Blinde Liebe. Уилки Коллинз
Читать онлайн книгу.gehorchen konnten. In dem letzten Geschäfte, welches sich noch in einem sehr dürftigen Zustande erhielt, war gewöhnlich kein Käufer zu erblicken; die Schaufenster waren meistens geschlossen, ein einsamer Mann machte das ganze schläfrige Personal aus und langweilte sich entsetzlich, in der halb geöffneten Ladenthüre lehnend. Ein Advokat war in der Stadt, der aber keine Gelegenheit fand, sich einen Schreiber zu halten; es gab auch einen Doktor, der immer hoffte, er könne seine Praxis für einen annehmbaren Preis verkaufen.
Die Direktoren der neuen Eisenbahn beschlossen in einer stürmischen Sitzung, der sterbenden Stadt noch eine letzte Möglichkeit zu bieten, sich wieder zu erholen, dadurch, daß sie eine Haltestelle hinlegten. Der Stadt war jedoch nicht mehr die nötige Lebenskraft geblieben, um sich dafür dankbar zu erweisen. Unter allen Stationsvorständen in Großbritannien und Irland war der von Honeybuzzard der unthätigste Mensch – und dies, wie er zu dem unbeschäftigten Portier sagte, nicht etwa aus Mangel an eigener Energie.
An einem regnerischen Augustnachmittage ließ der Zug einen Fremden auf der Station zurück. Er war einem Wagen erster Klasse entstiegen und trug einen Sonnenschirm und eine Reisetasche. Er erkundigte sich nach dem Wege zum besten Gasthofe. Der Stationsvorsteher und der Portier tauschten gegenseitig ihre Meinungen über ihn aus. Der eine von ihnen sagte: »Offenbar ein Gentleman,« und der andere fügte hinzu: »Was mag der wohl hier zu thun haben?«
Der Fremde verirrte sich zweimal in den engen und winkeligen Gassen der alten Stadt, bevor er den Gasthof erreichte. Als er seine Wünsche aussprach, fand es sich, daß er drei Dinge haben wollte: ein Zimmer, etwas zu essen und, während das Essen zubereitet wurde, Feder, Tinte und Papier, um einen Brief zu schreiben.
Auf die Fragen ihrer Tochter antwortend, beschrieb die Wirtin, als sie aus dem Fremdenzimmer wieder heruntergekommen war, ihren Gast als einen hübschen Mann in tiefer Trauerkleidung.
»Jung, mein Kind, mit schönem dunkelbraunem Haar, einem großen Barte und milden, traurigen Augen. Ja, diese Augen erzählen, daß die schwarzen Kleider nicht bloßer Schein sind. Ob er verheiratet ist oder ledig, kann ich natürlich nicht sagen; aber ich entdeckte seinen Namen auf seiner Reisetasche; – ein vornehmer Name; wenn ich recht gelesen habe: Hugh Mountjoy. Ich bin begierig, was er zu seinem Essen für ein Getränk bestellen wird. Wie gut wäre es, wenn wir bei dieser Gelegenheit wieder eine Flasche von dem sauren französischen Weine los würden!«
Die Glocke in dem Zimmer des Fremden erschallte in diesem Augenblicke, und die Tochter der Wirtin – es ist eigentlich unnötig, es noch besonders zu erwähnen – benützte die günstige Gelegenheit, sich eine eigene Meinung über Mr. Hugh Mountjoy zu bilden.
Sie kam, mit einem Briefe in der Hand, zurück, von dem eitlen Verlangen nach den Vorteilen vornehmer Geburt verzehrt.
»O Mutter, wenn ich eine junge Dame der höheren Gesellschaft wäre, dann wüßte ich genau, wessen Frau ich sein möchte!«
Die Wirtin zeigte jedoch kein besonderes Verständnis und keine Teilnahme für dergleichen gefühlvolle Herzensergießungen ihrer Tochter, sondern verlangte nur den Brief Mr. Mountjoys zu sehen. Der Bote, der mit der Besorgung beauftragt wurde, sollte auf Antwort warten. Die Aufschrift des Briefes lautete: »Miß Henley, per Adresse Clarence Vimpany, Esquire, Honeybuzzard.« Von ihrer erregten Phantasie getrieben, verlangte die Tochter darnach, Miß Henley zu sehen. Die Mutter konnte gar nicht begreifen, warum sich Mr. Mountjoy überhaupt die Mühe gegeben hatte, den Brief zu schreiben.
»Wenn er weiß, daß die junge Dame in des Doktors Hause wohnt,« sagte sie, »warum geht er denn nicht einfach hin und sucht Miß Henley auf?« Sie gab den Brief der Tochter zurück. »Der Hausknecht soll ihn besorgen, er hat so wie so nichts zu thun.«
»Nein, Mutter. Die schmutzigen Hände des Hausknechts dürfen den Brief nicht berühren. Ich werde ihn selbst hintragen. Vielleicht bekomme ich bei der Gelegenheit Miß Henley zu sehen.«
Einen solchen Eindruck hatte Mr. Hugh Mountjoy auf ein junges, gefühlvolles Mädchen ganz ohne sein Zuthun gemacht, welches das Schicksal in die enge Sphäre von Thätigkeit, die ein Landwirtshaus gewähren konnte, gebannt hatte.
Die Wirtin trug das Essen hinauf – zuerst natürlich Hammelrippchen mit Kartoffeln, so unvollkommen gekocht, wie es nur in einer englischen Küche möglich ist. Ihren sauren französischen Wein hatte die gute Frau nicht vergessen und fragte daher ihren Gast:
»Was wünschen Sie zu trinken, Sir?«
Mr. Mountjoy schien wenig daran zu liegen, was man ihm als Getränk vorsetzen würde.
»Wir haben französischen Wein, Sir.«
»Es ist recht, gute Frau; bringen Sie von dem.«
Als die Glocke wieder ertönte, damit der zweite Teil der Mahlzeit, Käse und Sellerie, hinaufgebracht werde, überließ die Wirtin dies Geschäft dem Kellner. Die Erfahrung, die sie mit den Landleuten gemacht hatte, die ihr Gasthaus besuchten und die sich in einigen wenigen Fällen hatten dazu verleiten lassen, diesen Wein zu trinken, riet ihr, dem Ausbruche des gerechten Zornes bei Mr. Mountjoy aus dem Wege zu gehen. Er würde sie jedenfalls ebenso wie die anderen auch fragen, was ihr denn eigentlich einfiele, ihn mit einem derartigen Stoff wie dieser vergiften zu wollen.
Als der Kellner wieder herunterkam, fragte sie ihn daher:
»Hat sich der Herr über den französischen Wein beklagt?«
»Er wünscht Sie wegen dem Weine zu sprechen.«
Die Wirtin wurde blaß. Seiner Entrüstung in Worten Ausdruck zu geben, das hatte sich Mr. Mountjoy augenscheinlich für die Herrin des Hauses aufgespart.
»Fluchte er,« fragte sie, »als er den Wein gekostet hatte?«
»Gott bewahre, Madame. Er trank ihn aus einem Wasserglase und – wenn Sie es mir glauben wollen – der Wein schien ihm zu schmecken.«
Die Wirtin bekam ihre Farbe wieder. Dank der Vorsehung dafür, daß sie endlich einmal einen Gast in das Wirtshaus geführt hatte, der sauren Wein, ohne es zu bemerken, trinken konnte, war ihr Hauptgedanke, als sie das Fremdenzimmer betrat. Mr. Mountjoy rechtfertigte diese ihre Vermutungen. Er war wirklich gutmütig genug, mit dem Glase vor sich auf dem Tische und diesem Weine gewissermaßen unter seiner Nase, eine Entschuldigung anzufangen.
»Es thut mir leid, Sie zu belästigen, Frau Wirtin. Ich möchte Sie nur fragen, woher Sie diesen Wein haben.«
»Der Wein, Sir, stammt noch von meinem verstorbenen Gatten her. Ein Franzose schuldete ihm Geld, aber es war von ihm nichts anderes zu bekommen als dieser Wein.«
»Er ist auch Geld wert, Frau Wirtin.«
»Wirklich, Sir?«
»Ja, ganz gewiß. Das ist der beste und reinste französische Rotwein, den ich seit langer Zeit getrunken habe.«
Ein beunruhigender Verdacht trübte die heitere Seelenruhe der Wirtin. War diese vortreffliche Beurteilung des Weines eine aufrichtige? Oder war es nur ein teuflischer Plan Mr. Mountjoys, sie in eine Falle zu locken, indem er sie durch seine Anerkennung verleiten wollte, auch ihrerseits den Wein zu loben, damit er dann sie als Betrügerin entlarven könnte, wenn er erklärte, was er wirklich über den Wein dächte? Sie nahm ihre Zuflucht zu einer vorsichtigen Antwort.
»Sie sind der erste meiner Gäste, Sir, der nichts an dem Weine auszusetzen findet.«
»In dem Falle würden Sie vielleicht froh sein, ihn los zu werden!« bemerkte Mr. Mountjoy.
Die Wirtin blieb immer noch vorsichtig.
»Wer würde mir den Wein wohl abkaufen, Sir?«
»Ich. Wie viel fordern Sie für die Flasche?«
Jetzt war es klar, daß er nicht hinterlistig und falsch war, sondern nur ein bißchen verrückt. Die welterfahrene Wirtin zog aus diesem Umstande Vorteil und verdoppelte den Preis. Ohne Zögern sagte sie: »Fünf Schilling die Flasche, Sir.«
Oft, nur allzu oft führt die Ironie des Schicksals auf dieser irdischen Schaubühne die entgegengesetzten Charaktere des Schlechten und des Guten zusammen. Eine lügnerische Wirtin und ein zum Lügen unfähiger Gast standen sich hier an einem kleinen Tische gegenüber, beide ohne Ahnung des unermeßlichen