Münchhausen. Karl Immermann

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Münchhausen - Karl  Immermann


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die rationalistischen, feudalistischen, supranaturalistischen, konstitutionellen, superstitionellen, dogmatischen, kritischen Organe; die Fabelwesen: Phönix, Minerva, Hesperus, Isis; das Ausland, das Inland; Europa, Asien, Afrika, Amerika und die Stimmen aus Hinterpommern; der Komet, der Planet, das Weltall — kurz, im ganzen vierundachtzig Hefte, so daß jeder Teilnehmer am Zirkel die Woche hindurch in jeder der zwölf Tagesstunden ein Journal zu lesen bekam.

      Diese Unterhaltung war ganz nach dem Sinne des alten Barons. Endlich, rief er fröhlich aus, als er sich mit dem Umfange der ihm neu eröffneten Vorratskammern bekannt gemacht hatte, endlich doch Gedrucktes, welches einen belehrt, ohne zu beschweren! In der Tat gewannen seine Vorstellungen durch das Lesen der Journale bald eine außerordentliche Bereicherung. Hatte ihm das eine Blatt eine kurze Notiz von dem großen Giftbaume in Indien gegeben, der die Atmosphäre auf tausend Schritte hin ansteckt, so lehrte ihn das folgende, wie die Kartoffeln im Winter vor Frost zu bewahren seien; in dieser Minute las er von Friedrich dem Großen, in der nächsten von der Gräfenberger Wasserkur, aber nicht lange, denn gleich darnach erzählte einer die Geschichte der neuen Entdeckungen im Monde. Eine Viertelstunde war er in Europa, dann spazierte er wieder, wie von Fausts Mantel entrückt, unter Palmen; bald hatte er einen historischen Christus, bald einen mythischen, bald gar keinen; vormittags fiel er mit der äußersten Linken die Minister an, nachmittags war er absolutistisch gesinnt, abends wußte er nicht, wo ihm der Kopf stand, und ging als Juste-Milieu zu Bette, um nachts vom Taschenspieler Janchen von Amsterdam zu träumen.

      Er hätte nie geglaubt, noch so glücklich werden zu können. Daß seine Umstände indessen immermehr sich verschlimmerten, und daß er endlich nur auf einen kleinen Lehnsstamm, der ihn eben vor dem äußersten Mangel schützte und unangreifbar war, beschränkt ward, kümmerte ihn wenig. Sagte ihm die blonde Lisbeth, das Haus bekomme nach der Giebelwand zu Risse, und könne über Nacht einmal einstürzen, so pflegte er zu erwidern: »Laß mich zufrieden. Ich habe noch sechs Hefte durchzustudieren.« Wurde sie dringender, so rief er ärgerlich: »Ehe das Schloß einstürzt, bin ich Geheimer Rat!« und sie mußte unverrichteter Sache weichen.

      Freilich entstand durch das unendliche Material, welches er täglich zu verarbeiten hatte, in seinem Kopfe eine große Verwirrung der Vorstellungen, und er mußte zuweilen das Haupt in beide Hände nehmen, um sich zu besinnen, ob er noch in unserem, oder in einem fremden Weltteile, oder ob er überhaupt nur noch auf der Erde und nicht schon längst im Sirius sei? Auch begann er von jetzt an, alles zu glauben, was er hörte, und wenn man ihm gesagt hätte, die Vögel sängen nach Noten. Denn, pflegte er oft gegen die Seinigen zu äußern, es kann heutzutage nichts Dümmeres geben, als den Kopfschüttler und Zweifelmütigen zu machen; man muß nur Mitglied unsres Journal-Lesezirkels geworden sein, um zu erfahren, daß nichts so wunderbar ist, was nicht jetzo zerfällt; die Menschen und die Sachen und die Erfindungen sind in einem erschrecklichen Fortschritte, und wenn er noch zunimmt, so erleben wir, daß das Wasser Balken bekommt, und daß man mit Extrapost von hier direkt nach London fährt.

      Konnte etwas seine Stimmung trüben, so war es der Mangel eines Freundes, dem er sich hätte erschließen, mit dem er seine Ideen hätte austauschen mögen. Die Sehnsucht nach einem Gleichgestimmten, nach einem fördernden Umgange wurde oft sehr groß in ihm. Seine Tochter konnte diesem Verlangen nicht genügen, sie hing nur ihren empfindsamen, ideellen Richtungen nach, und hegte für Realkenntnisse wenig Sinn; Lisbeth aber hatte ein für allemal, da er mit ihr von den Dingen, die ihn so mannigfach beschäftigten, reden wollen, ablehnend erwidert: Sie wolle sich nichts in den Kopf setzen lassen.

      Sechstes Kapitel

Wie der Dorfschulmeister Agesel durch eine deutsche Sprachlehre um seinen Verstand gebracht wurde, und sich seitdem Agesilaus nannte

      Einigermaßen, wenn auch nicht genügend, wurde die Sehnsucht des alten Barons befriedigt, sie erhielt sozusagen, wie das Sprichwort lautet, eine Birne für den Durst, als der Schulmeister Agesilaus in seine Nähe kam. Dieser Mann, welcher früher Agesel geheißen hatte, und ein alter Bekannter des Barons war, bekleidete bis zu dem Umschwunge in seinem Schicksale das Amt, die Jugend eines benachbarten Dörfchens im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Er wohnte in einer Hütte von Lehmwänden, die außer der Schulstube nur sein Schlafkämmerchen faßte, hatte dreißig Gulden jährlichen Gehalt, außerdem das Schulgeld; zwölf Kreuzer für den Knaben und sechs für das Mädchen, einen Grasfleck für ein Rind und das Recht, zwei Gänse in die Gemeindeweide mit einzutreiben. Er versah seinen Dienst ohne Tadel, lehrte die Jugend nach der alten Manier, so wie sie im Dorfe seit hundert und mehreren Jahren gebräuchlich war, buchstabieren: G-e-, Ge, s-u-n-d, sund, h-e-i-t, heit; Gesundheit — B-e-t, Bet, t-e-l, tel, Bettel, s-a-c-k, sack; Bettelsack u. s. w. und brachte die fähigsten Köpfe nicht selten soweit, daß sie Gedrucktes ohne sonderliche Anstrengung lesen lernten. Was das Schreiben anlangte, so ging auch aus seinen Händen dieser und jener hervor, der den eignen Namen zustande zu bringen wußte, wenn man ihn nicht übereilte, sondern ihm die nötige Zeit ließ.

      In diesem Systeme war unser Schulmeister fünfzig Jahre alt geworden. Da ereignete es sich, daß die allgemeinen Steigerungen des Zeitalters auch einen neuen Lehrplan im Lande hervorriefen, der bis zu den Dorfschulmeistern umbildend durchgreifen sollte. Seine Vorgesetzten schickten ihm ein Lehrbuch der deutschen Sprache zu, eines von denen, welche die ABC-Wissenschaft tiefsinnig und philosophisch begründen wollen, und erteilten ihm die Weisung, seine bisherige rohe Empirie zu rationalisieren, sich selbst zuvörderst aus dem Buche zu unterrichten, und dann danach die veränderte Belehrung der Jugend anzufangen.

      Der Schulmeister las das Buch durch, er las es noch einmal durch, er las es von hinten nach vorn, er las es aus der Mitte, und er wußte nicht, was er gelesen hatte. Denn es war darin gehandelt von Stimmlauten und Mitlauten, von Auf-, In- und Umlauten; er sollte daraus die Laute trüben und verdünnen lernen, er sollte durch Säuseln, Zischen, Pressen, durch Näseln und Gurgeln die Laute hervorbringen, er vernahm, daß die Sprache Wurzeln treibe und Seitenwurzeln, er erfuhr endlich daraus, daß das I der reine Urlaut sei, und daß dessen Erzeugung durch starkes Zusammendrücken des Kehlkopfes nach dem Gaumen hin geschehe.

      Er bat Gott um Erleuchtung in diesen Finsternissen, aber sein Flehen prallte zurück von dem ehernen Himmel. Er setzte sich wieder vor das Buch, mit der Brille auf der Nase, um schärfer zu sehen, wiewohl er bei Tageslicht wohl noch ohne Gläser fertig werden konnte. Ach, nur deutlicher traten seinen bewaffneten Augen die furchtbaren Rätsel des Daseins, die Sause- Zisch- Preß- Nasen- und Gurgellaute entgegen! Darauf legte er das Buch weg, fütterte seine Gänse und gab einem Jungen, der gerade dazukam und sagte, der Vater wolle das Schulgeld nicht zahlen, zwei derbe Maulschellen, um durch das praktische Leben Aufschluß für die Theorie zu gewinnen. Umsonst. Er aß eine Knackwurst, sich körperlich zu stärken. Vergebens. Er leerte einen ganzen Senftopf, weil er gehört hatte, dieses Gewürz schärfe den Verstand. Eitles Bemühen!

      Er legte das Buch abends vor dem Schlafengehen unter sein Kopfkissen. Leider fühlte er am andern Morgen, daß weder die Wurzeln, noch die Seitenwurzeln ihm in den Kopf gedrungen waren. Gern hätte er das Buch, wie Johannes jenes vom Engel getragne, auf die Gefahr der empfindlichsten Leibschmerzen hin, verschlungen, wäre er dadurch des Inhaltes Meister geworden; aber welche Hoffnungen konnte er nach dem Bisherigen von einem so gewagten Versuche hegen?

      Die Schule stand still, die Kinder fingen Maikäfer, oder jagten die Enten in den Teich. Die Alten aber schüttelten den Kopf und sagten: »Mit dem Schulmeister hat es seine Richtigkeit nicht.« Eines Tages, nachdem er sich wieder in seinen verzweiflungsvollen Bemühungen um den Sinn der Dünnung und Trübung abgearbeitet hatte, rief er: »Wenn ich dieser Bestie von Buch nur erst an einem Flecke beigekommen bin, so gibt sich vielleicht das übrige von selbst!« — Er nahm sich vor, zuvörderst den reinen Urlaut I nach der Anweisung des Buchs zu erzeugen.

      Er setzte sich daher auf seinen Grasfleck zum Rinde, welches dort, unbekümmert um rationelle Lauterzeugung, empirisch brummte, stemmte die Arme in die Seite, drückte den Kehlkopf stark nach dem Gaumen hin, und stieß nun die Töne hervor, welche sich auf solche Weise veranstalten lassen wollten. Sie waren höchst sonderbar, und so auffallend, daß selbst das Rind vom Grase emporblickte und seinen Herrn mitleidig ansah. Eine Menge Bauern hatte der Schall herbeigezogen; sie standen neugierig und verwundert um den Schulmeister her. »Gevattern!« rief dieser


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