Gesammelte Werke. Alfred Adler

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Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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daß es Menschen gibt, die den Tod einem Ringen mit den äußeren Umständen vorziehen, weil sie in ihrer Eitelkeit allzusehr die Niederlage fürchten. Es sind die Menschen, die sich stets nach Verwöhnung sehnen, nach persönlichen Erleichterungen, die durch andere bewerkstelligt sein sollen.

      Der menschliche Körper ist nachweisbar nach dem Prinzip der Sicherung aufgebaut. Meltzer hat in »The Harvard Lectures« im Jahre 1906 und 1907, also ungefähr um dieselbe Zeit, wie ich in der oben zitierten Studie, nur gründlicher und umfassender, auf dieses Prinzip der Sicherung hingewiesen. Für ein geschädigtes Organ tritt ein anderes ein, ein geschädigtes Organ erzeugt aus sich heraus eine ergänzende Kraft. Alle Organe können mehr leisten, als sie bei normaler Beanspruchung leisten müßten, ein Organ genügt oft mehrfachen, lebenswichtigen Funktionen usw. Das Leben, dem das Gesetz der Selbsterhaltung vorgeschrieben ist, hat auch die Kraft und Fähigkeit dazu aus seiner biologischen Entwicklung gewonnen. Die Abspaltung in Kinder und in jüngere Generationen ist nur ein Teil dieser Lebenssicherung.

      Aber auch die stets steigende Kultur, die uns umgibt, weist auf diese Sicherungstendenz hin und zeigt den Menschen in einer dauernden Stimmungslage des Minderwertigkeitsgefühls, das stets unser Tun anspornt, um zu größerer Sicherheit zu gelangen. Lust oder Unlust, die dieses Streben begleiten, sind nur Hilfen und Prämien auf diesem Wege. Eine Anpassung aber an die gegebene Realität wäre nichts anderes als Ausnützung der strebenden Leistungen anderer, wie es das Weltbild des verwöhnten Kindes verlangt. Das dauernde Streben nach Sicherheit drängt zur Überwindung der gegenwärtigen Realität zugunsten einer besseren. Ohne diesen Strom der vorwärts drängenden Kultur wäre das menschliche Leben unmöglich. Der Mensch müßte dem Ansturm der Naturkräfte unterliegen, wenn er sie nicht zu seinen Gunsten verwendet hätte. Ihm fehlt alles, was stärkere Lebewesen zum Sieger über ihn gemacht hätte. Die Einflüsse des Klimas zwingen ihn, sich vor Kälte mit Stoffen zu schützen, die er besser geschützten Tieren abnimmt. Sein Organismus verlangt künstliche Behausung, künstliche Zubereitung der Speisen. Sein Leben ist nur gesichert bei Arbeitsteilung und bei genügender Vermehrung. Seine Organe und sein Geist arbeiten stets auf Überwindung, auf Sicherung. Dazu kommt seine größere Kenntnis der Gefahren des Lebens, sein Wissen vom Tode. Wer kann ernstlich daran zweifeln, daß dem von der Natur so stiefmütterlich bedachten menschlichen Individuum als Segen ein starkes Minderwertigkeitsgefühl mitgegeben ist, das nach einer Plussituation drängt, nach Sicherung, nach Überwindung? Und diese ungeheure, zwangsweise Auflehnung gegen ein haftendes Minderwertigkeits­gefühl als Grundlage der Menschheitsentwicklung wird in jedem Säugling und Kleinkind aufs neue erweckt und wiederholt.

      Das Kind, wenn nicht allzusehr geschädigt wie etwa das idiotische Kind, steht bereits unter dem Zwang dieser Entwicklung nach aufwärts, der seinen Körper und seine Seele zum Wachstum antreibt. Auch ihm ist von Natur aus das Streben nach Überwindung vorgezeichnet. Seine Kleinheit, seine Schwäche, der Mangel an selbstgeschaffenen Befriedigungen, die kleineren und größeren Vernachlässigungen sind individuelle Stachel für seine Kraftentwicklung. Es schafft sich neue, vielleicht nie dagewesene Lebensformen aus dem Druck seines dürftigen Daseins. Seine Spiele, immer auf ein Ziel der Zukunft gerichtet, sind Zeichen seiner selbstschöpferischen Kraft, die man keineswegs mit bedingten Reflexen erklären kann. Es baut ständig ins Leere der Zukunft hinein, getrieben vom Zwang der Überwindungsnotwendigkeit. Vom Muß des Lebens in Bann getan, zieht es seine stets wachsende Sehnsucht zum Endziel einer Überlegenheit über die irdische Stätte, die ihm angewiesen ist, mit allen ihren unausweichlichen Forderungen. Und dieses Ziel, das es hinanzieht, gewinnt Farbe und Ton in der kleinen Umgebung, in der das Kind nach Überwindung strebt.

      Ich kann hier nur kurz einer theoretischen Überlegung Raum geben, die ich als grundlegend im Jahre 1912 in meinem Buche »Über den nervösen Charakter« veröffentlicht habe. Gibt es ein solches Ziel der Überwindung, wie es durch die Evolution sichergestellt ist, dann wird für dieses Ziel der erreichte Grad der im Kinde konkret gewordenen Evolution Baumaterial für seine weitere Entwicklung. Mit anderen Worten: seine Heredität, sei sie körperlich oder seelisch, in Möglichkeiten ausgedrückt, zählt nur soweit, als sie für das Endziel verwendbar ist und verwendet wird. Was man später in der Entwicklung des Individuums findet, ist aus dem Gebrauch des hereditären Materials entstanden und dankt seine Vollendung der schöpferischen Kraft des Kindes. Auf Verlockungen dieses Materials habe ich selbst am schärfsten hingewiesen. Ich muß aber eine kausale Bedeutung dieses Materials leugnen, weil die vielgestaltige und sich stets verändernde Außenwelt eine schöpferische elastische Verwendung dieses Materials erfordert. Die Richtung auf Überwindung bleibt stets erhalten, wenngleich das Ziel der Überwindung, sobald es im Strom der Welt konkrete Gestalt angenommen hat, jedem Individuum eine andere Richtung vorschreibt.

      Minderwertige Organe, Verwöhnung oder Vernachlässigung verleiten die Kinder häufig, konkrete Ziele der Überwindung aufzurichten, die mit der Wohlfahrt des einzelnen sowie mit der Höherentwicklung der Menschheit in Widerspruch stehen. Aber es gibt genug andere Fälle und Ausgänge, die uns berechtigen, nicht von Kausalität, sondern von statistischer Wahrscheinlichkeit, von einer aus Irrtum entstandenen Verleitung zu sprechen, wobei noch zu überlegen ist, daß jede Bosheit anders aussieht, daß jeder, der einer bestimmten Weltanschauung anhängt, eine andere Perspektive darin zeigt, daß jeder literarische Schmutzfink seine Eigenheiten hat, daß jeder Neurotiker sich vom andern unterscheidet, wie auch jeder Delinquent vom andern. Und gerade in dieser Andersartigkeit jedes Individuums erweist sich die Eigenschöpfung des Kindes, sein Gebrauch und die Benützung angeborener Möglichkeiten und Fähigkeiten.

      Das Gleiche gilt auch für die Umweltsfaktoren und für die erzieherischen Maßnahmen. Das Kind nimmt sie auf und verwendet sie zur Konkretisierung seines Lebensstils, schafft sich ein Ziel, dem es unentwegt anhängt, demgemäß es apperzipiert, denkt, fühlt und handelt. Hat man einmal die Bewegung des Individuums ins Auge gefaßt, dann kann einen keine Macht der Welt davon entheben, ein Ziel anzunehmen, dem die Bewegung zuströmt. Es gibt keine Bewegung ohne Ziel. Dieses Ziel kann nie erreicht werden. Die Ursache liegt im primitiven Verstehen des Menschen, daß er niemals der Herr der Welt sein kann, so daß er diesen Gedanken, wenn er einmal auftaucht, in die Sphäre des Wunders oder der Allmacht Gottes versetzen muß.

      Das Minderwertigkeitsgefühl beherrscht das Seelenleben und läßt sich leicht aus dem Gefühl der Unvollkommenheit, der Unvollendung und aus dem ununterbrochenen Streben der Menschen und der Menschheit verstehen.

      Jede der tausend Aufgaben des Tages, des Lebens setzt das Individuum in Angriffsbereitschaft. Jede Bewegung schreitet von Unvollendung zur Vollendung. Ich habe im Jahre 1909 im »Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose« versucht, diese Tatsache näher zu beleuchten und kam zu dem Schluß, daß die Art dieser im Zwange der Evolution entstandenen Angriffsbereitschaft aus dem Lebensstil erwächst, ein Teil des Ganzen ist. Sie als radikal böse aufzufassen, sie aus einem angeborenen sadistischen Trieb zu erklären, dazu fehlt jeder Vorwand. Wenn man schon den trostlosen Versuch macht, ein Seelenleben auf Trieben ohne Richtung und Ziel aufzubauen, so dürfte man zumindest nicht den Zwang der Evolution vergessen, auch nicht den im Menschen evolutionär gegebenen Hang zur Gemeinschaft. Daß kritiklose Menschen aus allen Schichten diese unverstandene Erfassung des Seelenlebens verwöhnter und deshalb schwer enttäuschter Menschen, die nie genug haben, für eine grundlegende Lehre des Seelenlebens halten, kann bei der übergroßen Zahl verwöhnter und enttäuschter Menschen nicht wundernehmen.

      Die Einordnung des Kindes in seinen ersten Umgebungskreis ist demnach sein erster schöpferischer Akt, zu dem es unter Gebrauch seiner Fähigkeiten durch sein Minderwertigkeits­gefühl getrieben wird. Diese Einordnung, in jedem Falle verschieden, ist Bewegung, die schließlich als Form, gefrorene Bewegung von uns erfaßt wird, Lebensform, die ein Ziel der Sicherheit und Überwindung zu versprechen scheint. Die Grenzen, in denen sich diese Entwicklung abspielt, sind die allgemein menschlichen, durch den Stand der generellen und individuellen Evolution gegebenen. Aber nicht jede Lebensform nützt diesen Stand richtig aus und stellt sich deshalb mit dem Sinn der Evolution in Widerspruch. In den früheren Kapiteln habe ich gezeigt, daß die volle Entwicklung des menschlichen Körpers und Geistes am besten gewährleistet ist, wenn sich das Individuum in den Rahmen der idealen Gemeinschaft, die zu erstreben ist, einfügt als Strebender und Wirkender. Zwischen denen, die, bewußt oder ohne es zu wissen, diesem Standpunkt gerecht werden, und den vielen anderen, die ihm nicht Rechnung


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