Der Zauberberg. Volume 2. Томас Манн

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Der Zauberberg. Volume 2 - Томас Манн


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Fragen, die übersinnlichen Rätsel betreffend, richten können, wenn auch nur im Sinne der Herausforderung und der Quengelei, nicht in der Erwartung, von dem Humanisten, dessen Trachten den irdischen Lebensin-teressen galt, Antwort darauf zu erhalten. Aber seit der Fa-schingsgeselligkeit und Settembrini s bewegtem Abgang aus dem Klaviersalon waltete zwischen Hans Castorp und dem Ita-liener eine Entfremdung, die auf das schlechte Gewissen des ei-nen, sowie auf die tiefe pädagogische Verstimmung des andern zurückzuführen war und dahin wirkte, daß sie einander mieden und wochenlang kein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. War Hans Castorp noch ein "Sorgenkind des Lebens" in Herrn Settembrinis Augen? Nein, er war wohl ein Aufgegebener in den Augen dessen, der die Moral in der Vernunft und der Tu-gend suchte … Und Hans Castorp verstockte sich gegen Herrn Settembrini, er zog die Brauen zusammen und warf die Lippen auf, wenn sie einander begegneten, während Herrn Settembrinis schwarz glänzender Blick mit schweigendem Vorwurf auf ihm ruhte. Dennoch löste diese Verstocktheit sich sofort, als der Literat nach Wochen, wie gesagt, zum erstenmal wieder das Wort an ihn richtete, wenn auch nur im Vorüberstreifen und in Form mythologischer Anspielungen, zu deren Verständnis abendländische Bildung gehörte. Es war nach dem Diner; sie trafen in der nicht mehr zufallenden Glastür zusammen. Settembrini sagte, den jungen Mann überholend und von vornher-ein im Begriff, sich gleich wieder von ihm zu lösen: –

      "Nun, Ingenieur, wie hat der Granatapfel gemundet?"

      Hans Castorp lächelte erfreut und verwirrt.

      "Das heißt… Wie meinen Sie, Herr Settembrini? Granatapfel? Es gab doch keine? Ich habe nie im Leben … Doch, einmal habe ich Granatapfelsaft mit Selters getrunken. Es schmeckte zu süßlich."

      Der Italiener, schon vorüber, wandte den Kopf zurück und artikulierte: "Götter und Sterbliche haben zuweilen das Schat-tenreich besucht und den Rückweg gefunden. Aber die Unterir-dischen wissen, daß, wer von den Früchten ihres Reiches kostet, ihnen verfallen bleibt."

      Und er ging weiter, in seinen ewig hell gewürfelten Hosen, und ließ im Rücken Hans Castorp, der "durchbohrt" sein sollte von so viel Bedeutung und es gewissermaßen auch war, ob-gleich er, ärgerlich erheitert über die Zumutung, es zu sein, vor sich hin murmelte:

      "Latini, Carducci, Ratzi-Mausi-Falli, laß mich in Frieden!"

      Gleichwohl war er sehr glücklich bewegt über diese erste Anrede; denn trotz der Trophäe, dem makabren Angebinde, das er auf dem Herzen trug, hing er an Herrn Settembrini, legte großes Gewicht auf sein Dasein, und der Gedanke, gänzlich und auf immer von ihm verworfen und aufgegeben zu sein, wäre denn doch beschwerender und schrecklicher für seine Seele ge-wesen, als das Gefühl des Knaben, der in der Schule nicht mehr in Betracht gekommen war und die Vorteile der Schande ge-nossen hatte, wie Herr Albin … Doch wagte er nicht, von seiner Seite das Wort an den Mentor zu richten, und dieser ließ abermals Wochen vergehen, bis er sich dem Sorgenzögling wieder einmal näherte.

      Das geschah, als auf den in ewig eintönigem Rhythmus an-rollenden Meereswogen der Zeit Ostern herangetrieben war und auf "Berghof" begangen wurde, wie man alle Etappen und Umschnitte dort aufmerksam beging, um ein ungegliedertes Ei-nerlei zu vermeiden. Beim ersten Frühstück fand jeder Gast ne-ben seinem Gedecke ein Veilchensträußchen, beim zweiten Frühstück erhielt jedermann ein gefärbtes Ei, und die festliche Mittagstafel war mit Häschen geschmückt aus Zucker und Scho-kolade.

      "Haben Sie je eine Schiffsreise gemacht, Tenente, oder Sie, Ingenieur?" fragte Herr Settembrini, als er nach Tische in der Halle mit seinem Zahnstocher an das Tischchen der Vettern her-antrat … Wie die Mehrzahl der Gäste kürzten sie heute den Hauptliegedienst um eine Viertelstunde, indem sie sich hier zu einem Kaffee mit Kognak niedergelassen hatten. "Ich bin erin-nert durch diese Häschen, diese gefärbten Eier an das Leben auf so einem großen Dampfer, bei leerem Horizont seit Wochen, in salziger Wüstenei, unter Umständen, deren vollkommene Be-quemlichkeit ihre Ungeheuerlichkeit nur oberflächlich verges-sen läßt, während in den tieferen Gegenden des Gemütes das Bewußtsein davon als ein geheimes Grauen leise fortnagt… Ich erkenne den Geist wieder, in dem man an Bord einer sol-chen Arche die Feste der terra ferma pietätvoll andeutet. Es ist das Gedenken von Außerweltlichen, empfindsame Erinnerung nach dem Kalender … Auf dem Festlande wäre heut Ostern, nicht wahr? Auf dem Festlande begeht man heut Königs Ge-burtstag, – und wir tun es auch, so gut wir können, wir sind auch Menschen … Ist es nicht so?"

      Die Vettern stimmten zu. Wahrhaftig, so sei es. Hans Castorp, gerührt von der Anrede und vom schlechten Gewissen gespornt, lobte die Äußerung in hohen Tönen, fand sie geist-reich, vorzüglich und schriftstellerisch und redete Herrn Set-tembrini aus allen Kräften nach dem Munde. Gewiß, nur ober-flächlich, ganz wie Herr Settembrini es so plastisch gesagt habe, lasse der Komfort auf dem Ozean-Steamer die Umstände und ihre Gewagtheit vergessen, und es liege, wenn er auf eigene Hand das hinzufügen dürfe, sogar eine gewisse Frivolität und Herausforderung in diesem vollendeten Komfort, etwas dem Ähnliches, was die Alten Hybris genannt hätten (sogar die Alten zitierte er aus Gefallsucht), oder dergleichen, wie "Ich bin der König von Babylon!", kurz Frevelhaftes. Auf der anderen Seite aber involviere ("involviere"!) der Luxus an Bord doch auch ei-nen großen Triumph des Menschengeistes und der Menschen-ehre, – indem er diesen Luxus und Komfort auf die salzigen Schäume hinaustrage und dort kühnlich aufrecht erhalte, setze der Mensch gleichsam den Elementen den Fuß auf den Nacken, den wilden Gewalten, und das involviere den Sieg der mensch-lichen Zivilisation über das Chaos, wenn er auf eigene Hand diesen Ausdruck gebrauchen dürfe …

      Herr Settembrini hörte ihm aufmerksam zu, die Füße ge-kreuzt und die Arme ebenfalls, wobei er sich auf zierliche Art mit dem Zahnstocher den geschwungenen Schnurrbart strich.

      "Es ist bemerkenswert", sagte er. "Der Mensch tut keine nur einigermaßen gesammelte Äußerung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein ganzes Ich hineinzulegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen. So ist es Ihnen soeben ergangen, In-genieur. Was Sie da sagten, kam in der Tat aus dem Grunde Ihrer Persönlichkeit, und auch den zeitlichen Zustand dieser Per-sönlichkeit drückte es auf dichterische Weise aus: es ist immer noch der Zustand des Experimentes …"

      "Placet experiri!" sagte Hans Castorp nickend und lachend, mit italienischem c.

      "Sicuro, – wenn es sich dabei um die respektable Leidenschaft der Welterprobung handelt und nicht um Liederlichkeit. Sie sprachen von 'Hybris', Sie bedienten sich dieses Ausdrucks. Aber die Hybris der Vernunft gegen die dunklen Gewalten ist höchste Menschlichkeit, und beschwört sie die Rache neidischer Götter herauf, per esempio, indem die Luxusarche scheitert und senkrecht in die Tiefe geht, so ist das ein Untergang in Ehren. Auch die Tat des Prometheus war Hybris, und seine Qual am skythischen Felsen gilt uns als heiligstes Martyrium. Wie steht es dagegen um jene andere Hybris, um den Untergang im buh-lerischen Experiment mit den Mächten der Widervernunft und der Feindschaft gegen das Menschengeschlecht? Hat das Ehre? Kann das Ehre haben? Si o no!"

      Hans Castorp rührte in seinem Täßchen, obgleich nichts mehr darin war.

      "Ingenieur, Ingenieur", sagte der Italiener mit dem Kopfe nickend, und seine schwarzen Augen hatten sich sinnend "fest-gesehen", "fürchten Sie nicht den Wirbelsturm des zweiten Höllenkreises, der die Fleischessünder prellt und schwenkt, die Unseligen, die die Vernunft der Lust zum Opfer brachten? Gran Dio, wenn ich mir einbilde, wie Sie kopfüber, kopfunter um-hergepustet flattern werden, so möchte ich vor Kummer umfal-len wie eine Leiche fällt …"

      Sie lachten, froh, daß er scherzte und Poetisches redete. Aber Settembrini setzte hinzu:

      "Am Faschingsabend beim Wein, Sie erinnern sich, Ingenieur, nahmen Sie gewissermaßen Abschied von mir, doch, es war etwas dem Ähnliches. Nun, heute bin ich an der Reihe. Wie Sie mich hier sehen, meine Herren, bin ich im Begriff, Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich verlasse dies Haus."

      Beide verwunderten sich aufs höchste.

      "Nicht möglich! Das ist nur Scherz!" rief Hans Castorp, wie er bei anderer Gelegenheit auch gerufen hatte. Er war fast eben-so erschrocken wie damals. Aber auch Settembrini erwiderte: "Durchaus nicht. Es ist, wie ich Ihnen sage. Und übrigens trifft Sie diese Nachricht nicht unvorbereitet. Ich habe Ihnen erklärt, daß in dem Augenblick, wo sich meine Hoffnung, in irgendwie absehbarer Zeit in die Welt der Arbeit zurückkehren zu können,


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