Italienische Reise — Band 2. Johann Wolfgang von Goethe

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Italienische Reise — Band 2 - Johann Wolfgang von Goethe


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welchen allein sich selbst das entschiedenste Naturell zum Letztmöglichen des Gelingens erheben kann, und wollen wir nicht verzweifeln, so müssen wir uns zurückwenden und uns mit dem Strebenden, dem Werdenden vergleichen.

      Dies ist die Ursache, warum die deutschen Künstler Neigung, Verehrung, Zutrauen zu dem älteren, Unvollkommenen wendeten, weil sie sich daneben auch für etwas halten konnten und sich mit der Hoffnung schmeicheln durften, das in ihrer Person zu leisten, wozu dennoch eine Folge von Jahrhunderten erforderlich gewesen.

      Kehren wir zu Raffaels Kartonen zurück und sprechen aus, daß sie alle männlich gedacht sind; sittlicher Ernst, ahnungsvolle Größe walten überall, und obgleich hie und da geheimnisvoll, werden sie doch denjenigen durchaus klar, welche von dem Abschiede des Erlösers und den wundervollen Gaben, die er seinen Jüngern hinterließ, aus den heiligen Schriften genugsam unterrichtet sind.

      Nehmen wir vor allen die Beschämung und Bestrafung des Ananias vor Augen, da uns denn jederzeit der kleine, dem Mark Anton nicht unbillig zugeschriebene Kupferstich, nach einer ausführlichen Zeichnung Raffaels, die Nachbildung der Kartone von Dorigny und die Vergleichung beider hinlänglichen Dienst leisten.

      Wenig Kompositionen wird man dieser an die Seite setzen können; hier ist ein großer Begriff, eine in ihrer Eigentümlichkeit höchst wichtige Handlung in ihrer vollkommensten Mannigfaltigkeit auf das klarste dargestellt.

      Die Apostel als fromme Gabe das Eigentum eines jeden, in den allgemeinen Besitz dargebracht, erwartend; die heranbringenden Gläubigen auf der einen, die empfangenden Dürftigen auf der andern Seite, und in der Mitte der Defraudierende gräßlich bestraft: eine Anordnung, deren Symmetrie aus dem Gegebenen hervorgeht und welche wieder durch die Erfordernisse des Darzustellenden nicht sowohl verborgen als belebt wird; wie ja die unerläßliche symmetrische Proportion des menschlichen Körpers erst durch mannigfaltige Lebensbewegung eindringliches Interesse gewinnt.

      Wenn nun bei Anschauung dieses Kunstwerkes der Bemerkungen kein Ende sein würde, so wollen wir hier nur noch ein wichtiges Verdienst dieser Darstellung auszeichnen. Zwei männliche Personen, welche herankommend zusammengepackte Kleidungsstücke tragen, gehören notwendig zu Ananias; aber wie will man hieraus erkennen, daß ein Teil davon zurückgeblieben und dem Gemeingut unterschlagen worden? Hier werden wir aber auf eine junge hübsche Weibsperson aufmerksam gemacht, welche mit einem heitern Gesichte aus der rechten Hand Geld in die linke zählt; und sogleich erinnern wir uns an das edle Wort: "Die Linke soll nicht wissen, was die Rechte gibt", und zweifeln nicht, daß hier Saphira gemeint sei, welche das den Aposteln einzureichende Geld abzählt, um noch einiges zurückzubehalten, welches ihre heiter listige Miene anzudeuten scheint. Dieser Gedanke ist erstaunenswürdig und furchtbar, wenn man sich ihm hingibt. Vor uns der Gatte, schon verrenkt und bestraft am Boden in gräßlicher Zuckung sich windend; wenig hinterwärts, das Vorgehende nicht gewahr werdend, die Gattin, sicher arglistig sinnend, die Göttlichen zu bevorteilen, ohne Ahnung, welchem Schicksal sie entgegengeht. Überhaupt steht dieses Bild als ein ewiges Problem vor uns da, welches wir immer mehr bewundern, je mehr uns dessen Auflösung möglich und klar wird. Die Vergleichung des Mark-Antonischen Kupfers, nach einer gleich großen Zeichnung Raffaels, und des größeren von Dorigny, nach dem Karton, führt uns abermals in die Tiefe der Betrachtung, mit welcher Weisheit ein solches Talent bei einer zweiten Behandlung derselben Komposition Veränderungen und Steigerungen zu bewirken gewußt hat. Bekennen wir gern, daß ein solches Studium uns zu den schönsten Freuden eines langen Lebens gedient hat.

      Juli

      Korrespondenz

Rom, den 5. Juli 1787

      Mein jetziges Leben sieht einem Jugendtraume völlig ähnlich, wir wollen sehen, ob ich bestimmt bin, ihn zu genießen, oder zu erfahren, daß auch dieses, wie so vieles andre, nur eitel ist. Tischbein ist fort, sein Studium aufgeräumt, ausgestäubt und ausgewaschen, so daß ich nun gerne drin sein mag. Wie nötig ist's, in der jetzigen Zeit ein angenehmes Zuhause zu haben. Die Hitze ist gewaltig. Morgens mit Sonnenaufgang steh' ich auf und gehe nach der Acqua acetosa, einem Sauerbrunnen, ungefähr eine halbe Stunde von dem Tor, an dem ich wohne, trinke das Wasser, das wie ein schwacher Schwalbacher schmeckt, in diesem Klima aber schon sehr wirksam ist. Gegen acht Uhr bin ich wieder zu Hause und bin fleißig auf alle Weise, wie es die Stimmung nur geben will. Ich bin recht wohl. Die Hitze schafft alles Flußartige weg und treibt, was Schärfe im Körper ist, nach der Haut, und es ist besser, daß ein übel jückt, als daß es reißt und zieht. Im Zeichnen fahr' ich fort, Geschmack und Hand zu bilden, ich habe Architektur angefangen ernstlicher zu treiben, es wird mir alles erstaunend leicht (das heißt der Begriff, denn die Ausübung erfordert ein Leben). Was das Beste war: ich hatte keinen Eigendünkel und keine Prätension, ich hatte nichts zu verlangen, als ich herkam. Und nun dringe ich nur drauf, daß mir nichts Name, nichts Wort bleibe. Was schön, groß, ehrwürdig gehalten wird, will ich mit eignen Augen sehn und erkennen. Ohne Nachahmung ist dies nicht möglich. Nun muß ich mich an die Gipsköpfe setzen. (Die rechte Methode wird mir von Künstlern angedeutet. Ich halte mich zusammen, was möglich ist.) Am Anfang der Woche konnt' ich's nicht absagen, hier und da zu essen. Nun wollen sie mich hier — und dahin haben; ich lasse es vorübergehn und bleibe in meiner Stille. Moritz, einige Landsleute im Hause, ein wackerer Schweizer sind mein gewöhnlicher Umgang. Zu Angelika und Rat Reiffenstein geh' ich auch; überall mit meiner nachdenklichen Art, und niemand ist, dem ich mich eröffnete. Lucchesini ist wieder hier, der alle Welt sieht und den man sieht wie alle Welt. Ein Mann, der sein Metier recht macht, wenn ich mich nicht sehr irre. Nächstens schreib' ich dir von einigen Personen, die ich bald zu kennen hoffe.

      "Egmont" ist in der Arbeit, und ich hoffe, er wird geraten. Wenigstens hab' ich immer unter dem Machen Symptome gehabt, die mich nicht betrogen haben. Es ist recht sonderbar, daß ich so oft bin abgehalten worden, das Stück zu endigen, und daß es nun in Rom fertig werden soll. Der erste Akt ist ins Reine und zur Reife, es sind ganze Szenen im Stücke, an die ich nicht zu rühren brauche.

      Ich habe über allerlei Kunst so viel Gelegenheit zu denken, daß mein "Wilhelm Meister" recht anschwillt. Nun sollen aber die alten Sachen voraus weg; ich bin alt genug, und wenn ich noch etwas machen will, darf ich mich nicht säumen. Wie du dir leicht denken kannst, hab' ich hundert neue Dinge im Kopfe, und es kommt nicht aufs Denken, es kommt aufs Machen an; das ist ein verwünschtes Ding, die Gegenstände hinzusetzen, daß sie nun einmal so und nicht anders dastehen. Ich möchte nun recht viel von der Kunst sprechen, doch ohne die Kunstwerke was will man sagen? Ich hoffe, über manche Kleinheit wegzurücken, drum gönnt mit meine Zeit, die ich hier so wunderbar und sonderbar zubringe, gönnt mir sie durch den Beifall eurer Liebe.

      Ich muß diesmal schließen und wider Willen eine leere Seite schicken.

      Die Hitze des Tages war groß, und gegen Abend bin ich eingeschlafen.

Rom, den 9. Juli

      Ich will künftig einiges die Woche über schreiben, daß nicht die Hitze des Posttags oder ein andrer Zufall mich hindre, euch ein vernünftiges Wort zu sagen. Gestern hab' ich vieles gesehen und wieder gesehen, ich bin vielleicht in zwölf Kirchen gewesen, wo die schönsten Altarblätter sind.

      Dann war ich mit Angelika bei dem Engländer Moore, einem Landschaftsmaler, dessen Bilder meist trefflich gedacht sind. Unter andern hat er eine Sündflut gemalt, das etwas Einziges ist. Anstatt daß andere ein offnes Meer genommen haben, das immer nur die Idee von einem weiten, aber nicht hohen Wasser gibt, hat er ein geschlossenes hohes Bergtal vorgestellt, in welches die immer steigenden Wasser endlich auch hereinstürzen. Man sieht an der Form der Felsen, daß der Wasserstand sich dem Gipfel nähert, und dadurch, daß es hinten quervor zugeschlossen ist, die Klippen alle steil sind, macht es einen fürchterlichen Effekt. Es ist gleichsam nur grau in grau gemalt, das schmutzige aufgewühlte Wasser, der triefende Regen verbinden sich aufs innigste, das Wasser stürzt und trieft von den Felsen, als wenn die ungeheuren Massen sich auch in dem allgemeinen Elemente auflösen wollten, und die Sonne blickt wie ein trüber Mond durch den Wasserflor durch, ohne zu erleuchten, und doch ist es nicht Nacht. In der Mitte des Vordergrundes ist eine flache isolierte Felsenplatte, auf die sich einige hülflose Menschen retten in dem Augenblick, daß die Flut heranschwillt und sie bedecken will.


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