Auf Gottes Wegen. Bjørnstjerne Bjørnson

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Auf Gottes Wegen - Bjørnstjerne Bjørnson


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wollte es nur versuchen, – konnte ja schließlich zurückkommen. Aber der Abstieg hier war nicht leicht und mußte eigentlich vor Einbruch der Dunkelheit gemacht werden; und es wurde so furchtbar schnell dunkel jetzt. Wenn er nur so weit wäre, daß er den Fußweg, der vom Fischerdorf drunten über den Berg heraufführte, wieder erreicht hätte, ja, dann war alle Gefahr überstanden; aber hier – nur vorsichtig, vorsichtig, ein ganz kleinwinziger Schritt, und noch einer, und noch ein kleiner! Nur zum Versuch; er würde schon wiederkommen!

      Doch kaum hatte er auf solche Art den obersten und schwierigsten Teil der Kuppe zurückgelegt und fühlte sich sicher vor den Mächten da oben, mit denen er feilschte, so schlug er ihnen auch gründlich ein Schnippchen; in großen Sätzen gings abwärts; wie ein Gummiball sprang er von einem Felsvorsprung auf den andern, bis er plötzlich unten eine Zipfelmütze auftauchen sah – so weit, weit unten, daß er sie nur eben erkennen konnte. Augenblicklich blieb er stehen. Seine Flucht, sein ganzes Entsetzen, all das eben Erlebte war wie weggeblasen; nicht der leiseste Gedanke mehr daran. Jetzt wollte er Angst einjagen; auf den dort hatte er schon die ganze Zeit gelauert! Bewegung, Augen, Haltung, alles zeigte, wie er sich über die Gewißheit freute, ihn nun bald in Schußweite zu haben. Der sollte es kriegen!

      Der andere kam einhergeschlendert, ohne zu ahnen, welcher Gefahr er entgegenging, langsam, als ob er seine Freiheit und Einsamkeit genösse; bald hörte man seine schweren Stiefel, den Klang der eisenbeschlagenen Absätze gegen die Steine.

      Ein gutgewachsener Knabe, hellblond und vielleicht ein Jahr älter als der andere, der ihm auflauerte; mit einem losen Friesanzug bekleidet, einen wollenen Schal um den Hals, und große Fausthandschuhe an den Händen; er trug einen ländlichen Korb – blaugemalt, mit gelb-weißen Rosen.

      Ein großes Geheimnis ging endlich seiner Offenbarung entgegen; seit Tagen war die ganze Schule darauf gespannt gewesen, wie, wo und mit wem der Zusammenstoß erfolgen werde, der jetzt drohte, wann der feierliche Moment der Abrechnung komme, in dem Ole Tuft vor einem Mitglied der gestrengen Schulpolizei endlich eingestehen mußte, wo er sich nachmittags und abends herumtrieb und was er da anstellte.

      Ole Tuft war der Sohn eines wohlhabenden Bauern vom Strande draußen – das einzige Kind. Sein Vater, der vor einem Jahr gestorben, war der angesehenste Laienprediger der westlichen Lande gewesen und hatte schon frühzeitig seinen Sohn zum Geistlichen bestimmt, weshalb dieser jetzt das Gymnasium besuchte. Ole war begabt, fleißig und seinen Lehrern gegenüber von einer Ehrerbietung, die ihn zu ihrem erklärten Liebling machte.

      Aber die Haare allein machen noch nicht den Hund (trau', schau', wem?). Dieser treuherzige, höchst ehrerbietige Junge blieb plötzlich den Nachmittagsspielen der Kameraden fern; zu Hause war er nicht (er wohnte bei einer Tante); bei Schultzes, wo er den Kindern Nachhilfstunde gab, war er auch nicht – das erledigte er gleich nach Tisch; auch nicht bei Rektors, d. h. bei Rektors Pflegetochter, Josefine Kallem, Edvards Schwester; Ole und sie waren dicke Freunde. Zuweilen sahen die Knaben ihn dort ins Haus gehen, aber nicht wieder herauskommen; und trotzdem war Josefine immer allein, wenn sie ihm nachgingen, um zu inspizieren; sie hatten nämlich Wachen ausgestellt – die Untersuchung wurde systematisch betrieben. Bis zum Schulhaus konnten sie seine Spur verfolgen; dort aber verschwand sie. Die Erde konnte ihn doch nicht verschlungen haben! Das Haus wurde durchschnüffelt von unten bis oben, jede Ecke, jedes Schlupfloch wieder und wieder durchstöbert. Josefine selbst führte die Jungens herum, bis hinauf unters Dach, bis hinunter in den Keller, in sämtliche Räume, wo nicht gerade die Familie selber sich aufhielt, versicherte auch auf Ehre und Gewissen, dort sei er nicht; sie könnten selbst nachsehen. Wo in aller Welt steckte er nur?

      Der Primus gewann in diesen Tagen bei einer Lotterie "Les trois mousquetaires" von Alexandre Dumas dem Älteren, ein Prachtwerk mit Illustrationen; da er aber bald heraus hatte, daß das kein Buch für einen Gelehrten war, setzte er es als Prämie aus für den Kameraden, der entdecken würde, wo Ole Tuft seine Nachmittage und Abende zubrachte, und was er da trieb. Dies Angebot warf den zündenden Funken in Edvard Kallems Phantasie; er hatte nämlich bis vor einem Jahr in Spanien gelebt, er las Französisch wie seine Muttersprache, und "Les trois mousquetaires" war der wundervollste Roman auf der ganzen Welt – das hatte er immer gehört. Jetzt stand er hier auf der Lauer, für "Les trois mousquetaires"! Hurra, alle Drei sollen leben! Jetzt hatte er sie!

      Leise, leise schlich er weiter, bis er den Fußweg erreicht hatte. Der Sünder war dicht vor ihm.

      Edvard Kallems Kopf hatte etwas, das an einen Raubvogel gemahnte – die Nase wie ein Schnabel – die Augen wild, schon an und für sich und noch mehr dadurch, daß sie ein ganz klein wenig schielten. Die Stirn scharf und niedrig, von lichtbraunem, kurzgeschorenem Haar umrahmt. Eine auffallende Beweglichkeit ließ ahnen, wie geschmeidig er war. Eben jetzt wollte er ganz still stehen, aber der Körper bog sich, die Füße bewegten sich, die Arme hoben sich, als wolle er im nächsten Augenblick durch die Lüfte stoßen. "Bäh!" schrie er aus aller Kraft seiner Lungen. Der Ankömmling fuhr zusammen – fast hätte er seinen Korb fallen lassen. "So – jetzt hab' ich Dich! Jetzt hilft Dir keine Verstocktheit mehr!"

      Ole Tuft wurde zu Stein. "Jawohl – jetzt stehst Du da! Hoho! Was hast Du in Deinem Korb?" Und er stürzte auf Ole los. Der aber nahm blitzschnell seinen Korb aus der rechten Hand in die linke und hielt ihn auf den Rücken; es war Edvard nicht möglich, ihn hervorzuzerren.

      "Was denkst Du Dir denn, Mensch! Glaubst etwa, Du könntst mir noch entwischen? Her mit dem Korb!" – "Du kriegst ihn nicht." – "Wirst Du wohl gehorchen? So geh ich einfach hinunter und frag'!" – "Nein, nein!" – "Doch! Zum Kuckuck, wenn ich's nicht tu!" – "Du tust's nicht!" – "Ich tu's!" – Und schon drängte er an Ole vorüber, den Berg hinab.

      "Ich will's ja sagen – versprich mir bloß, daß Du's nicht weiter sagst!" – "Nicht weiter sagen? Du bist wohl nicht bei Trost?" – "Doch! Du darfst nicht!" – "Blödsinn! was denkst Du Dir denn? Her mit dem Korb – oder ich geh'!" schrie Edvard. – "Wenn Du's nicht weiter sagst – —". Die Tränen traten Ole in die Augen. "Ich verspreche gar nichts!" – "Nichts sagen, Edvard! Nein?" – "Ich verspreche gar nichts. Den Korb her! Fix!" – "Es ist nichts dabei, Du!" – "Wenn nichts dabei ist, kannst Du's doch sagen! Fix!" Ole nahm das, nach Knabenmanier, für ein halbes Versprechen; flehend blickte er den andern an und faßte sich ein Herz: "Ich geh' dort hinunter, weil ich … weil ich … ach, Du weißt ja selber … auf Gottes Wegen!" Das Letzte sagte er sehr verlegen und brach in Tränen aus. – "Auf Gottes Wegen?" fragte Edvard, ziemlich unsicher. Er war aufs höchste verwundert.

      Er erinnerte sich, wie der Geographielehrer in einer schläfrigen Stunde einmal die Frage gestellt hatte: "Welche Wege sind die besten?" Im Lehrbuch stand: "Für den Warentransport sind noch immer die Seewege die besten." – "Na – also welche Wege sind die besten? Du, Tuft?" – "Gottes Wege!" antwortete Tuft. Die ganze Klasse war mit einemmal munter; ein brüllendes Gelächter verkündete das.

      Aber bei alledem – Edvard Kallem wußte wirklich nicht recht, was "Gottes Wege" bedeute. Ole – drunten im Fischerdorf – auf Gottes Wegen? Vor lauter Neugier vergaß er ganz, daß er Sittenpolizei war! Gradheraus, wie jeder andere Junge, sagte er: "Ich versteh' nicht, was Du damit meinst! Gottes Wege – sagst Du?" Der andere bemerkte sogleich die Veränderung. Die eben noch so scharfen Augen blickten freundlich; nur der seltsame Glanz, der nie aus ihnen wich, lag noch darin. Unter allen Schulkameraden bewunderte Ole in aller Stille keinen so sehr wie den Edvard Kallem. Der Bauernjunge litt entsetzlich unter dem überlegenen Scharfsinn und der Gewandtheit der Stadtjungen, und der vornehmste Repräsentant dieser Eigenschaften war Edvard Kallem. Und noch ein Glorienschein umgab sein Haupt … er war der Bruder seiner braunlockigen Schwester.

      Einen unerträglichen Fehler hatte er: er war ein Erzspottvogel. Alle Augenblicke setzte es deswegen Haue – mal von den Lehrern, dann vom Vater oder von den Kameraden. Und in der nächsten Minute fing er schon wieder an. Das ging über den Verstand des Bauernjungen. Und darum wirkte auch ein freundliches Wort, ein Lächeln von Edvard weit mehr, als es eigentlich sagen wollte. Es hatte den Sonnenglanz der Gnade, der Vornehmheit. Diese einschmeichelnden, milden Fragen, die der gewesene Raubvogel (von dem jetzt bloß noch der Schnabel übrig war) stellte, verflossen in eins mit dem Leuchten der Augen. Und Ole streckte die Waffen. Sowie Edvard seine Taktik änderte und treuherzig bat, den Korb sehen zu dürfen, lieferte Ole ihn aus und fühlte


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