Auf Gottes Wegen. Bjørnstjerne Bjørnson
Читать онлайн книгу.hatte den Korbdeckel aufgemacht; ehe er ihn zurückschlug, blickte er auf: "Du möchtest vielleicht lieber nicht – —?" – "Doch, gern!" – Edvard schob den Deckel zur Seite. Ein großes Buch lag darunter – die Bibel. Er wurde starr, beinah ehrfürchtig. Unter der Bibel lagen verschiedene ungebundene Hefte. Er nahm ein paar heraus, drehte sie um und legte sie wieder hinein. Es waren Traktate. Die Bibel legte er behutsam wieder an ihren Platz, breitete das Tuch darüber und machte den Deckel zu. Im Grunde war er so klug wie zuvor, oder vielmehr nur noch neugieriger.
"Du liest doch nicht etwa den Leuten da unten aus der Bibel vor?" fragte er. Ole Tuft errötete. "Doch – manchmal —" – "Wem denn?" – "Ach, den Kranken. Aber oft komm' ich ja nicht dazu —" – "Zu den Kranken gehst Du?" – "Ja – zu den Kranken geh' ich eben." – "Zu den Kranken? Du? Aber lieber Gott, – was tust Du denn da?" – "Oh, ihnen helfen – so gut ich eben kann!" – "Du?" fragte Edvard mit allem Erstaunen, dessen er fähig war. Und nach einer Pause fügte er hinzu: "Mit was denn? Mit Essen?" – "Das auch. Ich helf' ihnen eben mit allem, was sie brauchen. Umbetten – —" – "Umbetten?" – "Ja! Sie liegen doch auf Stroh. Und darin liegen sie, bis es stinkt, weißt Du. Manchmal machen sie's auch noch schmutzig, wenn sie krank sind, und sich nicht selber helfen können; tagsüber ist ja oft kein Mensch bei ihnen. Die Leute sind bei der Arbeit, und die Kinder in der Schule. Und wenn ich dann nachmittags hinkomme, geh' ich hinunter zu den Böten, die mit Stroh fahren; das kauf' ich und trag's hinauf und nehm' das alte weg." – "Wo kriegst Du denn das Geld her?" fragte Edvard. – "Tante spart es mir zusammen, und auch Josefine." – "Josefine?" rief der Bruder. – "Ja! Aber vielleicht hätt' ich das nicht sagen sollen."
"Von wem kriegt denn Josefine das Geld?" fragte Edvard mit der wachsamen Strenge des älteren Bruders. Ole überlegte einen Augenblick und erwiderte dann fest und bestimmt: "Von Deinem Vater." – "Von Vater?" – —
Edvard wußte, selbst wenn Josefine ihn darum bäte, so würde der Vater niemals Geld unnütz ausgeben; erst mußte er wissen, wozu er es gab. Der Vater hatte also gebilligt, was Ole tat. Und damit war die Sache in Edvards Augen über jeden Zweifel erhaben. Ole fühlte augenblicklich diesen völligen Umschlag; er sah ihn auch Edvards Augen an. Jetzt kam ihm die Lust, noch mehr zu erzählen, und das tat er auch. Er berichtete, er habe oft furchtbar viel Arbeit, wenn er komme. Feuer müsse er machen, das Essen aufsetzen, kochen … – "Kannst Du kochen?" – "Freilich! Und Reinmachen, und Einkaufen, und sehen, ob nicht irgend jemand hinüberrudert, den ich nach der Apotheke schicken kann; denn oft hat der Doktor irgend was verschrieben, aber sie haben es nicht geholt." – "Und zu alledem hast Du Zeit?" – "Ja. Bei Schultzes mach' ich's gleich nach Tisch ab, und meine eigenen Schularbeiten mach' ich nachts." Und so erzählte er, des längeren und breiteren, bis ihm selber einfiel, daß sie noch vor Einbruch der Dunkelheit unten sein müßten.
In tiefen Gedanken ging Edvard voran; der andere mit dem Korb hinterdrein.
Hier, wo die Klippe abfiel, hörte man das Tosen des Meers, als komme es aus der Luft, wie das Sausen eines vorüberziehenden Vogelschwarms – hoch, hoch oben. Es wurde kalt; man sah den Mond; aber die Sterne noch nicht. Doch – einen einzigen. "Wie bist Du denn eigentlich darauf gekommen?" fragte Edvard und wandte sich um. Ole blieb gleichfalls stehen. Er nahm seinen Korb aus einer Hand in die andere. Ob er's wagen, ob er alles sagen sollte? Edvard merkte sofort – da steckte noch mehr dahinter – und zwar war das das Wichtigste. "Kannst Du's nicht sagen?" fragte er, als wenn es ihm ganz gleichgültig sei. – "Oh doch – ich kann schon!" Aber Ole fuhr fort, den Korb von einer Hand in die andere zu nehmen, und sagte nichts weiter. Jetzt konnte Edvard nicht länger an sich halten; er fing an, Ole ordentlich deswegen zu quälen, was diesem auch ganz lieb war – doch immer noch überlegte er. "Es ist doch nichts Böses?" – "Nein, etwas Böses ist es nicht." Nach einer Pause fügte er hinzu: "Im Gegenteil – eher was Großes – etwas wirklich Großes sogar!" – "Etwas wirklich Großes?" – "Eigentlich das Größte in der Welt!" – "Nanu!" – "Wenn Du's bloß nicht weitersagen wolltest! Keiner Menschenseele! Hörst Du? Dann wollt' ich Dir's schon erzählen!" – "Also – Du – was denn?" – "Ich will Missionär werden!" – "Missionär?" – "Ja – Heidenmissionär! Ein richtiger, für die Wilden, weißt Du, die Menschen fressen!" Er sah – viel mehr konnte Edvard nicht ertragen; deshalb beeilte er sich, rasch noch etwas über Zyklone, wilde Raubtiere und giftige Schlangen hinzuzufügen: "Auf so was muß man sich einüben, siehst Du!" – "Einüben? Gegen reißende Tiere und giftige Schlangen?" Edvard fing an, das Unglaubliche glaublich zu finden. – "Das Schlimmste sind die Menschen!" sagte Ole, die Tiere umgehend. "Das sind nämlich ganz fürchterliche Heiden, diese Kerle, und wild, und bös, und grausam. So ohne weiteres hinrennen – das hat keinen Sinn. Man muß Übung haben." – "Aber wieso kommst Du zu denen unten? Das sind doch keine Heiden – die im Dorf?" – "Das nicht. Aber man lernt doch allerhand auch bei ihnen. Zimperlich darf man nicht bei ihnen sein – im Gegenteil, die ärgsten Schweinereien muten sie einem zu. Wenn einer krank ist und querköpfig, so ist er meist auch voller Mißtrauen; manche sind geradezu bösartig. Denk bloß, neulich abends hat ein Weib mich sogar hauen wollen." – "Hauen?" – "Da hab' ich zu Gott gebetet, sie sollte es tun; aber sie hat bloß geflucht." Oles Augen glühten; sein Gesicht war verzückt. "Hier, in einem Traktat, den ich in meinem Korbe hab', steht, es sei der Fehler unserer Missionäre, daß sie hinausgingen, ohne sich erst zu üben. Denn es sei eine große Kunst, Menschen zu gewinnen, steht da. Sie zu gewinnen für das Reich Gottes, das sei die schwerste aller Künste. Und eigentlich müßten wir uns von Jugend, ja von Kindesbeinen an darauf einüben; so steht geschrieben, und das will ich tun. Denn Missionär sein – siehst Du – das ist doch das Höchste auf Erden. Das ist mehr als König sein, mehr als Kaiser und Papst sein; das steht in dem Traktat. Und es steht auch darin, ein Missionär habe gesagt: Und hätte ich zehn Leben, ich gäbe sie alle zehn hin für die Mission … Und das will ich auch."
Sie gingen jetzt Seite an Seite. Ole hatte sich, ohne es zu wissen, den aufleuchtenden Sternen zugekehrt. Beide standen eine Weile so und starrten in die Luft. Unter ihnen der Hafen mit den Schiffen in verschwommenen Umrissen, die Brücken, niedrig, schwer; die Stadt mit ihren verstreuten Lichtern; weiter draußen der Strand, wollgrau von Schnee, und daneben das schwarze Meer; hier unten hörte man es wieder, wenn auch schwächer; das einförmige Tosen verfloß mit dem sternbesäten Halbdunkel. Zwischen den Knaben zitterten unsichtbare Fäden hin und her; Gefühle knüpften sich an. Von keinem andern wünschte Ole so sehnlich, gut beurteilt zu werden, wie von dem, der in seiner leichten Pelzmütze vor ihm stand; und Edvard dachte, wie viel besser doch Ole sei als er. Denn daß er selber gräßlich war, das wußte er; das hörte er ja alle Tage. Er sah seitwärts auf den Bauernjungen; – die tief über die Ohren gezogene Zipfelmütze, die großen Fausthandschuhe, der plumpe Schal, die weite Friesjacke, die breiten Hosen, die schweren, eisenbeschlagenen Stiefel – nur – die Augen wogen das alles auf, und das treuherzige Gesicht, wenn es auch ein bißchen altklug war … Ole wird einmal ein großer Mann werden!
Sie trabten weiter, Edvard voran, Ole hinterher, hinunter zur "Vorstadt". So hieß der Stadtteil, der an den "Berg" stieß und im wesentlichen aus Arbeiterhäusern, Werkstätten und kleineren Fabriken bestand. Ordentliche Straßenanlagen oder Beleuchtung gab es hier noch nicht; es war jetzt, beim Tauwetter, ein entsetzlicher Morast, der in der Abendkälte gerade zu gefrieren begann. Die paar Laternen, die vorhanden waren, hingen an Stricken, die vom einen Haus zum andern quer über die Gasse gespannt waren, und hinauf- und hinuntergezogen werden konnten. Sie waren schwarz von Qualm und daher äußerst schlechter Laune. Hier und dort hatte eine kleine Werkstatt ihre eigene kleine Laterne, die über der Haustreppe hing. Unter einer solchen Laterne blieb Edvard stehen. Er mußte wieder etwas fragen. Nämlich – wer es eigentlich sei, dessen Ole sich dort unten annahm? Einer, den sie beide kannten? Frohgemut setzte Ole seinen Korb auf die Treppe und stützte sich mit der Hand darauf. Er lächelte: "Du kennst doch die Marte von der Werft?" Ja, die kannte die ganze Stadt; eine tüchtige Frau; aber sie trank; und oft hatten die Schuljungen am Samstagabend ihren Jux mit ihr, wenn sie, an eine Mauer gelehnt, dastand und sie ausschimpfte und sich schließlich umdrehte und zum Zeichen ihrer Hochachtung – na ja, wie das Zeichen aussah, läßt sich nicht gut beschreiben! Aber die Bengels warteten bloß darauf; und die Sache wurde stets mit Jubelgeheul begrüßt.
"Die Marte von der Werft!" rief Edvard. "Die willst Du bekehren?" – "Still