Gesammelte Werke. Alfred Adler

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Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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Augen, sie klagt über große Unruhe, die sie befällt, wenn sie sich anschickt, einen Weg zu machen oder sonst an irgendeine Aufgabe heranzutreten. Aus ihrer Umgebung hören wir, daß sie alles schwer nimmt und unter der Last ihrer Arbeiten zusammenzubrechen scheine. Der allgemeine Eindruck, den wir von ihr erhalten, ist zunächst der eines Menschen, der alles sehr wichtig nimmt, eine Erscheinungsform, die sehr vielen Menschen eigen ist. Bezeichnend erzählt jemand aus ihrer Umgebung, daß sie »immer Geschichten gemacht habe«.

      Prüfen wir die Neigung, Leistungen, die einem obliegen, als besonders schwer und bedeutungsvoll hinzunehmen, auf ihr Gewicht, indem wir versuchen, uns vorzustellen, was ein solches Benehmen in einer Gruppe von Menschen oder in einer Ehe bedeutet, so können wir uns des Eindruckes nicht erwehren, daß diese Neigung einem Appell an die Umgebung ähnelt, keine weiteren Belastungen mehr vorzunehmen, da bereits die allernotwendigsten Arbeiten nicht mehr recht bewältigt werden können.

      Was wir bisher über die Frau wissen, kann uns noch nicht genügen. Wir müssen versuchen, sie zu weiteren Mitteilungen zu bewegen. Bei solchen Untersuchungen muß mit entsprechender Delikatesse vorgegangen werden, ohne Selbstüberhebung, die sofort eine Kampfstellung des Patienten hervorrufen würde, eher vermutungsweise und auch nicht ungefragt. Hat man die Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen, dann kann man — wie in unserem Fall — langsam andeuten, eigentlich zeige ihr ganzes Wesen, ihr ganzes Benehmen, daß sie einem anderen, der wahrscheinlich ihr Gatte sein dürfte, zu verstehen geben wolle, daß sie eine weitere Belastung nicht vertrage, daß sie auf eine vorsichtige Behandlung, auf Zartheit Anspruch erhebe. Man kann weiterfühlen und andeuten, das alles müsse einmal irgendwo seinen Anfang genommen und eine Förderung erfahren haben. Es gelingt, sie zu der Bestätigung zu bewegen, daß sie vor Jahren eine Zeit habe überstehen müssen, wo ihr nichts weniger als Zartheit widerfahren sei. Nun erkennen wir schon besser ihr Verhalten als eine Unterstützung ihrer Forderung nach Rücksichtnahme und als ein Bestreben, die Rückkehr einer Situation, in der ihr Verlangen nach Wärme etwa verletzt werden könnte, zu vermeiden.

      Unser Befund wird durch eine weitere Mitteilung erhärtet. Sie erzählt von einer Freundin, die in vieler Hinsicht ihr Gegenteil sei, die in einer unglücklichen Ehe lebe, der sie gerade entfliehen möchte. Einmal traf sie diese an, wie sie gerade, ein Buch in der Hand, mit gelangweilter Stimme ihrem Manne bedeutete, sie wisse eigentlich nicht, ob sie heute das Mittagsmahl rechtzeitig werde zustande bringen können, wodurch sie ihn in eine derartige Erregung versetzte, daß er sich zu einer heftigen Kritik ihres Wesens hinreißen ließ. Zu diesem Vorfall fügte unsere Patientin hinzu: »Wenn ich das so recht betrachte, so ist meine Methode doch eine viel bessere. Mir kann man einen solchen Vorwurf nie machen, denn ich bin doch von Früh bis Abend mit Arbeit überbürdet. Wenn bei mir einmal ein Mittagessen nicht rechtzeitig fertig wird, kann mir, deren Zeit mit Hast und fortwährender Aufregung ausgefüllt ist, niemand etwas sagen. Und diese Methode soll ich nun aufgeben?«

      Man sieht, was sich in diesem Seelenleben abspielt. In verhältnismäßig harmloser Art wird der Versuch gemacht, ein gewisses Übergewicht zu bekommen, jedes Vorwurfes überhoben zu sein und immer für zarte Behandlung und zartes Wesen zu plädieren. Da dies gelingt, erscheint die Forderung, davon Abstand zu nehmen, nicht recht verständlich. Hinter diesem Verhalten steckt aber noch anderes. Der Appell an die Zartheit, der schließlich ebenfalls das Übergewicht über den anderen sucht, kann nie dringend genug gemacht werden. Und so stellen sich in diesem Zusammenhang Widerwärtigkeiten verschiedenster Art ein. Es gerät etwas in Verlust, man findet etwas nicht, es entsteht ein Durcheinander, eine »Wirtschaft«, die der Frau immer Kopfschmerzen bereitet, sie nicht ruhig schlafen läßt, weil sie immer wieder mit der Sorge befaßt ist, die sie riesengroß sieht und aufbauscht, nur um ihre Anstrengungen ins rechte Licht zu setzen. Eine Einladung, die an sie ergeht, ist schon eine schwierige Angelegenheit. Ihr nachzukommen, dazu bedarf es größerer Vorbereitungen. Die kleinste Leistung erscheint ihr übermäßig groß und so ist ein gastlicher Besuch eine schwere Arbeit, die Stunden, ja Tage beansprucht. In einem solchen Fall darf mit ziemlicher Sicherheit damit gerechnet werden, daß eine Absage erfolgen wird, zumindest ein Zuspätkommen. Die Gesellschaftlichkeit wird im Leben eines solchen Menschen gewisse Grenzen nicht überschreiten.

      Nun gibt es in einem Verhältnis zweier Menschen, wie es die Ehe ist, eine Menge Beziehungen, die durch den Appell an die Zartheit in ein besonderes Licht gerückt werden. Es kann sein, daß der Mann beruflich abwesend sein muß, daß er einen Freundeskreis hat, auch allein Besuche machen oder bei Sitzungen von Vereinen erscheinen muß, denen er angehört. Würde es nicht die Forderung auf Zartheit, auf Rücksichtnahme verletzen, wenn er in solchen Fällen die Frau allein zuhause ließe? Im ersten Moment wären wir vielleicht geneigt — und das ist in der Tat sehr häufig — anzunehmen, daß die Ehe dazu berechtigt, den anderen Teil so stark wie möglich ans Haus zu fesseln. So sympathisch diese Forderung zum Teil erscheinen mag, in Wirklichkeit zeigt sich, daß so etwas für einen im Beruf stehenden Menschen eine unüberwindliche Schwierigkeit bedeutet. Störungen sind dann unvermeidlich, und so kann es, wie in unserem Fall kommen, daß der Mann, der nach Torsperre vorsichtig und bescheiden sein Bett aufsuchen will, dadurch überrascht wird, daß er seine Frau noch wach findet, die ihn nun mit einer vorwurfsvollen Miene empfängt. Die genügsam bekannten Situationen dieser Art sollen hier nicht weiter ausgemalt werden. Auch darf man nicht übersehen, daß es sich da nicht etwa nur um kleinere Fehler der Frau handelt, sondern daß es ebensoviele Männer gibt, die ebenso eingestellt sind. An dieser Stelle handelt es sich aber darum, zu zeigen, daß das Verlangen nach besonderer Zartheit gelegentlich auch einen anderen Weg einschlagen kann. In unserem Fall spielt sich ein solches Ereignis gewöhnlich so ab: Muß der Mann einen Abend außer Haus verbringen, so erklärt ihm die Frau, er gehe so selten in die Gesellschaft, daß er diesmal nicht zu frühe nach Hause kommen dürfe. Obwohl sie dies in scherzhaftem Ton sagt, enthalten ihre Worte dennoch einen sehr ernsthaften Kern. Es widerspricht scheinbar dem bisher entworfenen Bild. Sieht man aber näher zu, so erkennt man die Übereinstimmung. Die Frau ist so klug, daß sie, auch ohne daran zu denken, nicht zu streng vorgeht. Sie bietet auch äußerlich das Bild äußerster Liebenswürdigkeit in jeder Beziehung. Unser Fall ist an sich völlig untadelig und beschäftigt uns nur wegen des psychologischen Interesses. Die wahre Bedeutung ihrer Worte an den Mann liegt nun darin, daß es nunmehr die Frau ist, die das Diktat gegeben hat. Jetzt, nachdem sie es gestattet, ist es erlaubt, während sie äußerst beleidigt gewesen wäre, wenn es der Mann aus eigenem Antrieb getan hätte. Ihre Äußerung wirkt somit wie eine Verschleierung des ganzen Zusammenhanges. Jetzt ist sie der dirigierende Teil und der Mann ist, obwohl er nur einer gesellschaftlichen Verpflichtung nachgeht, von Wunsch und Willen der Frau abhängig geworden.

      Verbinden wir die Forderung nach besonderer Zartheit nun mit unserer neuen Erkenntnis, daß diese Frau nur verträgt, was sie selbst kommandiert, dann fällt uns plötzlich ein, daß das ganze Leben dieser Frau von einem unerhörten Impuls durchzogen sein muß, keine zweite Rolle zu spielen, immer die Überlegenheit zu behalten, durch keinerlei Vorwurf aus ihrer Stellung geworfen zu werden, immer das Zentrum ihrer kleinen Umgebung zu sein. Diese Linie werden wir bei ihr in jeder Situation finden. So, wenn es sich darum handelt, eine Hausgehilfin zu wechseln. Da gerät sie in größte Aufregung, deutlich in der Besorgnis, ob sie die bisher gewohnte Herrschaft auch bei der neuen Hausgehilfin werde aufrecht erhalten können. Ähnlich, wenn sie sich zu einem Ausgang rüstet. Es ist etwas anderes für sie, in einer Sphäre zu leben, in der ihre Herrschaft unbedingt gesichert erscheint, als das Haus zu verlassen, sich »in die Fremde« zu begeben, auf die Straße, wo auf einmal nichts mehr ihrem Willen unterworfen ist, wo man jedem Wagen ausweichen muß, wo man also eine ganz kleine Rolle spielt. Ursache und Bedeutung dieser Spannung wird also erst klar, wenn man bedenkt, welche Machtfülle diese Frau zu Hause beansprucht.

      Solche Erscheinungen treten oft in einer so sympathischen Schablone hervor, daß man im ersten Augenblick gar nicht auf den Gedanken verfällt, daß so ein Mensch leidet. Dieses Leiden kann hohe Grade erreichen. Man braucht sich nur derartige Spannungen, wie in unserem Fall, vergrößert denken. So gibt es Menschen, die eine Scheu davor haben, die Straßenbahn zu benutzen, weil sie dort keinen eigenen Willen haben. Das kann so weit gehen, daß solche Menschen schließlich überhaupt nicht mehr das Haus verlassen wollen.

      In seiner weiteren Entwicklung ist unser Fall ein lehrreiches Beispiel dafür, wie Kindheitseindrücke im Leben


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