Dalmatinische Reise. Bahr Hermann
Читать онлайн книгу.als hätte ich sie so noch nie gesehen! Ich muß aber lachen, denn ich erinnere mich, daß mir noch jedesmal immer wieder ist, als hätte ich sie so noch nie gesehen. Seltsam: wir haben kein Gedächtnis für Eindrücke, wir bewahren sie nicht wirklich auf. Wir täuschen uns, wenn wir uns zu erinnern glauben. Wir erinnern uns nur, daß einmal ein Erlebnis da war. Es selbst aber verläßt uns. Kommt es wieder, so können wir es kaum erkennen. Immer ist es wieder wie zum erstenmal. Immer wieder, wenn im Fidelio im zweiten Akt die Hörner rufen und ihr Licht den schwarzen Kerker sprengt, wenn ich den Wilhelm Meister lese, wenn Kainz spricht, wenn der Mildenburg schmerzensreiche Stimme tönt, wenn ich einen Klimt sehe, wenn ich wieder vom Semmeringer blauen Haus in Fichten die Rax erblicke, wenn ich wieder über San Giacomo auf der weißen Straße mit den Agaven bin, ist mir immer wieder: Nein, ich hab's ja noch nie gewußt, jetzt ist es zum erstenmal, jetzt weiß ich es erst und kann's nie mehr vergessen! Und so glaubt man es jetzt erst zu haben und jetzt bei sich zu halten, für alle Zeit, und glaubt, daß es nun nie mehr vergehen kann, und doch vergeht es wieder und verlischt, und es ist nur ein grauer Schatten, der davon in der Seele kauern bleibt.
Triest. Ein prachtvolles Automobil bringt den Gast in ein elendes Hotel. Triest hat nämlich noch immer kein Hotel, das halbwegs den Gewohnheiten eines Europäers entsprechen könnte. Wien ja schließlich auch nicht. Die Wiener sind sehr bös, wenn man sagt, daß sie kein Hotel und kein Fuhrwerk haben. Sie finden es unpatriotisch, das zu sagen. Ich finde es unpatriotisch, keins zu haben. Ich fragte neulich einen: Also wo habt ihr denn ein Hotel wie das Adlon in Berlin, wo denn? Er antwortete mir, zornig: Aufgewachsen sind Sie im Adlon! Ich erwiderte: Nein, es handelt sich aber auch nicht um mich, sondern um die Fremden, die sind es nun einmal gewohnt, europäisch zu wohnen, und da sie das in Wien nicht können, reisen sie wieder ab. Er sagte: Sollen die Fremden zuerst kommen, dann wird man ja sehen. Ich sagte: Die Fremden wollen aber zuerst sehen, dann werden sie kommen. – Es ist immer derselbe Streit. Der Fremde soll es sich erst durch Fleiß und Ausdauer verdienen, dann wird man ihn belohnen. Wien ist darin der richtige Vorort von Istrien und Dalmatien. – Das sind so österreichische Sachen, die niemand erklären kann. Warum gibt es europäische Hotels in Karlsbad, in Franzensbad, in Marienbad, in Salzburg und überall in Tirol? Und warum gibt es keine in Wien, in Triest, in Pola, in Fiume und in Dalmatien? Man könnte doch einfach die Herren Pupp, Jung und Christomanos von Staatswegen in die anderen Provinzen importieren.
Merkwürdig ist Triest. Die schönste Landschaft. Schöner als Neapel. Aber gar keine Stadt. Man hat das Gefühl, hier überhaupt nirgends zu sein. Es kommt einem vor, als bewege man sich im Wesenlosen. Hier hat sich nämlich der Staat das Problem gestellt, einer Stadt ihren Charakter vorzuenthalten. Natürlich geht das nicht, es ist doch eine italienische Stadt. Aber sie darf nicht. Daher der Unwille, den man überall an ihr spürt. Es ist eine Stadt, die eine unwillige Existenz führt. Was sie ist, soll sie nicht sein, und gegen den Schein, zu dem man sie zwingt, wehrt sie sich. Nun stößt sich aber der Staat damit selbst vor den Kopf. Er braucht die Stadt. Er braucht sie stark und groß. Doch Kraft und Größe lassen sich nicht verordnen. Der Staat tut alles, um die Stadt zu verkrüppeln, und wundert sich dann, wenn sie nicht wächst. Auf jede Forderung der Stadt antwortet er: Werdet zuerst Patrioten, dann wird man etwas für euch tun! Während sich die Leute natürlich denken; Tut erst etwas, wofür es sich lohnt Patrioten zu sein! Es ist genau dieselbe Geschichte wie mit den Wiener Hotels und den Fremden.
Der Staat fragt die Triestiner in einem fort: Warum seid ihr nicht patriotisch? Und die Triestiner fragen in einem fort: Warum sollten wir patriotisch sein? Es weiß nämlich bei uns niemand, was ein Patriot ist. Ein Patriot ist, wer sich unter einer Regierung so wohl fühlt, daß er sie durchaus mit keiner anderen vertauschen möchte, aus Angst, dabei zu verlieren. Weshalb auch eigentlich tief in jedem Menschen der Wunsch ruht, ein Patriot sein zu können. Dies nicht zu bemerken ist das System der österreichischen Verwaltung. Es war schon immer so, auch als wir noch Oberitalien hatten. Es hat sich nicht geändert. Der Staat traut den Triestinern nicht, die Triestiner trauen dem Staat nicht. Daraus hat sich mit der Zeit das schöne Verhältnis ergeben, daß die beiden, der Staat und Triest, sozusagen nicht mehr miteinander verkehren. Macht aus dieser Stadt, was sie sein könnte, eine starke und reiche und große Stadt, stärker und reicher und größer als Venedig, und die nächste Generation wird sagen: Wir wären ja Narren, zu tauschen! Und warum soll sie nicht italienisch sein? Ihr könnt euch ja gar nichts besseres wünschen als eine italienische Stadt, die sich in Österreich wohl fühlt!
Nun sagt jeder Triestiner, wer es auch sei: Wir müssen die italienische Universität kriegen! Und jeder vernünftige Mensch in Österreich sagt: Die italienische Universität muß nach Triest! Alle sind einig. Darum geschieht es nicht. Denn wenn in Österreich alle einig sind, glaubt man, daß etwas dahinter stecken muß. Und wenn in Österreich jemand etwas will, glaubt man, daß er eigentlich etwas anderes will; oder doch aus anderen Gründen, als er sagt. Die Regierung kann sich nicht denken, daß es in Österreich anständige Menschen gibt.
Die Italiener wollen eine italienische Universität, um ihre Söhne auszubilden, und sie wollen sie in Triest, weil sie Triest nahe haben und weil ihre Söhne in fremden Städten unglücklich sind. Nein, sagt die Regierung: sie wollen sie, um Irredentisten zu züchten! Worauf zu antworten wäre: Irredentisten züchtet ihr, ihr, weil jeder österreichische Italiener ein Irredentist sein wird, so lange er sich in Österreich fremd fühlt, und weil jeder sich in Österreich fremd fühlen muß, so lange man ihm mißtraut! Die Heimat eines Menschen ist dort, wo er sich bei sich zu Hause fühlt. Sorgt dafür! Und ferner: Eine bessere Zucht von Irredentisten als in Wien gibt es gar nicht. In Wien fühlt sich der italienische Student fremd, er versteht die Sprache nicht, er ist von Feindschaft umgeben, niemand nimmt sich seiner an, Heimweh quält ihn, so sitzt er den ganzen Tag mit den anderen im Café beisammen, um nur doch seine Sprache zu hören, und wenn unter diesen nun ein einziger ist, den die Not oder die Sehnsucht zum Irredentisten macht, so sind es nach einem Monat alle; seelische Kontagion nennt man das. Und endlich: Ihr treibt jeden Italiener aus Österreich hinaus, dem ihr die Wahl stellt, ein Italiener oder ein Österreicher zu sein! Es muß ihm möglich werden, als Italiener ein Österreicher zu sein. Wie denn unser ganzes österreichisches Problem dies ist, daß es uns möglich werden muß, Österreicher deutscher oder slawischer oder italienischer Nation zu sein.
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Ich gehe zum Lloyd um mein Billet. Sie sind auf diesen Palast sehr stolz. Er ist 1883 von Ferstl erbaut, in jenem sinnlosen und grundlosen Ringstraßenstil, der wie eine tote Sprache klingt. Ich habe einen alten ungarischen Pfarrer gekannt, der eine Vorliebe hatte, lateinisch zu reden. Gullasch essen und lateinisch reden. Und genau so wirkt dieser Bau. Und dann bin ich immer traurig, beim Lloyd. Weiß selbst nicht warum. Seine Kapitäne sind so wunderbare Menschen. Sie fühlen sich als Italiener, stammen aber fast alle von Kroaten ab, und jene Beweglichkeit mischt sich seltsam mit dieser Wehmut. Ganz stille verhaltene Menschen sind es, von einer geduldigen Höflichkeit, unter der eine stumme Sehnsucht ruht. Ich habe sie sehr gern, aber sie machen mich so traurig. Warum? Ohne gesprächig zu sein, lassen sie sich doch gern einmal zum Erzählen verführen und haben dann die lustigsten Geschichten bereit. Wie oft, bei ruhiger See, wenn wir nach dem Essen abends im Dunkel mit glühenden Zigarren beisammen saßen, hab ich ihnen gehorcht! Und doch macht's mich immer traurig. Unter ihren Worten, während der Mund lacht, ist eine Traurigkeit. Und dann fährt einmal ein Schiff des Norddeutschen Lloyd oder der Hapag vorbei. Da verstummen sie. Sitzen still und schauen hin und rauchen. Höchstens, daß einer einmal sagt: Glauben Sie, wir könnten das nicht auch, was die können? Und dann kommt's langsam heraus: sie fühlen sich als die besten Seefahrer und begreifen nicht, warum ihnen die vorkommen, die nordischen! Und da stehen sie dann nachts auf der Brücke im Wind und denken daran. Wir können so viel als die! Wir sind nicht schlechter! Warum läßt unser Lloyd die anderen vor? Das liegt schwer auf ihnen.
Wir sitzen in der Direktion oben beisammen, geraten ins Reden, und ich sage ihnen das. Euere Leute sind unfroh, weil sie das Gefühl haben, der Lloyd könnte mehr sein. Warum ist er es nicht? Warum seid ihr so falsch bescheiden? Warum seid ihr weniger, als ihr könnt? Man ist sehr artig mit mir, aber nicht ohne jenen leisen Spott, den Fachmenschen für Laien haben. Ein Fachmensch ist, wer den Apparat im einzelnen kennt. Einen Laien nennt er jeden, der nicht nach dem Apparat, sondern nach der Leistung fragt. Der Fachmensch ist zufrieden, wenn der Apparat in Ordnung ist. Der Laie hätte stets Lust, auch einmal den Apparat zu