, dann die Minnesota North Stars, die New Jersey Devils und schließlich die Pittsburgh Penguins. Seine Rückkehr an die Bande bei den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City ist der Grundstein für eine Silbermedaille der amerikanischen Mannschaft. Brooks verliert am 11. August 2003 bei einer Fahrt außerhalb von Minneapolis die Kontrolle über seinen Wagen, wird herausgeschleudert und stirbt an Ort und Stelle.
„Er war der richtige Mann, der uns zur richtigen Zeit trainiert hat“, hat Ken Morrow mal gesagt, der später mit den New York Islanders viermal den Stanley Cup gewann. „Ich glaube mit jemand anderem hätten wir nicht gewonnen.“
Ein Trainer mit vielen taktischen Einfällen. Buzz Schneider: „Herb Brooks selbst hat an Olympischen Spielen teilgenommen und oft in der Nationalmannschaft gespielt. Ich weiß nicht mehr genau wie oft. Er wusste, wie die Russen und die Tschechen spielen, wie sie den Puck kontrollieren und flexibel sind, wenn es um die Positionen geht. Er hat sie lange studiert. Ich weiß, dass er einige dieser Lektionen an der Universität von Minnesota in den 70er-Jahren angewandt hat. Puckkontrolle und Positionswechsel – das war nicht das alte, traditionelle nordamerikanische Eishockey, bei dem die Flügel hoch und runter an der Bande entlang unterwegs sind. Er glaubte nicht an dump and chase. Wir wussten also, dass wir einen Vorteil hatten. Wir hatten 20 Spieler, die alle schnell waren und mit dem Puck umgehen konnten. Wir waren in sehr guter körperlicher Verfassung. Und wir konnte andere Teams mürbe machen.“
Aber Brooks ist jemand, der mit seinen eigenen Spielern sehr distanziert umgeht. „Ich glaube, er wäre sicher gerne Teil unserer Gruppe gewesen, aber irgendwie konnte er das nicht“, weiß Mike Eruzione, der Kapitän der Goldjungs von Lake Placid. Dafür befeuert er sie mit seinen Sprüchen, die die Spieler antreiben sollen. Und die Eruzione und zwei Mannschaftschaftskollegen in einem Booklet sammeln, das sie Brooksisms nennen. Es enthält jene Sätze, die nach seinem Tod im Miracle-Film genutzt werden, um seinen Umgang mit den Spielern zu illustrieren:
„Gentlemen, ihr besitzt nicht genug Talent, um ausschließlich auf der Basis von Talent gewinnen zu können.“
„Lasst uns idealistisch sein, aber gleichzeitig auch praktisch.“
„Ihr könnt nicht normal sein. Denn der normale Mensch schafft es nirgendwo hin. Ihr müsst unkonventionell sein.“
Vor dem Spiel, im engen Umkleideraum Nummer 5 vom Olympic Field House, gibt er ihnen diese Botschaft mit auf den Weg, die dem Projekt eine messianische Note gibt: „Ihr seid als Sieger geboren worden. Ihr wart dazu bestimmt, hier zu sein. Das ist euer Augenblick.“
„Ich habe mit Herb nie ein Problem gehabt“, sagt Buzz Schneider. „Er war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Solche Leute gibt es heute gar nicht mehr.“
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Übrigens wird in der Erinnerung an die Leistung der amerikanischen Spieler und an ihren emotionalen Erfolg meistens gerne unterschlagen, was aus dem Gegner wurde, der an diesem Freitag 1980 zur eigenen Verblüffung die vermutlich härteste Niederlage in der stolzen Geschichte des sowjetischen Eishockeys erleidet.
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